Читать книгу Ein Mas im Roussillon - Herbert E Große - Страница 8

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8. Kapitel

Argelés sur Mer ist gar keine richtige Stadt, obwohl es drei Stadtteile gibt. Argelés Village, Argelés Plage und Le Racou.

Zwischen den drei Stadtteilen sind die Sumpfgebiete trockengelegt und mit neuen Ferienhäusern bebaut. Auch Le Racou ist durch den neuen Jachthafen mit den anderen Stadtteilen jetzt fast direkt verbunden. Im Nord-Westen gibt es eine „Zones d`activités“, ein neues Industriegebiet, mit einem riesigen Supermarkt.

Damit könnte die Beschreibung der Stadt beendet sein, wenn Argelés nicht der bekannte Ferienort am Ende der französischen Sandstrände vor der spanischen Grenze wäre.

In Argelés Village gibt es eine große Kirche, einen Bahnhof und die Altstadt mit den engen Gassen. Die wenigen Geschäfte erfüllen die Touristenwünsche. Die Einheimischen arbeiten meist im Fremdenverkehrsbereich oder als Immobilienmakler, aber sie kaufen im Supermarkt ein.

In den Monaten Juni bis September treten sich die Touristen auf die Füße und essen in preiswerten Restaurants. Außerhalb der Saison und besonders im Winter ist der „berühmte Hund verfroren“.

Argelés Village ist heute ohne seinen früheren Charme.

Es gibt kaum noch ständige Einwohner, die vor ihren Häusern sitzen und die Abendkühle genießen. Ihre schmalen Häuser, in denen jede Etage aus nur einem Zimmer besteht, sind meist an Ausländer verkauft. Die früheren Bewohner sind in die Neubauten am Stadtrand gezogen. Die neuen Eigentümer sitzen nicht mehr vor den Häusern, sondern in Kneipen, die an England oder Deutschland erinnern.

Argelés Plage besteht nur noch aus Ferienhäusern und ungefähr 60 Campingplätzen. Es gibt einen riesigen Parkplatz und im Grunde drei große Straßen. Am schlimmsten ist es auf der „Neppmeile“ der „Allée des Tamarins“ und den angrenzenden kleineren Gassen. Hier ist jedes Haus ein Restaurant oder ein Geschäft, in dem ein solcher „Mist“ verkauft wird, dass einem übel werden könnte. Aber die Urlauber langweilen sich und kaufen deshalb alles, was angeboten wird. Der Strand wird von den Ferienhäusern und Geschäften durch die schöne Strandpromenade mit Grünanlagen getrennt.

In Le Racou, das hinter dem neuen Hafen liegt, gibt es nur Sand, einige Ferienhäuser, kleinere Hotels, Touristenkneipen und teure Eigentumswohnungen.

Die Fahrt nach Argelés unternahmen beide mit Henris Auto.

Als sie auf die „Route National“ einbiegen wollten, mussten sie dem „Petit Train“ die Vorfahrt gewähren. Der „Touristentrain“ war der in fast allen Urlaubsorten anzutreffende „Zugverschnitt“ mit offenen Waggons und dem Westminster-Gong als Signal.

„Eine solche Einrichtung müsste man verbieten. Schauen sie sich nur einmal diese Fahrgäste an. Abgesehen von den Kindern und deren Eltern grinsen die einen beim Betrachten der Gegend blöd vor sich hin. Die anderen Fahrgäste fühlen sich unwohl und tun so, als wenn sie solche Fahrten nie unternehmen würden“, sagte Henri.

Paul antworte: „Sie haben recht, die verhalten sich wie die typischen deutschen Bildzeitungsleser. Am Zeitungsstand verlangen sie lautstark die „Bild“ und erzählen den Umstehenden, dass sie diese Zeitung nie lesen würden. Nur im Urlaub wollten sie einmal sehen, wie die Zeitung sei. Dabei denken sie nicht daran, dass nicht nur deutsche Urlaub machen und ihre Sprüche gar nicht verstehen.“

Henri nickte zustimmend.

