Читать книгу Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann - Страница 15
2.1 Von Ernst Cassirer zu einer kulturwissenschaftlich bestimmten Raumanschauung
Оглавление„Raum“ bzw. „Räumlichkeit“ haben nicht nur die abendländische Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt,1 sie sind als eines der konstitutiven Elemente des Romans seit jeher auch Forschungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Allerdings wurde das Erkenntnisinteresse der „[…] historischen, archäologischen und philologischen Wissenschaften […]“ nach 1800 – nicht zuletzt unter dem Einfluss Hegels und des deutschen Idealismus – in stärkerem Maße „[…] durch temporalisierende Wissensformen […]“2 gelenkt und geprägt. Vor diesem Hintergrund hält Birgit Neumann das Urteil Böhmes, dass der „Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“, für nachvollziehbar.3 So spielt sowohl in älteren als auch in neueren Texten zur Erzähltheorie „Raum“ als eine der Grundkategorien der Erzähltheorie kaum eine Rolle,4 obwohl Doris Bachmann-Medick zu Recht darauf hinweist, dass „[i]n der Literaturwissenschaft […] der „erzählte Raum“– von der Phänomenologie bis zur Semiotik des literarischen Raums – schon längst vor dem spatial turn behandelt worden [ist]“5. Als unumstößliche Tatsache hat jedoch auch zu gelten, dass im Zuge der Integration der Philologien in den Bereich der Kulturwissenschaften die Bedeutung des Räumlichen in der Literatur im Allgemeinen und im Roman im Besonderen verstärkt in den Blick gerückt und neu akzentuiert und bewertet worden ist. Den ersten Anstoß dazu gab bereits im Jahre 1967 Michel Foucault in einem vor Architekten in Paris gehaltenen Vortrag über Heterotopien, den er mit einer klaren Abgrenzung des 20. vom 19. Jahrhundert einleitete:
Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte: Themen wie Entwicklung und Stillstand, Krise und Zyklus, die Akkumulation des Vergangenen, die gewaltige Zahl der Toten, die bedrohliche Abkühlung des Erdballs. […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.6
Ein Wandel hat auch im Hinblick auf das Verständnis der Kategorie „Raum“ an sich stattgefunden. Wenn Doris Bachmann-Medick allerdings unter Berufung auf „[…] postmoderne Geographen […]“ wie z.B. Edward W. Soja feststellt, dass „[…] in der neuen Konzeptualisierung […] Raum gerade nicht Territorialität, Behälter von Traditionen [meint]“, sondern vielmehr zu verstehen ist als „[…] soziale Produktion von Raum als einem vielschichtigen und oft widersprüchlichen gesellschaftlichen Prozess, eine spezifische Verortung kultureller Praktiken, eine Dynamik sozialer Beziehungen, die auf die Veränderbarkeit von Raum hindeuten“,7 so mag man zwar die in der Definition durchscheinenden gesellschaftspolitischen Implikationen als Novität betrachten, der prozessual-dynamische Argumentationsansatz hingegen ist keineswegs neu. So hat Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen in einem großen philosophiegeschichtlichen Zusammenhang,8 in nuce in einem 1930 gehaltenen Vortrag zum Thema Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum in Anlehnung an Leibniz „[…] die wahre Natur von Raum und Zeit […]“ mittels des Begriffs der „Ordnung“ bzw. der „Beziehung“ erklärt.9 Raum und Zeit sind für Cassirer, anders als noch für Kant, der in ihnen apriorisch Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis erkannte und sie zu „[…] existierenden Undingen […]“10 erklärte, durch den Begriff der „Ordnung“ der metaphysischen Kategorie der „Substanz“, also dem „Sein“, übergeordnet. „Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit.“11 Die sich daraus ableitenden Konsequenzen sind eindeutig: Wenn Raum und Zeit keinen Seinscharakter haben, fehlt ihnen „[…] die absolute Identität, die Einheit und Einerleiheit in sich selbst, [die] den logischen Grundcharakter des Seins [bildet]“.12 Die Ordnung hingegen zeichnet sich aus durch „[…] das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit […]“ und der „[…] Mannigfaltigkeit […]“.13 Für Cassirer hat dies epistemologisch den großen Vorteil, dass „[u]nter der Herrschaft des Ordnungsbegriffs […]“14 Raum nicht mehr in seiner Dinghaftigkeit gesehen, sondern dass die Welt insgesamt als ein „[…] System von Ereignissen […]“ betrachtet wird, in dessen „[…] gesetzliche Ordnung […] Raum und Zeit als Bedingungen, als wesentliche und notwendige Momente [eingehen]“. 