Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 10
1.1 Biographischer Hintergrund1
ОглавлениеCécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Ihre Mutter, deren jüdische Eltern aus Polen stammten, galt zwar als „Ausländerkind“, war aber, da sie in Paris geboren wurde, Französin. Sie überlebte den Krieg im Département Lot-et-Garonne in einem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat. Ihr Vater, der im Alter von 17 Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Frankreich emigriert war, fand während der Kriegszeit Schutz in einem Versteck in der Auvergne. Der Großvater mütterlicherseits wurde im Mai 1941 von Beaune-la-Rolande in ein Lager im Loiret verbracht und im Juni 1942 von dort nach Auschwitz deportiert, wo er einige Wochen später starb.
Cécile Wajsbrot hat nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft zunächst einige Jahre als Französischlehrerin und als Rundfunkredakteurin gearbeitet, bevor sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin deutscher und englischer Autorinnen und Autoren und als Mitarbeiterin der Zeitschriften Autrement, Les Nouvelles littéraires und Le Magazine littéraire einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde.2 Das umfangreiche literarische Werk Cécile Wajsbrots umfasst neben den in dieser Studie vorgestellten und analysierten Romanen und Erzählungen Biographien, Essays, Dialoge und Hörspiele.
Nachdem Cécile Wajsbrot erstmals 1995 bei einer Reise nach Litauen einige Tage in Berlin verbracht hat, erlebt sie fünf Jahre später bei einem eineinhalb Monate dauernden Besuch der Stadt „[…] un véritable coup de foudre“3, der ihr Leben verändern sollte: „J’ai aimé la ville et eu du mal à la quitter au point que j’ai trouvé la solution d’avoir eine zweite Wohnung à Berlin et de pendeln zwischen Paris und Berlin […]“4. Als Stipendiatin des DAAD lebt sie von März 2007 bis März 2008 ein Jahr ununterbrochen in Berlin. Während dieser Zeit und im Jahr 2012 entsteht ein als Berliner Ensemble5 erschienenes, facettenreiches Kaleidoskop literarischer Impressionen, die „[la] réflexion [de C.W.] sur les ravages causés par l’histoire du XXe siècle et, en particulier, sur les lieux de mémoire de la Seconde Guerre mondiale“6 widerspiegeln.
In einem FAZ-Gespräch mit Katharina Narbutovic erklärt Cécile Wajsbrot im April 2008 eine eindeutige Vorliebe für Berlin:
Ich fühle mich in Berlin besser als in Paris. In Berlin lässt es sich freier atmen. In Paris ist der Kulturbetrieb sehr eng, geschlossen, auch narzisstisch. Da denke ich, wenn ich in Frankreich schon außen vor stehe, dann kann ich mich auch noch weiter aus der Stadt zurückziehen.7
Ihr Gefühl, in Frankreich nicht in die Gesellschaft voll integriert zu sein, sondern als Außenseiterin betrachtet zu werden, erklärt sie in dem Gespräch mit Elke Richter und Natascha Ueckmann mit einer Lebenserfahrung, die der ungarische Schriftsteller Imre Kertész in seinem in deutscher Sprache unter dem Titel Ich – ein anderer sinngemäß folgendermaßen zum Ausdruck gebracht habe: „Es ist etwas anderes sich zu Hause heimatlos zu fühlen als in der Fremde, wo man in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden kann.“8 Cécile Wajsbrot erklärt sodann ausführlich, warum diese aphoristische Beobachtung ihr eigenes Lebensgefühl so treffend wiedergibt:
Je me suis toujours sentie un peu étrangère en France, en tout cas pas comme les Français de souche, comme on dit. Donc toujours un peu différente, étrangère alors que je suis née en France, que ma langue maternelle est le français. Si je sens une différence à Berlin, c’est normal parce que je suis vraiment étrangère, je suis réellement une Française à Berlin, une Française en Allemagne. En France, ce n’est pas normal que je ne me sente pas tout à fait française comme les autres. Il est plus confortable que la réalité coïncide avec le sentiment intérieur.9
Unter dem Einfluss der migratorischen Geschichte ihrer Familie und ihrer eigenen Biographie hat sich Cécile Wajsbrot im Laufe ihrer schriftstellerischen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit und auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln, ihrer „origine“, immer wieder „zwischen den Welten“ bewegt, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die Perspektive ihres Schreibens auf Einzelschicksale, und sei es ihr eigenes Leben, zu fokussieren. Allerdings wurde für sie wie für viele andere Autorinnen und Autoren mit einem ähnlichen biographischen Hintergrund die eigene oder, wie in ihrem Fall, die durch den Abstand der Generationen nur noch mittelbar erlebte Erfahrung der Migration zu einem bestimmenden Movens ihrer „quête littéraire“ in sehr unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsräumen.10