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zwei
ОглавлениеZwischenspiel
Siegfried Adler, blond, groß, breitschultrig, sowie stahlblaue Augen kam 1944 als Ergebnis eines Zuchtprogramms der Nazis zur Welt. Alle Kenntnisse der damaligen Genetiklehre wurden bei seiner Zeugung beachtet. Das wusste er jedoch erst seit wenigen Jahren.
In einer, der wenigen sentimentalen Anwandlungen beschäftigte er sich, nach dem Tod des Vaters, mit dem Stammbaum und stieß auf die unglaubliche Erkenntnis. Sein Geburtsort war identisch mit einem sogenannten Lebensbornheim in Wernigerode im Harz und die bis dato Eltern waren nicht die leiblichen. Nach dem Kriegsende 1945 machten sie sich seiner habhaft, anders konnte er es nicht bezeichnen, denn es gab keine Adoptionspapiere. Sicher blieb, dass seine Erzieher einerseits mit dem Naziregime sympathisierten sowie andererseits aus hohen Positionen und Funktionen kamen. Ein normal Sterblicher bekam niemals, auch nach Kriegsende nicht, ein Kind aus einem solchen Heim.
Siegfried wurde in einer Mischung von Arroganz und Intoleranz erzogen. Tief im Innern wusste er, dass er sich von den anderen unterschied. In der Schule und während der Ausbildung lebte er eher unauffällig. Jedoch ständig gelangweilt und unruhig im Geist. Fast schon zu spät fand er eines Tages heraus, dass er einer totalen Unterforderung gegenüberstand. Das begonnene Pädagogikstudium schoss er, mit der neuen Erkenntnis, in den Wind. Er fühlte sich zu Höherem berufen. Zu dem Zeitpunkt lebte er in einem kleinen sauerländischen Dorf. Er brach die Zelte dort ab und zog nach Aachen, um dort zu studieren. Doch es kam anders.
Die Stadtverwaltung suchte händeringend Mitarbeiter. Siegfried stieg nach reiflicher Überlegung ein. Schließlich konnte Vielseitigkeit kein Nachteil sein und das Studium lief nicht weg. Wider Erwarten fand er hier die erste Bestimmung, auch wenn es ihn, Anfang der achtziger Jahre, in die schnell wachsenden städtischen Krankenanstalten zog.
Siegfrieds Berufswahl kam nicht von ungefähr. Er unterlag einer unmerklichen Steuerung. Als ihm dieser Umstand ins Bewusstsein trat, verpasste er den Zeitpunkt zum Handeln oder besser gesagt: Seine Ichbezogenheit ließ ihn die Tatsache verdrängen.
Siegfried Adler war nicht allein. Im erweiterten beruflichen Umfeld gab es mindestens fünf weitere Beschäftigte mit der gleichen Einstellung zum Leben und einer ähnlichen Vita. Jedoch nahm er nicht an, dass sie, ebenso wie er, aus einem Lebensborn kamen. Sie fanden ihren Job in den städtischen Krankenanstalten etwa zum gleichen Zeitpunkt. Sie betrachteten die Umwelt mindestens ebenso misstrauisch, wie er. Was letztendlich besagte, dass sie vordergründig viele Freunde und Bewunderer besaßen, jedoch nie über ihre Lebenseinstellung sprachen. Siegfried kam ausschließlich im Arbeitsumfeld mit ihnen in Berührung.
Je weiter Siegfried beruflich vorankam, umso mehr bemerkte er, dass das System, das ihn einband, gerade mal zur mittleren Ebene gehörte. Im Arbeitsbereich wirkte er zwar als König, doch, wenn er über den Tellerrand schaute ... eine Randnotiz der hierarchischen Ordnung.
Die Erkenntnis traf ihn etwa zum gleichen Zeitpunkt, als der Erzieher starb, den er Vater nannte. Er liebte den Mann, wie einen echten Elternteil und sah es als Pflicht, den Nachlass zu ordnen.
Er stieß auf die Umstände seiner Geburt und Erziehung, auf Zeugnisse seiner Vergangenheit und die Erkenntnis, dass er schon früh auf den Lebensweg vorbereitet wurde, auf dem er dahin vegetierte.