15 Damit praktiziert Cassirer eine große Offenheit des Denkens, deren anfängliche Unbestimmtheit und Unbegrenztheit jedoch durch den Ordnungsbegriff bestimmt und eingegrenzt werden. Dies geschieht einerseits auf der begrifflichen Ebene durch „[…] die reine Denkfunktion“, andererseits durch „[…] die Funktion der künstlerischen Anschauung und Darstellung“.16 Letztere erfüllt die kritische Funktion der „Sonderung“ und „Verknüpfung“ nicht begrifflich-theoretisch, sondern indem „[…] sie individuelle Gebilde erstehen [lässt], denen die schaffende Phantasie, aus der sie entstammen, den Atem des Lebens einhaucht, und die sie mit der ganzen Frische und Unmittelbarkeit des Lebens begabt“.17 Der autonome Charakter jedes einzelnen Kunstwerks könnte kaum stärker betont werden als durch die Hervorhebung seiner Individualität und Vitalität. Und so gilt für die Wahrnehmung und Gestaltung des Raums folgerichtig nicht eine „[…] schlechthin feststehende Raum-Anschauung […]“, vielmehr „[erhält] der Raum seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung […], innerhalb deren er sich jeweilig gestaltet“.18 Diese Sinnordnung ist nicht als eine „[…] schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur […]“19 zu denken, sondern sie resultiert aus der jeweiligen Anschauungsweise, in und aus der sich Raum konstituiert. Cassirer unterscheidet den mythischen vom ästhetischen und theoretischen Raum. Der mythische Raum korrespondiert mit einer „Denkform“ und einem „Lebensgefühl“, die sich, wenn es z.B. darum geht, ein Oben und Unten oder die Himmelrichtungen zu unterscheiden, nicht an mathematisch-physikalischen Kategorien, sondern an „magischen Zügen“ und an der jedem Ort innewohnenden „eigentümlichen Atmosphäre“ orientieren.20 Sowohl die Ganzheit des mythischen Raumes als auch seine „[…] Gestaltung und Gliederung im einzelnen […]“ sind nur im Lichte der „[…] universellen ‚Sinnfunktion‘ des Mythos […]“21 zu verstehen. Der ästhetische Raum hingegen führt uns in „[…] die Sphäre der reinen Darstellung“. Und wiederum ist zu beachten, wie sich Cassirer die „Konstitution“ des ästhetischen Raums „[…] in den bildenden Künsten, in der Malerei, der Plastik, der Architektur […]“ (und sicherlich auch im literarischen Text) vorstellt. Auf keinen Fall handelt es sich um eine photographisch exakte Wiedergabe, „[…] ein bloßes passives ‚Nachbilden‘ der Welt […]“. Vielmehr entsteht „[…] ein neues ‚Verhältnis‘, in das sich der Mensch zur Welt setzt“.22 Cassirers Vorstellung vom (ästhetischen) Raum wird somit nicht von einem statischen Bild, von einer vorzufindenden Gegebenheit geprägt, vielmehr erwächst sie aus einer subjektbezogenen, das Verhältnis von Raum und Zeit systematisch aufeinander beziehenden Sichtweise.23 Verständlicherweise betont Cassirer daher auch, dass der ästhetische Raum im Unterschied zum theoretischen Raum, der nur „gedacht“ wird, echter „Lebensraum“ ist, der jedoch nicht „[…] aus der Kraft des reinen Denkens, sondern aus den Kräften des reinen Gefühls und der Phantasie aufgebaut ist“.24 Mit dem mythischen ist der ästhetische Raum insofern verwandt, als beide „[…] konkrete’ Weisen der Räumlichkeit sind“.25 Auch den künstlerischen Raum sieht Cassirer „[…] durchsetzt mit den intensivsten Ausdruckswerten“.26 Zugleich jedoch erkennt er eine gewachsene Distanz zwischen dem Subjekt und dem dargestellten Objekt, die darauf zurückzuführen ist, dass sich der Mensch durch „[…] zeitlich bestimmte, chronologische Reflexionsformen […]“ aus der „[…] Topologik des mythischen Lebensraums […]“27, d.h. aus dem „[…] Wechselspiel von Kräften, die [ihn] von außen her ergreifen und […] kraft ihrer affektiven Gewalt überwältigen“ 28, befreit. Dabei ist, wie Lüdeke betont,29 ästhetische Raumerfahrung nicht mit rational-analytischer Welterklärung zu verwechseln. Vielmehr liege der Vorzug des Ästhetischen darin, nicht der Zweckhaftigkeit und den Handlungszwängen alltäglicher Lebensbewältigung zu unterliegen, sondern „als Vermittlungs- und Reflexionsmedium“ zu dienen. Der Akt der ästhetischen Raumkonstitution ist ohne die Freiheit des Subjekts nicht vorstellbar. Cassirer hat jedoch auch die Konsequenzen im Blick, die sich aus dieser Freiheit ergeben:
Die echte ‚Vorstellung‘ ist immer zugleich Gegenüber-Stellung; sie geht aus vom Ich und entfaltet sich aus dessen bildenden Kräften; aber sie erkennt zugleich in dem Gebildeten ein eigenes Sein, ein eigenes Wesen und ein eigenes Gesetz – sie lässt es aus dem Ich erstehen, um es zugleich gemäß diesem Gesetz bestehen zu lassen und es in diesem objektiven Bestand anzuschauen. So ist der ästhetische Raum […] ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt.30
Mit dieser Definition der ästhetischen Raumkonstitution stellt Cassirer bereits eindeutig ein semiotisches Verständnis von Raum unter Beweis: Er formuliert die Vorstellung, dass ein schöpferisches Subjekt Raumsignifikation schafft oder, anders ausgedrückt, dass der Raum seine Struktur der sinnstiftenden, kreativen Tätigkeit eines „Ich“, also eines Künstlers verdankt, dann aber seins-, wesens- und gesetzmäßige Eigenständigkeit gewinnt.
