Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 21

1.2 Inhaltliche und methodische Schwerpunktsetzungen und Begründung des Themas

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Cécile Wajsbrot hat, wie der Überblick in B 1.1 ausweist, vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raum- bzw. ortsbezogene, z.T. auch Bewegung andeutende Titel gegeben. Orte und Räume scheinen an entscheidenden Stellen der Werke die Figuren in ihrer Denk- und Handlungsweise zu beeinflussen und im wahrsten Sinne des Wortes Suchbewegungen zu provozieren.

Der Raum gehört wie die Zeit, die handelnden Figuren und das Geschehen bzw. die Handlung zu den konstitutiven Elementen eines jeden Erzähltextes, deren Interdependenz Gerhard Hoffmann als „[…] einen abstrakten Bedingungszusammenhang […]“1 bezeichnet hat. So unstrittig einerseits die wechselseitige Bezogenheit der Komponenten aufeinander ist, so unstrittig ist andererseits die Tatsache, dass sie „[…] eigene semantische Kohaerenzen [bilden], die an der immanenten Konsistenzbildung, der Sinnproduktion des Textes teilnehmen“.2 In eine einfache Sprache übersetzt bedeutet dies, dass jede Komponente je eigene Bedeutungsmuster hervorbringt, die in den Prozess der Sinnkonstitution eingehen. Dies macht eine Hervorhebung eines einzelnen Elements wie z.B. des Raumes nicht nur möglich, sondern lässt sie als sinnvoll erscheinen, insbesondere dann, wenn man die funktionale Bedeutung dieser Komponente mit in den Blick nimmt. Im Sinne der Stringenz der Gedankenführung ist dabei jedoch auch das dieser Studie zugrunde gelegte, von Cassirer und Lotman inspirierte Raumverständnis zu berücksichtigen. Cassirer betont, wie in A 2.1 dargestellt, dass Raum nicht auf seine Dinghaftigkeit zu reduzieren sei, sondern die Welt als ein ‚System von Ereignissen‘ betrachtet werden müsse, in das Raum und Zeit als Bedingungen eingehen. Auch Lotmans relational geprägte Raumvorstellung ist prozesshaft-dynamisch angelegt. Dies gilt sowohl für die „bewegliche Figur“ des frühen binären Modells, die in einem „revolutionären Akt“ eine als unüberwindlich geltende Grenze überquert, als auch für die „interkulturellen Übersetzerinstanzen“ der vielgestaltigen Semiosphären, in denen Teilräume (auch) über ihre Beziehungen zu benachbarten Räumen definiert werden. Die Pflege von Beziehungen setzt jedoch die Fähigkeit und Bereitschaft zur Bewegung voraus, das Scheitern von Beziehungen hingegen löst oft mit Bedacht geplante oder aber fluchtartige Bewegungen aus. Für diese Arbeit gilt daher, dass „Orte“ und „Räume“ als relational zu definierende Konstituenten des Erzähltextes stets mit „Bewegung“ und „Suche“ zu assoziieren sind. Zu bedenken ist ferner, dass „Räume“ und „Orte“3 immer durch ihre Vergangenheit und Gegenwart, also durch Zeit, geprägt, Raum und Zeit mithin auf das engste miteinander verflochten sind. Bei der Fokussierung auf „Raum“ und „Bewegung“ darf folglich der Faktor „Zeit“ nicht ausgeklammert werden. Nur unter Einbeziehung dieses Aspekts kann die (funktionale) Analyse einer literarischen Raum- und Suchbewegungsdarstellung zufriedenstellend gelingen. Im Sinne der Interdependenz aller konstitutiven Elemente eines Erzähltextes gilt natürlich auch umgekehrt, dass die Zeit durch den Raum, aber auch durch migratorische Phänomene beeinflusst wird und mit Fug und Recht gesagt werden kann: „Kultur ist ein Chronotopos.“4

