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Die politische Vorbildfigur: Perikles, der ‚demokratische Autokrat‘
ОглавлениеIhre große Leitfigur und gewissermaßen ihre Verkörperung fand die zeitgemäße Verbindung von adliger Herkunft, demokratischer Politik und persönlicher Autorität in der Person von Alkibiades’ Vormund Perikles, der seit den frühen 440er-Jahren eine keineswegs unumstrittene, aber stets von neuem siegreich behauptete Vormachtstellung in der athenischen Innenpolitik ausübte.
Das äußere Zeichen von Perikles’ Führungsposition bestand darin, dass er zwischen 448/47 und 430/29 Jahr für Jahr das Amt des Strategen bekleidete. Seine eigentliche Machtgrundlage lag allerdings nicht in dieser Amtsstellung, sondern in der inoffiziellen Position des „Vorstehers des Demos“ (prostates tou demou), einer durch keine formelle Amtsposition gestützten Meinungsführerschaft in der Volksversammlung. Perikles hat diese inoffizielle politische Führerstellung mit solcher Nachhaltigkeit ausgeübt, dass seine politischen Rivalen seine Vorherrschaft in der athenischen Politik immer wieder als selbstherrliche Autokratie, ja streng genommen als eine nur notdürftig verhüllte Tyrannis zu verdammen pflegten.33
In dieser Kritik mochte insofern ein Körnchen Wahrheit liegen, als Perikles von seinem Temperament und Führungsstil her zweifellos eine Persönlichkeit von autokratischem Naturell war; im Hinblick auf die Grundlagen seiner Politik erweist sich freilich jeglicher Tyrannisvorwurf als haltlos: Perikles’ Machtstellung beruhte stets auf der Zustimmung der Volksmehrheit und auf seiner Fähigkeit, für die eigenen Vorschläge eine Mehrheit in der Ekklesie zu gewinnen. Seine Politik war, wie bereits angedeutet, darauf ausgerichtet, auch den Angehörigen der breiten Masse eine stärkere aktive Teilhabe an der Politik zu ermöglichen.
Dass es Perikles fast immer gelang, für seine Vorschläge die Zustimmung der Bürgermehrheit zu gewinnen, war nach dem Zeugnis des wohl schärfsten politischen Beobachters der Zeit, des Historikers Thukydides, nicht irgendwelchen tyrannenhaften Gewaltmitteln, sondern seiner Überzeugungskraft zu verdanken:
„… mächtig durch sein Ansehen und seinen Verstand und in Geldangelegenheiten offenkundig integer, hielt er die Masse in Freiheit unter Kontrolle und wurde nicht so sehr von ihr geführt als dass er sie selbst führte, weil er nicht, um mit unlauteren Mitteln zur Macht zu kommen, ihr nach Gefallen redete, sondern ihr im Vertrauen auf seine Autorität auch schon einmal zornig widersprach. Sooft er sah, dass sie [die Athener] in ihrem Übermut selbstsicherer auftraten als es die Lage gerechtfertigt hätte, schreckte er sie mit seinen Reden und machte ihnen Angst, wenn sie hingegen ohne Grund in Furcht waren, hielt er dagegen und richtete ihren Mut wieder auf. Es war dem Wort nach eine Demokratie, in der Tat aber die Regierung des ersten Mannes.“34
Thukydides lässt, wenn er auch im letzten Satz den autokratischen Aspekt hervorhebt, doch klar erkennen, dass der Schlüssel zu Perikles’ Machtstellung in den persönlichen Qualitäten des Staatsmannes und seiner daraus resultierenden Autorität lag, einer Autorität, die es den Athenern geraten scheinen ließ, dem Wort des großen Mannes selbst dann Gehör zu schenken, wenn sein Rat dem eigenen Vorurteil und ‚Bauchgefühl‘ widersprach.
Diese wirksame Verbindung von persönlicher Autorität und demokratischer Entscheidungsfindung musste für jeden ambitionierten Athener Aristokraten einen Ansporn und ein Wunschziel darstellen, sicherlich aber für keinen mehr als für den jungen Alkibiades.
Als Zögling des Perikles hatte er beste Gelegenheit, das politische Wirken seines Vormunds nicht nur von der öffentlichen Seite her, sondern auch hinter den Kulissen und gewissermaßen im intimen Detail zu beobachten.
Die große Lehre, die er dabei ziehen konnte und sicherlich auch gezogen hat, war zunächst die Tatsache, dass es für einen charismatischen Politiker auch und gerade unter demokratischen Vorzeichen möglich war, einen überragenden Einfluss im Staate auszuüben. So konnte ihm die demokratische Ordnung des Staates als eine akzeptable Plattform für seine politischen Ambitionen erscheinen; ob er allerdings die zugrunde liegenden Werthaltungen innerlich bejaht hat, ist eine andere Frage.
Es ist unbestreitbar, dass Alkibiades’ großspuriges Auftreten bei vielen Zeitgenossen schon früh Zweifel an seiner Loyalität zur Demokratie aufkommen ließ.35 Auf der anderen Seite wird ihm stets bewusst gewesen sein, dass seine politische Wirksamkeit ihre Basis in seiner Redekunst und seiner Fähigkeit breite Massen zu begeistern hatte – Qualitäten, die sich im Rahmen eines demokratischen Gemeinwesens eher entfalten konnten als in einer von einer Clique aristokratischer Führer gelenkten Oligarchie.
Die Erkenntnis dieser Tatsache wird es ihm leicht gemacht haben, die demokratische Ordnung seiner Heimatstadt als eine gegebene Tatsache zu akzeptieren.
Alkibiades’ eigentliches Programm, die Zielsetzung, die ihn im Innersten antrieb, ließ sich ohnehin nicht mit den Kategorien von Demokratie oder Oligarchie charakterisieren: Es bestand schlicht und einfach darin, für sich selbst so viel Macht, Einfluss und Geltung wie nur möglich zu erringen und zu behaupten. Für die Verwirklichung dieses egozentrischen Polit-Projekts konnte die Demokratie eine ebenso brauchbare Basis abgeben wie irgendein anderes politisches System.