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4 Trotzki und der Rote Oktober

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Lenin war beim Ausbruch der Februarrevolution in der Schweiz, Trotzki in New York. Beide nahmen sofort zu den Ereignissen Stellung. Dabei kamen beide zu den gleichen Schlüssen im Hinblick auf die entscheidenden Fragen der Revolution, und zwar Trotzki in seinem Artikel in »Nowy Mir« und Lenin in seinen »Briefe aus der Ferne«. Als Trotzki im Mai 1917 in Petrograd ankam, nahmen Lenin und Sinowjew an der Willkommenszeremonie teil. Raskolnikow erinnerte sich: »Lew Dawidowitsch war zu jener Zeit formell kein Mitglied unserer Partei, aber tatsächlich arbeitete er in ihr ununterbrochen von dem Tage seiner Ankunft aus Amerika an. Jedenfalls betrachteten wir alle ihn nach seiner ersten Rede im Sowjet als einen unserer Parteiführer«. [17]

Trotzki stimmte nach seiner Rückkehr nach Russland sofort vorbehaltlos mit Lenins berühmten April-Thesen überein und unterstützte sie in der praktischen Politik. Auf Grund seiner rednerischen Begabung und seiner schriftstellerischen Aktivitäten wurde er schnell zu einer der führenden Persönlichkeiten der bolschewistischen Partei und nach seinem Eintritt in diese zum Mitglied ihres Zentralkomitees gewählt.

Selten ist die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte für ihren Verlauf so deutlich hervorgetreten, wie in der Oktoberrevolution. Es ist bekannt, dass bei der Vorbereitung der Revolution Kamenjew und Sinowjew gegen Lenin opponierten. Aber auch in der Arbeiterschaft Petrograds gab es Schwankungen und Irritationen. In dieser schwierigen Periode hing die Entwicklung der Revolution von zwei Männern ab: Lenin und Trotzki. Trotzki verteidigte Lenins revolutionäre Linie gegen alle Schwankungen im Führungszirkel der Partei und in der Öffentlichkeit. Als im September 1917 die Bolschewiki die Mehrheit im Petrograder Sowjet errangen, wurde Trotzki zu seinem Vorsitzenden gewählt. Er leitete das Revolutionäre Militärkomitee, das für die Organisation des Aufstandes und vor allem für den Übergang der Soldaten der Petrograder Garnison auf die Seite der Aufständischen die entscheidende Rolle spielte. Das war auch bedeutsam dafür, dass die Mitglieder der Regierung Kerenski ohne Blutvergießen verhaftet werden konnten und im Oktober der Allrussische Sowjetkongress mit bolschewistischer Mehrheit die Macht übernehmen konnte.

Ohne hier auf alle Einzelheiten dieser komplizierten Entwicklung eingehen zu können, sei nochmals hervorgehoben, dass Trotzki bei der unmittelbaren Vorbereitung, der Auslösung des Aufstandes und seiner revolutionären Weiterführung stets konsequent an Lenins Seite stand.

Auf Trotzkis Empfehlung fasste das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets am 12. Oktober 1917 den Beschluss, ein Revolutionäres Militärkomitee zu bilden und Trotzki den Vorsitz zu übertragen. Dieses RMK übernahm das Kommando über die Garnison der Hauptstadt, über andere Truppenteile und über die militärischen Einheiten der Partei und der Milizen. Damit wurde er zu einer Art militärischer Oberbefehlshaber, was den Ausgangspunkt für die nachfolgende Gründung und Entwicklung der Roten Armee darstellte.

Über Trotzkis Rolle und Arbeitsweise berichten Zeitzeugen in unzähligen Publikationen das, was Suchanow – eigentlich ein Widersacher Trotzkis – in seinem Buch über das Jahr 1917 wie folgt zusammenfasste: »Trotzki riss sich von der Arbeit im revolutionären Hauptquartier los und stürzte sich in eigener Person von der Obochowski-Fabrik in die Trubochni-Fabrik, von den Putilow-Werken zu den Baltischen Werken, von der Kavallerieschule zu den Kasernen; er schien an allen Plätzen zugleich zu sprechen… Sein Einfluss, sowohl auf die Massen als auch im Stab, war erdrückend. Er war die zentrale Persönlichkeit dieser Tage und der Hauptheld dieser so wunderbaren Seite der Geschichte.« [18]

Am Rande sei erwähnt, dass zu dieser Zeit der Name Stalin im Inland kaum und im Ausland überhaupt nicht bekannt war. Als Beleg dafür mag dienen, dass dem berühmten Buch von John Reed »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« [19] ein Personenregister angefügt ist, in welchem Lenin 63mal, Trotzki 53mal, Kamenjew 8mal, Sinowjew 7mal, Bucharin und Stalin je 2mal erwähnt werden. Lenin hat in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Buches dies »eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse« genannt, die er »in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen« wollte. [20]

Isaac Deutscher hat in seiner Stalin-Biografie nicht nur bestätigt und belegt, dass Stalin im Revolutionsjahr keine herausragende Rolle gespielt hat, sondern auch Gründe dafür angeführt. Er schrieb: »Man findet keine überzeugende Erklärung für Stalins Zurückhaltung oder Untätigkeit in dem Hauptquartier des Aufstandes. Die Tatsache, dass er sich so verhielt, ist merkwürdig, aber nicht abzustreiten« (Seite 226). Und im Hinblick auf diesbezügliche Fragen, die ihm am Vorabend der Revolution gestellt wurden, heißt es bei Isaac Deutscher: »Stalins Antwort ist das Meisterwerk eines Mannes, der einer klaren Stellungnahme ausweicht« (Seite 227).

