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Das politische Umfeld II: Athens demokratische Ordnung
ОглавлениеDie äußere Machtentfaltung Athens war nur ein Teil des politischen Weltbildes, das der junge Alkibiades vermittelt bekam. Mit Sicherheit werden Erzieher und Angehörige ihm auch eine Vorstellung von Wesen und Eigenart der in Athen geltenden politischen Ordnung nahegebracht haben, einer Verfassung, die nach Auffassung der Athener in der Welt einzigartig dastand und für andere Staaten als vorbildlich angesehen wurde. Die Ursprünge dieser spezifisch athenischen Staatsordnung, die ursprünglich als Isonomia –‚Gleichberechtigung‘ oder ‚gleiche Teilhabe‘ – bezeichnet wurde, die man aber zu Alkibiades’ Zeit bereits mit dem uns geläufigen Begriff der ‚Demokratia‘ (Volksherrschaft) zu benennen pflegte, ließen sich der sagenhaften Überlieferung nach bis in mythische Urzeiten zurückverfolgen.27 Allerdings waren die mit den mythischen Vorstufen des athenischen Staates verknüpften Vorstellungen recht nebulos und unkonkret. Was die Welt der real existierenden Institutionen betraf, so war man sich bewusst, dass die entscheidenden Schritte hin zur demokratischen Umformung der Polis dem Wirken von Gesetzgebern einer näheren Vergangenheit zu verdanken waren. Zu diesen eigentlichen Gründervätern der Demokratie zählte man den großen Gesetzgeber und Volksversöhner Solon aus dem frühen 6. Jh., vor allem aber Alkibiades’ Urgroßonkel Kleisthenes, der im Jahre 510 den Sturz der Peisistratidentyrannis herbeigeführt und in der Folge das Gemeinwesen der Athener von Grund auf reformiert hatte.
Kleisthenes war es gewesen, der in seiner Neuordnung des Staates dem Prinzip der Volksherrschaft zur vollen Geltung verholfen hatte. Zwar hatte er die bisherigen leitenden Staatsorgane – das Kollegium der jährlich bestellten neun Archonten und den aus den ehemaligen Archonten zusammengesetzten Rat vom Areopag – in sein System übernommen, aber er hatte diesen traditionellen Staatsorganen als Trägerin der letztentscheidenden Gewalt eine allgemeine Volksversammlung vorangestellt, die Ekklesie, in der jedem erwachsenen männlichen Bürger das gleiche Stimmrecht zustand.
Zugleich hatte Kleisthenes die innere Gliederung der Bürgerschaft einer Reform unterzogen, bei der die traditionellen, auf lokalem Zusammenhalt, Kultgemeinschaft und Adelsgefolgschaft beruhenden Bindungen durch eine Einteilung in neu geschaffene Phylen ersetzt wurden, deren jede nach Kleisthenes’ Willen einen repräsentativen Querschnitt der Athener Bevölkerung darstellen sollte. Diese Einteilung bildete die Basis für die Organisation eines neugeschaffenen Ratsorgans, der Bule, die sich aus fünfhundert für ein Jahr bestellten Mitgliedern zusammensetzte. Jede der zehn Phylen stellte fünfzig Mitglieder für diesen Rat und jede dieser Fünfziger-Einheiten übernahm für ein Zehntel des Jahres (eine sogenannte Prytanie) die Führung der Ratsgeschäfte.28
Die Bule der Fünfhundert verstand sich nicht als selbständig wirkende Regierungsgewalt, sondern als Organ des Gesamtvolkes, des Demos von Athen. Die letzte Entscheidung lag bei der Ekklesie, wo man die von der Bule vorbereiteten Themen in freier Debatte behandelte. Jedem Bürger stand es frei, sich dabei mit Meinungsäußerungen oder Anträgen zu Wort zu melden, ein von der Mehrheit angenommener Beschluss hatte je nach seinem Inhalt die Geltung eines Gesetzes oder einer für alle Amtsträger verbindlichen Weisung. Für das Kriegswesen waren seit 501 die zehn jährlich gewählten Strategen zuständig, die zur Zeit des Alkibiades als die wichtigsten Amtsträger des athenischen Staates gelten konnten.