Das in dem hier skizzierten Sinn „dynamisierte“ Raumverständnis steht im vollen Einklang mit den Vorstellungen, die Cécile Wajsbrot mit dem literarischen Raum verbindet, den sie nicht als etwas fertig Abgeschlossenes, sondern als ein zu „konstituierendes“ und kontinuierlich zu „rekonstituierendes“ Grundelement, als „ancrage“ der Diegese betrachtet. Da sich dieses Konstituens in das Ganze des literarischen Genres „Roman“ einfügt, das die Autorin als „[…] totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu […]“, kurzum als „totalité“5 definiert, muss die Fokussierung auf dieses Element in einer den Kontext in angemessener Weise einschließenden Weise erfolgen. Da Cécile Wajsbrot „Raum“ nicht um seiner selbst willen, also im Sinne eines lediglich dekorativen Hintergrunds, gestaltet, sondern – in gezielter Hinordnung auf die handelnden Figuren – als „générateur de mouvements“ einsetzt, ist ihr inhaltlich und formal vielgestaltiges Erzählwerk in seiner Gesamtheit als „literarische Suchbewegung“ zu charakterisieren. Da eine „literarische Suchbewegung“ sich jedoch über eine Analyse der Beziehung zwischen unterschiedlichen Orten bzw. Räumen erschließt, bietet sich Lotmans „relational“ zu verstehende Raumsemantik, sei es in ihrer frühen, streng binären oder der späteren, integrierenden Auslegung, als Analysemodell geradezu an.

Im Hinblick auf die Wahl des Themas dieser Arbeit legen die vorangegangenen Überlegungen die Schlussfolgerung nahe, die Idee der „literarischen Suchbewegung“ als das „tertium comparationis“ aller Romane (und Erzählungen) Cécile Wajsbrots in das Zentrum des Erkenntnisinteresses zu rücken. In einer Studie mit dem Titel „Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots – eine literarische Suchbewegung“6 werden Räume in ihrer Bezogenheit aufeinander und damit in ihrer Funktionalität, aber auch in ihrer Beschaffenheit, die immer auch funktionalisiert wird, analysiert. Mit der Fokussierung auf Raum und Bewegung lässt die Untersuchung thematische Schwerpunkte und Entwicklungen hervortreten, die für das literarische Schaffen C. Wajsbrots von zentraler Wichtigkeit sind.

Hermeneutischer Arbeitsweise gemäß soll im Zuge einer „relecture guidée“ ermittelt werden, ob und ggf. in welchem Maße bzw. in welcher Weise die vorangegangene globale Charakterisierung des Erzählwerks C. Wajsbrots bestätigt werden kann. Die Lektüre wird gelenkt durch die nachfolgend genannten narratologischen, semiotischen und traditionell-hermeneutischen Kriterien, die nicht der Reihe nach schematisch abgearbeitet, sondern – in Abhängigkeit von ihrer textbezogenen Relevanz – bei einer kritischen, kontextualisierenden Gesamtschau der Texte berücksichtigt werden sollen.7

 Zu unterscheiden sind – in freier Anlehnung an das semiotische Modell Nünnings8 – die Auswahl und die Relationierung der Schauplätze (paradigmatische/syntagmatische Achse) sowie eine Achse der Perspektivierung, die in der vorliegenden Arbeit anders als von Nünning definiert wird. Hier ist jeweils abschließend zu klären, ob und warum ein Text als „literarische Suchbewegung“ zu betrachten ist und in welcher Weise Lotmans Raumsemantik sich als Analyseinstrumentarium bewährt. Der Aspekt der „erzählerischen Vermittlung“9, den Nünning auf einer diskursiven Achse ansiedelt, wird in dieser Studie auf die syntagmatische Achse verlagert, auf der somit nicht nur „[…] das Ergebnis der Verknüpfungen sowie die Relationen zwischen mehreren Schauplätzen greifbar“10 wird, sondern auch die Art und Weise, in der diese Zusammenhänge sprachlich vermittelt werden.

 Zu überprüfen ist, ob und ggf. in welcher Art und Weise handelnde Figuren durch die Wahl des sie umgebenden Raums und/oder durch bestimmte Raumerlebnisse und Bewegungen im Raum geprägt und in ihrer Denk- und Handlungsweise beeinflusst werden.

 In diesem Zusammenhang zu beachten ist die Interdependenz zwischen Raum und Zeit, wie sie sich in klassischen Chronotopoi wie dem Heidelberger Schloss (Mariane Klinger), aber auch in den von Erinnerungsspuren gekennzeichneten „lieux de mémoire“ und beliebigen anderen, durch spezifische Zeitfaktoren beeinflussten Orten bzw. Räumen manifestiert.

 In formaler Hinsicht gilt bzgl. der Modi der Erzählweise und Beschreibung ein besonderes Augenmerk der Verräumlichung von Zeit.

 Angesichts der von Cécile Wajsbrot angestrebten „totalité de la forme et du contenu“ stellt sich die Frage, welche inhaltlichen und formalen Entwicklungen sich in der Darstellung literarischer Suchbewegungen im erzählerischen Werk der Autorin abzeichnen.

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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