Zu dieser Zeit (1918) schrieb Rosa Luxemburg: es »waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich habs gewagt! … In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein.« [21] Diese Einschätzung von Rosa Luxemburg bleibt uneingeschränkt gültig!

Noch war der Weltkrieg im Gange. Deutsche Truppen standen tief im russischen Territorium. Die junge Sowjetmacht war mit dem Ruf nach Frieden angetreten und musste diese Forderung jetzt umsetzen. Als Volkskommissar für ausländische Angelegenheiten erhielt Trotzki den Auftrag, mit dem deutschen Oberkommando in Friedensverhandlungen einzutreten. Es ist hinreichend bekannt und in vielen Publikationen beschrieben, dass Trotzki diese Verhandlungen entgegen der Meinung Lenins verzögerte. Er entwickelte die These von einer sofortigen Beendigung des Krieges, der Demobilisierung der russischen Truppen und Einstellung aller Kampfhandlungen, ohne jedoch einen Friedensvertrag mit den darin enthaltenen deutschen Forderungen zu unterzeichnen. Dies lief hinaus auf einen Zustand: weder Krieg noch Frieden. Die deutsche Heeresführung war völlig verblüfft und brauchte Zeit, sich zu positionieren.

Aber auch in der russischen Führung gab es Verwirrung. Eine Gruppe von »Linkskommunisten« mit Bucharin als Wortführer verlangte die Ablehnung aller deutschen Forderungen und die Fortsetzung eines revolutionären Krieges. Lenin entgegnete: »Um einen revolutionären Krieg führen zu können, braucht man eine Armee, und wir haben keine. Unter diesen Bedingungen kann man nichts machen, als die Bedingungen annehmen.« [22]

Da sich Bucharin nicht überzeugen ließ, spitzte Lenin zu: »Es geht darum, heute die deutschen Bedingungen zu unterzeichnen oder drei Wochen später das Todesurteil der Sowjetregierung.« [23]

Nach einigem Hin und Her konnte Lenin seinen Standpunkt durchsetzten. Inzwischen war aber der deutsche Vormarsch weitergegangen. Auf diesem Hintergrund stellte die deutsche Seite neue weitergehende Forderungen und verlangte eine Antwort in drei Tagen. Es wurde eine neue russische Delegation nach Brest-Litowsk entsandt, der Trotzki nicht mehr angehörte. Um den Deutschen die Veränderung der russischen Haltung glaubhaft zu machen, war Trotzki als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten zurückgetreten.

Der am 3. März 1918 unterzeichnete Friedensvertrag führte infolge der von Trotzki verschuldeten Verzögerung zu nachstehenden Folgen: »Das sowjetische Russland musste 44% seiner Bevölkerung und ein Viertel der Fläche des Zarenreiches, ein Drittel seiner Ernten und 27% der Staatseinnahmen, 80% seiner Zuckerfabriken, 73% seiner Eisenproduktion, 75% seiner Kohleförderung und 9000 Industriebetriebe von insgesamt 16.000 abtreten.« [24]

Nachdem Ursachen und Folgen dieser Entwicklung überschaubar und analysiert waren, erklärte Trotzki am 3. Oktober 1918 auf einer ZK Sitzung: »Ich betrachte es in dieser autoritativen Sitzung als eine Pflicht, zu erklären, dass in jener Stunde, als viele von uns, darunter auch ich, daran zweifelten, ob es nötig, ob es zulässig sei, den Brest-Litowsker Frieden zu unterschreiben, nur der Genosse Lenin hartnäckig und mit unvergleichlichem Scharfsinn gegenüber vielen von uns darauf bestand, dass wir durch dieses Joch hindurch gehen müssten, um bis zur Revolution des Weltproletariats auszuharren. Und jetzt müssen wir anerkennen, dass nicht wir Recht gehabt haben.« [25]

Dies war wohl die wichtigste politische Fehlentscheidung Trotzkis, die ihm lebenslang und sicher zu Recht angekreidet wurde und die er sich auch selbst nie verziehen hat.

Übrigens: in der heutigen trotzkistischen Literatur werden die Vorgänge von Brest-Litowsk ebenfalls gern mit »großer Diskretion« behandelt – wenn überhaupt. Alan Woods schreibt darüber einen einzigen Satz: »Nach der Oktoberrevolution wurde Trotzki zum ersten Volkskommissar für Äußeres gewählt und leitete die sowjetische Delegation bei den Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich und Österreich Ungarn in Brest-Litowsk« [26] – und Punkt! Oder: in der Anthologie »Denkzettel« werden im Sachregister für 447 Seiten zwei Angaben gemacht. Auf der einen angegebenen Seite 306 steht überhaupt kein Wort zu Brest-Litowsk. Auf Seite 436 steht, dass Trotzki diese Friedensverhandlungen leitete, dass er am 10. Februar 1918 den Krieg für beendet erklärte und dass die Bolschewiki Anfang März infolge des Vormarsches der Deutschen Truppen die deutschen Friedensbedingungen akzeptieren mussten. [27] Kein Wort über die Verwicklungen und Verluste, zu denen Trotzkis Verhalten geführt hatte. Auch die Trotzki-Biographie von B. M. Patenaude (Berlin 2010) lässt in der fünfzeiligen Erwähnung von Brest-Litowsk auf Seite 31 Trotzki völlig heraus. Solch neuerer Art trotzkistischer Geschichtsbetrachtung muss mit deutlicher Kritik entgegengetreten werden. Wenn man sich zu Recht gegen Stalins Geschichtsfälschungen verwahrt, darf man sich nicht selbst der Geschichtsklitterung schuldig machen.

Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute

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