Auf der von Kleisthenes gelegten Basis hatten die folgenden Generationen aufgebaut und den Prozess der Demokratisierung weiter vorangetrieben. Einen ersten Kulminationspunkt erreichte dieser Demokratisierungsprozess Ende der 460er-Jahre, als ein Politiker namens Ephialtes sich zum Vorkämpfer der breiten Massen gegen den Rat vom Areopag aufschwang, der offenbar in weiten Kreisen als ein elitärer und autokratischer Aristokratenklub empfunden wurde. Mit tatkräftiger Unterstützung des jungen Perikles setzte Ephialtes im Jahre 462/61 eine Reform durch, die dem Areopag die politischen Kontrollrechte, die er bis dahin innegehabt hatte, entzog und sie den Volksgerichten übertrug. Die genauen Details der Reform sind uns nicht überliefert, fest steht aber, dass sie von den Zeitgenossen als ein entscheidender Schritt hin zur konsequenten Umsetzung des demokratischen Gedankens verstanden wurde und dass diese Zielsetzung von der Mehrheit der Athener Bürger befürwortet worden ist. Ephialtes fiel bald danach einem Mordanschlag zum Opfer, aber der für sein Reformwerk bestimmende Leitgedanke, das Streben nach einer gleichberechtigten Partizipation möglichst vieler Bürger an den Entscheidungen und an der Verwaltung der Polis, blieb weiterhin das prägende Moment der athenischen Politik.29
Abb. 3: Akropolis von Athen, Leo von Klenze (1846)
Unter der Ägide von Alkibiades’ Vormund Perikles wurden Reformen durchgeführt, die darauf hinausliefen, die politische Position der unteren sozialen Schichten weiter zu stärken. Dazu gehörte die Einführung der Soldzahlungen für die Beamten und vor allem für die Geschworenen in den Gerichtshöfen, eine Neuerung, die durch den Wunsch nach politischer Gleichberechtigung motiviert war: Auch die Armen sollten die Möglichkeit bekommen, sich aktiv am Staats- und Gerichtswesen zu beteiligen.30
So war im Zuge einer sich über achtzig Jahre erstreckenden Entwicklung die Demokratisierung der Polis Athen bis zu einem Punkt gelangt, an dem man der praktischen Umsetzung einer als direkte Selbstregierung des Volkes verstandenen Demokratie so nahe gekommen war wie irgend möglich. Freilich war es eine Demokratie nur der alteingesessenen männlichen Bürger. Frauen und niedergelassene Ausländer waren nicht nur von der politischen Teilhabe ausgeschlossen, sondern auch im allgemeinen Rechts- und Geschäftsleben minderberechtigt, Sklaven sowieso rechtlos und der Willkür ihrer Herren ausgeliefert. Die Athener empfanden zwischen diesen Diskriminierungen und dem demokratischen Gleichheitsideal keinen Widerspruch: Politische Mitsprache und Teilhabe am Gemeinwesen galten auch im demokratischen Athen nicht als Grundrechte aller Menschen, sondern als Exklusivbesitz der sich selbst als Bürger im vollen Sinne definierenden Gruppe. Das war allerdings in der griechischen Welt auch sonst allerorten der Fall, und gemessen an den anderswo gegebenen Verhältnissen konnte in Athen nicht nur der Umfang des Kreises der politisch Berechtigten als weit gezogen, sondern auch der Grad der innerhalb dieses Kreises geltenden Gleichberechtigung als beeindruckend gelten.
Alle wesentlichen Entscheidungen wurden auf Grund einer freien Debatte in der Ekklesie getroffen. Ratsherrenfunktionen und Amtspositionen waren in ihrer Dauer begrenzt und sollten – allerdings mit der bedeutsamen Ausnahme des Strategenamtes – tunlichst nicht mehrmals von denselben Männern bekleidet werden. Alle Amtsträger waren an die Vorgaben der Volksversammlung gebunden und mussten nach Ablauf ihrer Amtszeit vor dieser oder vor einem eigens bestellten Volksgericht Rechenschaft ablegen.
Alles in allem erhält man bei dem Blick in das politische Leben Athens im 5. Jh. den Eindruck, dass die Athener sich redlich bemühten, den Grundsatz der Einheit von Regierenden und Regierten, der späterhin von Aristoteles als das wesentliche Merkmal der demokratischen Staatsform bezeichnet worden ist,31 in die Tat umzusetzen.