Somit verdienen die folgenden Aspekte besondere Beachtung:31
Jeder Akt der Raumkonstitution ist ein subjektbezogener Prozess. Die Raumwahrnehmung und -darstellung wird subjektiv und intersubjektiv durch mannigfaltige Prozesse beeinflusst, die ihrerseits durch zeitbedingte Faktoren, aber auch durch arbiträre Entscheidungen und unterschiedliche Gefühlslagen gesteuert werden können.
Der im literarischen Text repräsentierte Raum wird bei jedem Leseakt neu konstituiert. Die daraus resultierende Vielfalt unterschiedlicher Raumdeutungen birgt insbesondere im Kontext der kolonialen und postkolonialen Literatur ein nicht unerhebliches Konfliktpotential.32 Dies gilt sicherlich mehr oder weniger für alle Texte, denen eine kontroverse historische Thematik zugrunde liegt.
Die Subjektivität, Aspektgebundenheit und Zeitbedingtheit der Raumdarstellung können zur Folge haben, dass jeder an der Raumsemiosis Beteiligte „Aktant im wahrgenommenen Wirklichkeitsraum“33 ist bzw. werden kann, d.h. konkrete Handlungsfunktionen bzw. -interessen vertritt.
Der Prozess der Raumwahrnehmung und -darstellung ist ein komplexer Vorgang, bei dem die einen (künstlerischen) Raum konstituierende Person eine Vielzahl von auditiven, visuellen, olfaktorischen und haptisch-taktilen Sinneseindrücken aufzunehmen, zu verarbeiten, zu ordnen und nicht zuletzt mit früheren Erfahrungen zu korrelieren hat.34 Zu unterscheiden ist dabei u.a. zwischen der Wahrnehmung von
Räumen, deren Erschließung Bewegung voraussetzt
Geräuschen und Klängen, Formen und Farben, Düften und Gerüchen, Gewichten und Oberflächen
Menschen und anderen Lebewesen, ihrem individuellen Aussehen und Verhalten
einer Vielfalt von – symbolisch oder sprachlich-diskursiv – vermittelten Anordnungen der Raumdeutung bzw. -nutzung
Angesichts der Fülle von Eindrücken, die in den Prozess der Raumsemiosis eingehen, muss man sich den Akt der Raumkonstitution „[…] als eine komplexe kognitiv-semiotische Tätigkeit und [einen] holistischen, synästhetischen und bedeutungssynthetisierenden Akt, der zudem […] sehr selektiv ist“35, vorstellen. Das Merkmal der Selektivität gilt gerade auch für die literarische Darstellung von Räumen, da die komplexe Wahrnehmung eines Raumes, die stets auf einer Vielzahl von Sinneseindrücken sowie kognitiv vermittelter Daten und Informationen beruht, nur so sprachlich angemessen „übersetzbar“ ist. Auch wird man ein inhaltlich-darstellerisches Interesse an der Selektion bzw. an der Hervorhebung von Besonderheiten und Details voraussetzen dürfen.
Die Erinnerung an jegliche sich aus vielfältigen Sinneseindrücken ableitende Raumwahrnehmung ist eindeutig dominant visuell gesteuert. Dies berichten bereits Cicero und Quintilian in einer Geschichte über den Dichter Simonides, der an einem Festbankett teilnahm, dann aber aus dem Saal gerufen wurde. Kurze Zeit später stürzte die Saaldecke ein, Gastgeber und Gäste waren unter den Trümmern begraben und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Simonides vermochte jedoch mühelos alle Toten zu identifizieren, da er sich den Sitzplatz jedes Einzelnen eingeprägt hatte.36 Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung beschränkt sich jedoch nicht auf die detektivische Aufklärung spezieller räumlicher Gegebenheiten, sie dient vielmehr der Erschließung von Welt schlechthin. In welchem Maße dies für die Literaturwissenschaften relevant ist, hat insbesondere Jurij M. Lotman in seinen Überlegungen zur Semiotik des Raums aufgezeigt. Die Entwicklung seiner Gedanken soll daher in einem größeren Kontext nachgezeichnet werden.