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Kriminelle Lieferketten – zurück in die Sklaverei?

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MODERNE SKLAVEREI? betitelte Attac seine Bildungsmaterialien: »Wirtschaft demokratisch gestalten lernen« (Stand 6/2019).

Die Überschrift erscheint reißerisch – für Millionen von Menschen sind ihre Arbeitsverhältnisse aber ganz konkret eine so schwer zu ertragende Bürde, dass der Vergleich mit Sklavenarbeit nicht weit hergeholt erscheint. Genauer gesagt für schätzungsweise 40 Millionen Menschen im Jahr 2016!

»Schätzungen zufolge leben weltweit mehr als 40 Millionen Menschen in sklavenähnlichen Verhältnissen – mehr als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. In zahlreiche alltägliche Konsumgüter (und ihre Vorprodukte) ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Sklavenarbeit eingegangen. Dies wirft zum einen die Frage auf, was politisch gegen diesen skandalösen Zustand getan werden kann, zum anderen aber auch die Frage, wie es heute generell um die globalen Arbeitsverhältnisse steht.«19

Das Bildmotiv für die Bildungsmaterial-Reihe wurde gut gewählt, weil es genau das Spannungsfeld zeigt, in dem Arbeitsverhältnisse unter den heutigen kapitalistischen Verhältnissen stehen, nämlich zwischen Geld und Recht.


https://www.attac.de/bildungsangebot/bildungsmaterial

Und obwohl Sklaverei und Sklavenhandel seit 1948 durch Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verboten sind, und es seit Anfang der 1980er Jahre keinen Staat mehr gibt, in dem Sklaverei rechtlich legitimiert ist, so hat diese heutzutage die Form von moderner Sklaverei angenommen (Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Zwangsheirat oder Kindersoldaten). Von den weltweit betroffenen 40 Millionen Menschen arbeiten 26 Millionen unter Zwang in illegalen Fabriken, in der Landwirtschaft, auf Baustellen, in der Fischerei, in Bordellen oder auch in privaten Haushalten, nicht nur, aber meist im Ausland.

Die Sozialwissenschaftler Markus Wissen und Ulrich Brand sprechen in diesem Zusammenhang von einer »imperialen Produktions- und Lebensweise«20. Zugleich macht der Soziologe Stephan Lessenich mit dem Begriff der Externalisierungsgesellschaft darauf aufmerksam, dass die oft grausamen Grundlagen dieser Lebensweise an anderen Orten der Welt in aller Regel aus unserem Bewusstsein verdrängt werden. Dies spiegelt sich in der geringen Aufmerksamkeit für aktuelle Versuche, Menschenrechte im Bereich der Wirtschaft auf Ebene der UN verbindlich zu regulieren.

In den westlichen Industriestaaten käme es kaum jemandem in den Sinn, die Menschenrechte als universelle Normen grundsätzlich anzuzweifeln, doch allzu genau soll offenbar auch nicht hingesehen werden, wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird.

2011 wurden die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet. Gleichzeitig blockieren die Industriestaaten das aktuell von Ecuador und anderen Staaten des Südens angestoßene Verfahren, mit dem entsprechende Grundsätze tatsächlich rechtlich verbindlich werden könnten. Dies gilt nicht zuletzt für Deutschland und in der Folge für die EU. Hinter dieser Haltung stehen offensichtlich die Interessen transnationaler Konzerne, die fürchten, ernsthaft für Menschenrechtsverstöße entlang ihrer Lieferkette verantwortlich gemacht zu werden.

»Die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie Kinderarbeit darf nicht zur Grundlage einer globalen Wirtschaft und unseres Wohlstands werden.« Dies fordert in großen Lettern Bundesentwicklungsminister Dr. Gerd Müller (CSU) Anfang 2021 auf der Homepage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und bezeichnet dies dort als »die soziale Frage des 21. Jahrhunderts«.

Im Gegensatz zu vielen anderen MinisterInnen kann man ihm durchaus eine ehrliche Absicht unterstellen, schließlich wurde er lange genug von der Bundeskanzlerin ausgebremst.

Kaum ein Minister bekommt die Realität so hautnah mit wie der Entwicklungsminister, wenn er dem nicht ausweicht. Und als gelerntem (Dipl.) Wirtschaftspädagogen sollten ihm ›Dritte-Welt‹-Probleme und ähnliche Themen von seiner Ausbildung her nicht fremd sein.


AktivistInnen der Initiative Lieferkettengesetz protestieren am Morgen vor dem Tagungsort des Deutschen Arbeitgebertages in Berlin.

© Initiative Lieferkettengesetz

»Für die Gewinne deutscher Unternehmen bezahlen viele«, schreibt dagegen die »Initiative Lieferkettengesetz« Berlin und nennt Beispiele:

•»Der mangelhafte Brandschutz in einer KiK-Zulieferfabrik in Pakistan führt zum Tod von 258 Menschen.