Paul fiel noch eine Episode bei seinem Zeitungshändler ein, die er jetzt erzählte: „Ich kaufe bei ihm regelmäßig die örtliche Zeitung „L`Indépendant“. In der Hochsaison kann man auch deutsche Zeitungen bei ihm kaufen. Vor dem Geschäft am Drehständer produzierten sich wieder einmal Deutsche lautstark beim Kauf der Bildzeitung. An diesem Tag habe ich mir zusätzlich eine deutsche Fernsehzeitung gekauft. Der Zeitungshändler steckte behänd die Fernsehzeitung in die französische Ortszeitung und sagte leise zu mir, dass die nicht zu wissen brauchten, dass sie auch Deutscher sind.“

Nachdem Henri seinen Schock mit dem „Touristentrain“ überwunden hatte, fuhren beide durch die „Route Nationale“. Vor der Ampel musste er halten. Es gab viele hemmungslose Touristen zu sehen, sodass man gerne in der Autoschlange vor der Ampel wartete.

„Mein Gott, wie können sich Menschen im Urlaub und in der Fremde nur so gehen lassen“, sagte Paul.

„Ja, ja“, erwiderte Henri. „Es ist wirklich erschreckend. Sie verlieren offenbar jede Hemmung und gehen in Turnhosen und Achselhemd, aber mit Socken und Sandalen, einkaufen oder flanieren. Warum machen sie das nicht auch zu Hause? Und vor allen Dingen: Je hässlicher sie sind, je ordinärer und freizügiger sind sie bekleidet.“

Darauf antwortete Paul: „Erstes Buch Mose 1, 27: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf ihn als Mann und Weib.“

„Klar, wenn man die Bibel so oberflächlich wie sie auslegt, möchte man die Angelegenheit lieber wie Darwin betrachten“, sagte Henri.

Beide lachten und fuhren in Richtung Strand.

„An welchen Strand wollen wir?“

Auf Pauls Vorschlag fuhren sie zum „Plage Sud“ und stellten das Auto auf dem großen Parkplatz ab, der mit einer Barriere für Wohnmobile gesperrt war.

Zwischen Sandstrand und Promenade gab es eine Mauer, auf die sie sich setzten. Trotz Sonne und Hitze hielten sie es hier gut aus, weil vom Meer her ein kühles Lüftchen wehte und sie einen schattigen Platz unter einem der zahlreichen Bäume fanden.

Sie blickten auf den Strand voller Menschen, die sich mit kleinen Schirmen vor der Sonne schützten, und den ganzen Tag vor sich hindösten und sich von allen Seiten bräunen ließen.

„Ich habe auch einmal versucht, am Strand in der Sonne zu liegen und zu lesen“, sagte Henri.

„Und haben sie es geschafft?“

„Sicher! Ganze 30 Minuten habe ich es ausgehalten. Wenn man auf dem Bauch liegt, blendet die Sonne und man kann nicht lesen. Legt man sich auf den Rücken, muss man die Arme mit dem Buch gegen die Sonne halten. Spätestens nach fünf Minuten schmerzen die Arme, sodass man sich wieder dreht.“

„Ein Mediziner hat mir mal erzählt, dass diese Art von Sonnenbad der reinste Stress für den Körper sei. Abgesehen davon, dass man auch noch meist einen Sonnenbrand bekommt“, ergänzte Paul.

„Wissen sie, was eine Körperverletzung ist?“

„Ja, schließlich bin ich ein pensionierter Richter.“

„Und was sagen sie zu der älteren Dame dort unten, die aussieht wie ein Michelin-Männchen?“

Sie hatte sich gerade gesetzt und war oben ohne.

„Sie meinen, dieser Anblick sei für den Betrachter eine Körperverletzung?“

„Gibt es auch eine Abstufung bei der Körperverletzung?“

„Ja, aber so wie sie das sehen, ist es nicht.“

„Gut, sie haben gewonnen“, erwiderte Henri. „Trotzdem ist es eine Zumutung für die Mitmenschen.“

„Schauen sie sich lieber die drei jungen Mädchen daneben an, damit sind sie entschädigt!“, tröstete Paul seinen Freund.

