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2.3 Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi

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In der Einleitung zu Chronotopos kennzeichnet Bachtin das symbiotische Verhältnis zwischen Zeit und Raum „[i]m künstlerisch-literarischen Chronotopos […]“, indem er feststellt, dass „[d]ie Merkmale der Zeit […] sich im Raum [offenbaren], und der Raum […] von der Zeit mit Sinn erfüllt [wird]“1. Gerade auch für den literarischen Bereich sei der Chronotopos „von grundlegender Bedeutung“, allerdings sei „die Zeit das ausschlaggebende Moment“. Das von der Literatur gezeichnete „Bild vom Menschen“ sei immer „chronotopisch“2. Beim Chronotopos ist indes nicht von der „darstellenden realen Welt“ auszugehen, vielmehr bezeichnet der Begriff die vom Autor in seinem Werk geschaffene, modellierte, abgebildete Welt bzw. die vom Hörer/Leser im Rezeptionsprozess „wiedererschaffene“ Welt.3

In einer Fußnote trägt Bachtin eine philosophische Begründung für diese Auffassung vor.4 Er stimmt – anders als Cassirer – 5 mit dem von Kant in der Kritik der reinen Vernunft definierten apriorischen Charakter von Raum und Zeit überein, insofern auch für ihn jegliche Erkenntnis ohne die Bindung an Raum und Zeit unmöglich ist. Kant definiert Raum und Zeit als „[…] Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung […]“6. Bachtin teilt Kants „[…] Einschätzung zur Bedeutung dieser Formen im Erkenntnisprozess“, versteht sie jedoch „[…] – im Unterschied zu Kant – nicht als ‚transzendentale‘, sondern als Formen der realen Wirklichkeit selbst“, und er will darstellen, „[…] welche Rolle diese Formen im Prozess der konkreten künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Sehens) unter Bedingungen, die dem Romangenre eignen, spielen“7. Wenn Bachtin in diesem Zusammenhang von „der realen Wirklichkeit“ spricht, so denkt er dabei, wie Michael C. Frank und Kirsten Mahlke wohl zu Recht – übrigens auch unter Berufung auf den von Michel Foucault geprägten Begriff des „historischen Apriori“ – betonen, an die jeweils epochenspezifischen Voraussetzungen, unter denen jeder Autor seine Vorstellungen von Raum und Zeit entwickelt.8

In seinen Schlussbemerkungen analysiert Bachtin die wechselseitige Wirkung von Raum und Zeit in einigen der „[…] typologisch beständigen Chronotopoi […]“9, um im Anschluss daran die Funktion der Chronotopoi für das Ganze des Romans zu bestimmen. Beispielhaft sei hier auf das „Schloss“ hingewiesen, das „[…] angefüllt [ist] mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit“ und „[…] in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnengalerie, in den Familienarchiven, in den spezifischen Beziehungen der menschlichen Erbfolge […]“10 von sichtbaren Spuren der Vergangenheit gezeichnet ist.

Die Funktion der Chronotopoi definiert Bachtin in einem ersten Ansatz nüchtern abstrakt, indem er sie als „[…] Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse des Romans“11 bezeichnet. Sodann bedient er sich einer sehr anschaulich-bildlichen Sprache, indem er den Chronotopos im Hinblick auf seine „[…] gestalterisch[e] Bedeutung […]“ als „[…] Angelpunkt für die Entfaltung der Szenen im Roman […]“ kennzeichnet, um in einer weiteren Steigerung in einer beinahe enthusiastisch anmutenden Sprache festzustellen:

Somit bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman. Alle abstrakten Romanelemente – philosophische und soziale Verallgemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. – werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaftig.12

Neben der explizit genannten „gestalterischen Bedeutung“ haben die Chronotopoi somit als „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse“ zusätzlich eine wichtige erzähltheoretische Funktion. Auch wird durch die von Bachtin in der Einleitung als „[…] Form-Inhalt-Kategorie […]“13 bezeichneten Chronotopoi das den jeweiligen literarischen Text beherrschende Bild vom Menschen entscheidend mitgeprägt, insofern im Roman alles Abstrakte in konkrete „Bildhaftigkeit“ übersetzt wird.14

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots

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