•Durch den Dammbruch bei einer brasilianischen Eisenerzmine sterben 272 Menschen – obwohl der TÜV Süd Brasilien kurz zuvor die Sicherheit des Damms zertifiziert hat.21

•Vor einer Platin-Mine in Südafrika werden 34 streikende Arbeiter erschossen und BASF macht mit dem Betreiber der Mine weiterhin gute Geschäfte.«22

Am 4. März 2021 – sechs Monate vor Ablauf der Legislaturperiode – einigte sich das Bundeskabinett auf einen »Gesetzesentwurf über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten«. Ein entsprechendes Gesetz war im Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU/CSU vereinbart.

Nicht nur die späte Eingabe ins Gesetzgebungsverfahren, sondern auch die gewählten Rechtsbegriffe zeigen schon jetzt, dass es mehr als zweifelhaft ist, ob mit einem derartigen Gesetz wirklich menschen- und umweltschädigendes kriminelles Handeln wirksam angegangen werden kann.

Auf der Homepage der Bundesregierung findet sich die folgende Formulierung (kursiv H. S.):

»Die Verantwortung der Unternehmen soll sich entsprechend des neuen Gesetzes auf die gesamte Lieferkette erstrecken, abgestuft nach den Einflussmöglichkeiten. Die Pflichten müssen durch die Unternehmen in ihrem eigenen Geschäftsbereich sowie gegenüber ihren unmittelbaren Zulieferern umgesetzt werden. Mittelbare Zulieferer werden einbezogen, sobald das Unternehmen von Menschenrechtsverletzungen auf dieser Ebene substantiierte Kenntnis erhält23


https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/lieferkettengesetz-1872010

Hier sind bereits die Sollbruchstellen mehr als deutlich markiert: Durch die Praxis der Subunternehmerketten sinkt die Verantwortung beim Unternehmen am Beginn der Kette; die Beschränkung auf unmittelbare Zulieferer verstärkt dies nochmals. Und auch die Aufklärungsarbeit wird nicht gerade erleichtert.

Auch die oben stehende Zusammenfassung von der Regierungs-Homepage (Grafik) deutet darauf hin, dass die internationalen Produktions- und Handelsbeziehungen durch dieses Gesetz eher zum Gegenstand von Berichten und der Öffentlichkeitsarbeit (PR) der betreffenden Unternehmen werden als zum Gegenstand von realen Verbesserungen.

»Es ist ein Gesetz mit Zähnchen«, kommentiert selbst das Handelsblatt (Frank Specht am 14.02.2021). Greenpeace nennt den Gesetzentwurf einen »ausgehöhlten Papiertiger«, die Initiative Lieferkettengesetz bezeichnet es als »Anreiz zum Wegschauen statt präventiver Menschenrechtsschutz«.

Tatsächlich ginge »eine gesetzliche Regelung mit Zähnen« an die Substanz der renditeorientierten Wirtschaft, deren Pendant und gleichzeitige Voraussetzung eben die oben beklagte Ausbeutung von Arbeitskräften ist. Ein solches Strukturmerkmal der kriminellen Ökonomie gilt es gerade zu überwinden!

Die Diskrepanz zwischen den Forderungen einer aufgeklärten Öffentlichkeit und dem Regierungshandeln ist ebenso groß wie von grundsätzlichem Charakter.24

In den Auseinandersetzungen um das Lieferkettengesetz sammeln sich wie in einem Brennglas die vereinigten Probleme und Gegensätze zwischen Ökonomie und Menschenrechten: Globalisierung, Verkettung von Unternehmen, das Ausnutzen eines jeden kleinen Vorteils bei gleichzeitiger Ablehnung jeglicher Verantwortung, Rechtsverstöße, mangelnde Kontrolle, Wegsehen.

Auch der Versuch, die immer wieder aufflackernden schrecklichen Bilder von den ›Kollateralschäden‹ wenigstens kosmetisch zu bannen, gehört dazu. Denn nicht nur die Unternehmen operieren weltumspannend, auch die Bilder verbreiten sich global. Und sie können nicht immer rechtzeitig abgefangen werden.

Insofern ist das Lieferkettengesetz und seine bisherige und zukünftige Geschichte durchaus ein Musterbeispiel für das Grundanliegen dieses Buches. Denn es wird grundsätzlich festgestellt, dass ökonomisches Handeln (auch im globalen Bereich) sich gegebenenfalls öffentlich rechtfertigen muss. Das ist immer schon eine Voraussetzung für demokratische Einflussnahme. Allerdings drückt sich das Gesetz vor den Konsequenzen und schwächt damit den potentiellen Rechtfertigungsdruck wieder ab.

Business Crime – Skandale mit System

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