Die Betrachtung und Charakterisierung der Badegäste hielt noch einige Zeit an. Plötzlich gab es eine große Aufregung. In einiger Entfernung hatte sich eine größere spanische Familie niedergelassen. Ein Familienmitglied war ein mongoloider junger Mann, der mit den Kindern spielte und badete. Die Kinder und der junge Mann waren zur Süßwasserdusche gegangen. Offenbar hatten die Kinder den jungen Mann vergessen und waren zum Lagerplatz der Familie zurückgekehrt.

Sofort sprang die Mutter auf und hielt Ausschau nach dem jungen Mann, der noch immer an der Dusche stand und aufgeregt war, weil er seine Familie nicht mehr sah. Jetzt entdeckte er die gestikulierende Mutter und lief los. Er nahm den geraden Weg, wie mit einem Lineal gezogen. Ohne Rücksicht auf die anderen Badegäste lief er über Handtücher und Körper zu seiner Familie. Das „Michelin-Männchen“ wurde umgerissen und auf die jungen Mädchen trat er.

Erstaunlich, dass keiner der in Mitleidenschaft gezogenen Urlauber, protestierte. Offenbar war es eine willkommene Abwechslung im tristen Einerlei der Sonnenbaderei.

Jetzt setzte sich ein Ehepaar mittleren Alters neben beide auf die Mauer.

„Wir haben gehört, dass sie manchmal deutsch sprechen. Machen sie auch hier Urlaub?“

„Ja. Ist das nicht ein herrliches Flecken Erde?“, sagte Henri.

„Wunderschön! Wir wohnen gleich dort im Jachthafen mit Blick aufs Meer. Schade, dass unser Urlaub schon zu Ende ist. Gestern haben wir eine kleine Fischerkneipe im übernächsten Ort entdeckt. Ich glaube, der Ort heißt „Port“ oder so ähnlich. Das Lokal müssen sie unbedingt besuchen.“

„Meinen sie Port Vendres?“, fragte Paul.

„Ja, genau! Und das Restaurant ist an der Mauer, wo die ganzen Fischernetze liegen.“

„Sie kommen bestimmt aus Deutschland“, fragte Henri. „Haben sie in dem Lokal auch etwas gegessen?“

„Nein, dazu hatten wir keine Zeit mehr, schade.“

Daraufhin antwortete er auf Französisch: „Die können wirklich nur aus Deutschland kommen. Das „Cote Vermeile“ ist eines der nobelsten Restaurants in der ganzen Gegend. Und für die ist es eine Fischerkneipe, weil sie die aushängende Karte nicht lesen konnten.“

Die Unterhaltung plätscherte noch einige Minuten so dahin. Die beiden Urlauber wunderten sich über die vielen Pinien, die man hier in Strandnähe sehen kann.

Henri erklärte ihnen, dass die Pinien zur Entwässerung des Strandgebietes angepflanzt worden seien. Man habe allerdings einen Großteil der Bäume wieder abgeholzt, um die Internierungslager für die 100.000 Flüchtlinge des Franco-Regimes errichten zu können.

Das interessierte aber die beiden Urlauber nicht. Sie sagten nur, dass sie von den ewigen Judengeschichten nichts mehr hören könnten.

Henri hatte kein übermäßiges Interesse an den Internierungslagern erwartet. Aber diese Reaktion schockierte ihn offensichtlich.

Plötzlich furzte er so laut und vulgär, dass alle zusammenzuckten.

Er legte seinen Arm um die Schulter des fremden Mannes und sagte im besten Deutsch: „Das ist mir auch schon passiert. Peinlich wird es nur, wenn Feuchtes mitkommt. Man kann vor Ort schlecht die Hosen wechseln und muss noch nach Hause gehen, was mit dem Zeug in der Hose schwierig ist. Außerdem fängt es bald an, zu stinken.“

Noch bevor Henri ausgeredet hatte, schrie die Frau ihren Mann an und nannte ihn ein altes Schwein. Schimpfend zog sie ihn weg und redete noch lange auf ihn ein.

„Ob der seiner Frau glaubhaft erklären kann, dass die Luft aus meinem Hintern kam?“, fragte Henri und beide lachten noch lange.

„Wann waren sie zum ersten Mal in Argelés?“

„Ich glaube es muss vor 30 Jahren gewesen sein. Damals habe ich mich in diesen mondänen Badeort regelrecht verliebt und bin wiedergekommen. Heute würde mir das sicherlich nicht mehr passieren“, erklärte Paul.