Er verbrachte als Kind die Sommerferien in einem Zeltlager am Lenster Strand in der Nähe von Grömitz. Hier wurde er schon mit zehn Jahren, einer permanenten Schulung unterzogen. Heute bezeichnete er die Freizeit als Gehirnwäsche. Erst später brachte er die Ausbildung mit rechtem Spektrum in Bezug. Seine Zieheltern angesprochen, erklärten geduldig, dass die Vergangenheit nach dem Krieg verschleiert werden musste, weil ihn die Gesellschaft, in der sie lebten, ansonsten ächtete. Sie erzählten ihm Beispiele, wonach Kinder als Nazischweine und Schlimmeres beschimpft wurden. Er verstand es damals nicht. Einerseits musste er seine Herkunft und die Ferien im Jugendlager verschleiern und andererseits wurde er als Mitglied einer Herrenrasse gepriesen. Ein Widerspruch, der ihn das gesamte Leben verfolgte. Er war anders als die anderen, das wusste er nun. Doch er kam nie dazu, die tatsächliche Einstellung zu testen. Egal wie, immer wenn er den Entschluss fasste, der anerzogenen Gesinnung gemäß, einer politischen Gruppierung beizutreten, wurde er davon abgehalten. Auf äußerst subtile Art und Weise … durch die Eltern oder deren großen Bekanntenkreis. Die alten Seilschaften der Nazis bestanden immer noch und er lebte als ein Teil in dieser Ordnung. Doch ähnlich wie Freimaurer bauten sie hohe Mauern und hielten ihre Gemeinschaft geschlossen. Die mysteriöse Vergangenheit hielt ihn im Griff. Die vielen Onkel und Tanten gehörten als fester Bestandteil zu seinem Leben. Alle schlank, groß und blauäugig. In jungen Jahren blond und später mit weißem Haupthaar. Sie begegneten ihrer Umwelt mit Arroganz und Unduldsamkeit. Außerhalb ihrer kleinen Gruppe besaßen sie keine Freunde.
*
Seit Siegfried denken konnte, besaß er ausreichend Geld. Jährlich füllte eine erkleckliche Summe, das Konto bei der Stadtsparkasse. Nachforschungen ergaben, dass die finanziellen Mittel von einer Stiftung überwiesen wurden. Doch, als er versuchte, näher einzusteigen, stoppte ihn ein Schreiben. Es lag, ohne Adressat, im Briefkasten. Falls er die Nachforschungen weiter betrieb, würde das die Einstellung der Zahlungen bedeuten. Gleichzeitig wurde ihm mitgeteilt, dass er, sobald er eine Anweisung unter dem Begriff ›Morgendämmerung‹ erhielt, diese auszuführen habe. Also machten sich die Nazis schon die russischen Dichter zu eigen. Soweit er wusste, schrieb Anton Tschechow irgendetwas zur Morgendämmerung. Wieder ein Bezug zu seiner Vergangenheit? Er stellte schweren Herzens die Erkundigungen ein. Die große Pseudoverwandtschaft, mittlerweile in die Jahre gekommen, wollte oder konnte ihm nichts Näheres dazu sagen.
In diesem Zusammenhang dachte er an ein Zeltlager in Lenste an der Ostsee. Weshalb es ihm in den Sinn kam, wusste er nicht. Die Kinder trieben morgendlichen Sport. Zackig, im Gleichklang, verrichteten sie Leibesübungen. Der Betreuer, mit militärisch kurzen Haaren, fungierte als Übungsleiter. Siegfried verbrachte seine dritten Ferien hier und zählte dreizehn Jahre. Ein Alter, bei dem er einiges hinterfragte. Die Gedanken behielt er für sich. Zurück zum Sport. Ein älterer hochgewachsener Mann trat während der Übung hinzu. Nun geschah etwas, was er später nie mehr erlebte. Der Betreuer erstarrte, presste die Hände an die Hose und reckte den Kopf. Er schnarrte mit harter Stimme: »Gruppe stillgestanden.« Dabei vollzog er eine neunzig Grad Drehung. »Obergefreiter Neuner mit zwanzig Zöglingen angetreten ... Herr Sturmbannführer.«
Der ältere Herr versteinerte und das Blut stieg in seinen Kopf. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen«, rief er flüsternd.