Jeder einzelne Bürger sollte, jedenfalls in der Theorie, imstande sein, ebenso gut in die Funktion des Regenten wie in die Rolle des Regierten zu schlüpfen; die Vorstellung eines ‚Berufspolitikertums‘ wäre unter diesen Vorzeichen den meisten Athenern als anstößig und geradezu als demokratiewidrig erschienen. In der Praxis jedoch ließ sich die Tatsache nicht übersehen, dass es in Athen zwar keine Berufspolitiker im Sinne einer regulären Erwerbstätigkeit gab, wohl aber einen Kreis von politischen Aktivisten und Meinungsführern, die bei der Formulierung, Propagierung und Durchsetzung politischer Initiativen stets die aktive Rolle zu übernehmen pflegten und so an der Entscheidungsfindung wesentlich größeren Anteil hatten als der Durchschnittsbürger, dessen Part sich zumeist auf die Abstimmung in der Volksversammlung, eventuell noch auf ein kurzes Gastspiel in den Reihen der Bule beschränkte.
Innerhalb dieses Kreises politischer Protagonisten bildeten zur Zeit von Alkibiades’ Jugend immer noch die Abkömmlinge der traditionellen Adelsgeschlechter das tonangebende Element. Von den in vordemokratischer Zeit politisch privilegierten Adelsfamilien, den sprichwörtlichen ‚großen Häusern‘, hatten viele ihr Sozialprestige und ein gewisses Maß an Autorität in die neue demokratische Ordnung hinüberretten können.
Die Aristokraten waren im prestigeträchtigen Amt des Strategen und als Wortführer in der Volksversammlung überproportional stark präsent, und sie konnten in Fragen der Lebenshaltung als maßstabsetzende Meinungsführer der Gesamtbürgerschaft gelten.32
Auf der anderen Seite war im Demos von Athen auch das Gefühl eines gewissen generellen Misstrauens gegenüber den Adelsfamilien weit verbreitet. Das Bewusstsein, dass die ‚Wohlgeborenen‘ einstmals die Macht im Staate monopolisiert und den Ärmeren gegenüber ein hartes Regiment geführt hatten, war im allgemeinen Geschichtsbild fest verankert, und man war seitens der breiten Volksmassen rasch geneigt, auch den Aristokraten der Gegenwart demokratiewidrige Arroganz, wenn nicht gar autokratische Ambitionen zu unterstellen.
Die zwischen Hochschätzung und Misstrauen schwankende Einstellung, mit der der Durchschnittsathener den Adelsherren seiner Gemeinde gegenübertrat, wirkt auf den ersten Blick paradox; sie wird verständlicher, wenn man sich das grundlegende Leitprinzip der klassischen athenischen Demokratie ins Bewusstsein ruft: die Höherbewertung des Kollektivs der Gesamt-Bürgergemeinde gegenüber dem Einzelbürger. Aristokraten und ‚Normalbürger‘ waren gleichermaßen dazu aufgerufen, ihre Lebensführung an diesem Prinzip zu orientieren und ihr öffentliches, zu einem guten Teil auch ihr privates, Wirken in erster Linie auf das Wohl des Gemeinwesens hin auszurichten.
In diesem Sinne wurde von politischen Führern die Bereitschaft erwartet, sich in eine vom Prinzip der politischen Gleichberechtigung bestimmte Bürgergemeinschaft einzufügen und den eigenen Geltungsdrang zu Gunsten des Gemeinschaftsinteresses zurückzustellen. Ein Adelsherr, der diesen Erwartungen entsprach und sich als getreuer Diener der Polis präsentierte, durfte mit Fug und Recht erwarten, dass seine aus Erziehung und Standestradition geschöpften Qualifikationen vom Demos als Vorzüge anerkannt wurden, die ihn über das Bürger-Durchschnittsmaß hinaus zur Bekleidung einer leitenden Rolle im Staate berechtigten.
So konnten die Erben der athenischen ‚großen Häuser‘ um die Mitte des 5. Jh. immer noch darauf hoffen, die in ihren Familien traditionelle politische Führungsstellung auch unter demokratischen Vorzeichen behaupten zu können. Letztendlich bot sich ihnen gerade auf der Basis demokratischer Formen der Entscheidungsfindung die Chance, mehr persönliche Autorität auszuüben als es einem Einzelnen von ihnen seinerzeit unter dem Regime der sich gegenseitig bekämpfenden und kontrollierenden Adelsfaktionen möglich gewesen wäre.