Henri war plötzlich richtig begeistert.

„Da gab es diesen Jachthafen noch gar nicht. Und der Trinkstand am Kreisel wurde noch von der Kooperative betrieben. Wenn man dort seinen Wein kaufte, gab es immer ein Glas gratis. Und es gab noch richtige Restaurants. Ach, waren das noch Zeiten!“

„Und was gibt es heute? Nur noch ein einziges gutes Restaurant, das kaum einer besucht; ansonsten nur noch Fast Food-Buden“, antworte Paul.

Jetzt fragte Henri: „Was wird aus diesem Ort, wenn die Leute keinen Badeurlaub mehr machen, weil die Touristikmanager den Menschen suggerieren, dass man die schönsten Wochen im Jahr auf eine andere Art zu verbringen habe?“

„Ich weiß nur eins, mondän kann dieser Ort nicht mehr werden. Er kann bis dahin nur noch schlimmer werden, weil der Massentourist mit Sicherheit nicht intelligenter wird“, sagte Paul.

Nach kurzer Überlegung philosophierte Henri halblaut vor sich hin: „Barbaren und Pseudointellektuelle aller Länder vereinigt euch und besetzt dieses schöne Land. Genießt es betrunken oder zur Not halb betrunken, laut singend und fordernd. Besteht ruhig auf eurem Recht, in den schönsten Wochen des Jahres so zu leben, wie ihr es das ganze Jahr über gern tun würdet, euch aber – aus welchem Grunde auch immer – zu Hause nicht traut. Hier kennt euch niemand und man akzeptiert euch, wenn auch nicht als Individuum. Hier seid ihr die Größten, hier seid ihr die Herren. Hier könnt ihr die Einheimischen fühlen lassen, dass sie klein und armselig und auf euer Geld angewiesen sind. Und wenn ihr zu den Pseudointellektuellen gehört, könnt ihr ihnen auch erklären, dass sie so nicht richtig leben würden, und dass es bei richtiger Betrachtung alles anders ist. Und ihr könnt endlich die mediterrane Küche genießen. Nur bitte betrinkt euch abends beim überteuerten Alkohol ordentlich, damit ihr morgens länger schlaft und nicht bemerkt, wie der Restaurateur die Tiefkühlverpackungen entsorgt, die Fertiggerichte geliefert bekommt und aus dem Großmarkt Fisch aus Norwegen, Obst und Gemüse aus Holland und Fertigpizzen aus Deutschland besorgt. Denn abends zaubert er euch aus all den köstlichen Zutaten die schönsten Gerichte der mediterranen Küche. Nur verlasst am Ende des Urlaubs dieses schöne Land schnell, damit die nächsten Euresgleichen kommen können. Denn die Saison ist kurz und so schnell und leicht können die Einheimischen sonst ihr Geld nicht verdienen. Nach der Saison sind wir wieder unter uns. Man kann wieder die Regionalküche genießen und in der Bar bei einem Kaffee oder einem kleinen Roten schwatzen und darüber nachdenken, was die Touristen – oder sind es Terroristen – mit der mediterranen Küche gemeint haben und was das eventuell sein könnte. Vielleicht findet einer von uns auch eine Erklärung dafür, warum es in Südfrankreich deutsche Fertig-Pizza gibt.“

Paul, der aufmerksam zugehört hatte, sagte nach kurzer Überlegung: „Ich stelle mir gerade vor, dass nach weiteren 30 Jahren zwei alte Männer, wie wir, hier stehen und sich unterhalten. Sie tragen bestimmt eine Ganzkörperfolie, weil die Menschen längst die Ozonschicht vernichtet haben. Mit der Folie müssen sie sich bestimmt vor den gefährlichen Sonnenstrahlen schützen. Die Nahrung saugen sie aus Plastiksäcken. Und wenn sie vor 30 Jahren, also heute, bereits einmal hier waren, träumen sie bestimmt von den herrlichen Zeiten, als es noch richtige Fast-Food-Buden und sogar deutsche Fertigpizza gab. Und einer wird bestimmt auch sagen, dass diese schönen Zeiten niemals wiederkommen werden.“

Ein Mas im Roussillon

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