Herr Neuner rührte sich nicht. Kein Gesichtsmuskel zuckte.
»Rühren«, befahl der hinzugekommene Mann. »Was tun Sie hier? Wir benötigen Wissenschaftler und keine Soldaten.« Er machte eine Bewegung mit der Hand. »Schicken Sie die Jungen in ihre Zelte.«
Auf dem Weg zum Zeltplatz beobachtete Siegfried die beiden, die sich scheinbar stritten. Nach dem Ferienlager blätterte er in einem Lexikon und fand die Erklärung für Sturmbannführer. Sie bestätigte seine Vermutung hinsichtlich der Nähe zu den Nazis.
Die Leibeserziehung wurde zwar nicht eingestellt, jedoch die Vorzeichen veränderten sich. Sie unterlagen nicht mehr dem Drill, sondern maßen sich im sportlichen Wettkampf. Ab diesem Zeitpunkt wurde Wert auf politischen Unterricht gelegt. Immer wieder klang ihre besondere Stellung in der Gesellschaft durch.
Anfang der neunziger Jahre machte Siegfried Adler bei einem Empfang in der Staatskanzlei in Düsseldorf die Bekanntschaft eines Herrn, den er niemals wieder sah. Mehr als deutlich empfahl dieser ihm, Geld in der ›Morgendämmerung‹ zu investieren, und zwar zu Dienstleistungen im privaten Bereich. Zurzeit würden die Leistungen noch von den Beschäftigten seiner Klinik erbracht, jedoch stände eine Änderung bevor. Der Rat, es war schon mehr eine Anweisung, erwies sich als kluge Anlage.
Wie dramatisch, dachte er noch. Morgendämmerung … etwas Besseres fiel denen auch nicht ein.
Insgeheim ärgerte er sich. Natürlich verfolgte er die Tagespolitik mit gemischten Gefühlen. Die Privatisierungsbestrebungen der Landesregierung entzogen ihm Personal, das seinem Einflussbereich unterstand. Sie entzogen ihm Macht.
Nichtsdestotrotz kaufte er unter einem Decknamen eine große marode Reinigungsfirma in Köln und pumpte viel Geld in die Infrastruktur. Ein Geschäftsführer machte ihm den Betrieb so fit, dass er europaweit konkurrenzlos arbeitete. Parallel überredete er einen Freund, eine kleine ortsansässige Firma in Aachen zu übernehmen. Geld spielte keine Rolle. Die Quelle schien unerschöpflich.
Kaum tätigte er die Geschäfte, setzte die breite Debatte über zu hohe Personalkosten im öffentlichen Dienst ein. Zunächst liefen die politischen Diskussionen an ihm vorbei. Personalabbau erfolgte zwangsläufig im Job bei sinkenden Zuweisungen des Ministeriums. Der Kampf gestaltete sich von Jahr zu Jahr härter. Oft wandte er in der Funktion als stellvertretender Verwaltungsleiter Finten an, um zumindest das Geld zu bekommen, was im vergangenen Jahr zugewiesen wurde.
Langsam sickerte in Siegfrieds Verstand, dass die Diskussionen um die Personalkosten bewusst hochgehalten wurden und er langsam aber sicher auf ein großes Geschäft zusteuerte. Vor allem, weil ein hoher Ministerialbeamter, sehr dreist, eine Abfindung von ihm forderte, falls er mit seiner Firma ins große Geschäft kommen sollte. Er hatte bis dahin zwar schon von Lobbyismus gehört, jedoch kaum einen Gedanken daran verschwendet. Ihn beunruhigte, dass der Beamte von der Beteiligung an der Dienstleistungsfirma zu wissen schien. Er wies den Geschäftsführer an, jemanden zu finden, der die Aufgabe der Schmiergeldzahlungen an die Politiker übernahm. Die Wahl fiel auf eine junge Betriebswirtschaftlerin, die den Job wahrnahm. Sie war gut, und zwar sehr gut.
Siegfried Adler trat immer weiter in den Hintergrund und hoffte, die Geschäfte so zu verschleiern, dass nichts mehr auf ihn wies.
*