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»Die Betroffenen bleiben angstvoll stumm und wagen nicht, vor Gericht zu gehen …« – Das verbogene Arbeitsrecht
ОглавлениеNicht zufällig kreisen die Probleme der kriminellen Ökonomie immer wieder um das Arbeitsverhältnis, gehört es doch zum ›Grundwiderspruch von Arbeit und Kapital‹.
Werner Rügemer hat in seinem neuen Buch IMPERIUM EU – ARBEITSUNRECHT, KRISE, NEUE GEGENWEHR (2020) die Europäische Union mal von einem anderen Standpunkt als den üblichen ausgeleuchtet, nämlich vom Standpunkt des Arbeitskraftverkäufers bzw. der Arbeitsplatzverkäuferin.
Und er kommt dabei zu einem vernichtenden Ergebnis, weil die immer wieder aufflammende öffentliche Auseinandersetzung über Lieferketten nur die Spitze eines riesigen Eisbergs ist, der sich mitten durch Europa schiebt. An diesem Eisberg zerschellen Menschenrechte wie auch erkämpfte Errungenschaften des Arbeitsrechts. Gewerkschaftliche Organisierung wird ebenso zerstört wie betriebliche Einflussnahme in Form von Betriebsräten. Und das nicht nur in der Peripherie, wie es in der Auseinandersetzung um das Lieferkettengesetz zu sein scheint, sondern auch im Zentrum der Europäischen Union.
Denn die teils gravierenden Verletzungen von Arbeits- und Menschenrechten im ärmeren Teil der EU ermöglichen auf der anderen Seite erschwingliche Konsumentenpreise und vor allem gute Renditen in den reicheren EU-Staaten.
Im Lissabon-Vertrag ist ausdrücklich festgehalten, die EU zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Und dafür werden insbesondere die Arbeitsbedingungen benutzt, die sich diesem Anspruch unterzuordnen haben. Dafür steht das bekannte Instrumentarium von der ›Flexibilisierung‹ der Arbeitsverhältnisse über die Aufweichung des Kündigungsschutzes bis hin zu niedrigen Löhnen und Gehältern zur Verfügung.
Im Zusammenhang mit gehäuften Corona-Infektionen wurde der Marktführer der Schlachtkonzerne Tönnies ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung gezerrt. Dabei war alles, was diesbezüglich herauskam, nicht neu – egal. Ob es also die nicht gerade gesundheitsfördernden Arbeitsbedingungen, die Nichtbeachtung von Gesundheitsvorschriften oder auch die katastrophalen Wohnverhältnisse der FleischarbeiterInnen waren – dies alles war letztlich bekannt. Aber wegen der Betroffenheit eines ganzen Landkreises im Zuge der Corona-Bekämpfung schafften es diese Arbeitsbedingungen tatsächlich ins grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Und für ein paar Tage wurde dann sogar über Gesetzesänderungen im Arbeitsrecht öffentlich nachgedacht.
Rügemer rückt dies in den dabei kaum erwähnten Zusammenhang mit der Rolle deutscher Unternehmen in der EU:
»Deutschland wurde mit EU-Beihilfen zum Führungsstaat bei der Mehrfachausbeutung von Fleischarbeitern: Betrügerische Werkverträge (gefakte Leiharbeit); gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen; unbezahlte Überstunden; Abzüge für Vermittlungskosten, Fehlverhalten, Transporte und überhöhte Mieten (Mietwucher): modernste Sklaverei. Die Betroffenen bleiben angstvoll stumm und wagen nicht, vor Gericht zu gehen. (…)
Bis zu 80 Prozent der Beschäftigten sind Werkvertragler. Marktführer Tönnies bezog sie aktuell von mindestens zwölf verschiedenen Vermittlern. Die ArbeiterInnen kommen aus den durch die EU verarmten Staaten: Hohe Arbeitslosigkeit, niedrigste Niedrig- und Mindestlöhne, in Moldau 200 Euro im Monat. Sie kommen oft für zwei, drei Jahre, dann werden sie erschöpft ausgetauscht.«25
Diese Rolle schafft eine ökonomische und soziale Struktur, die andere EU-Staaten wiederum zum Handeln zwingt. Deren Regierungen versuchen immer wieder, das deutsche Modell zu kopieren, bedienen damit aber lediglich eine Spirale nach unten.
Deutschland, das sich allzu gern als ›Musterknabe‹ präsentiert, unterläuft hier sogar die Arbeitsrechtsnormen aller Nachbarländer.
»Deshalb gründeten die Schlachtkonzerne Vion N. V. aus den Niederlanden und Danish Crown aus Dänemark im führenden ArbeitsUnrechts-Paradies große Schlachthäuser (…). Deutschland, von der EU gefördert, zog das ArbeitsUnrecht an und wurde nach den USA der größte Exporteur von Billigfleisch.«26
Rügemers vernichtendes, aber nach diesen Schilderungen sicherlich verständliches Urteil: »Kein Bereich des Rechts in der EU kennt ein solches verrechtlichtes Unrecht und ein solches Vollzugsdefizit und eine solche Grau- und Dunkelzone der systemischen Illegalität.«27
Man sieht auch hier, dass die Grenzen zwischen illegalem Unternehmensverhalten und dem noch legalen Unterlaufen von Arbeitsrechtsstandards fließend sind, aber zusammengehören, und dass Rechtsverstöße Unrecht produzieren, wenn sie nicht verfolgt werden (können).