Читать книгу Todessturz - Herbert Weyand - Страница 8
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Оглавление»Frau Krause. Nett, dass Sie mich so schnell empfangen. Ich muss ihr Angebot schneller in Anspruch nehmen, als mir lieb ist.« Claudia betrat das Büro der Dezernentin. Sie sah ihr mit ihrem ansprechenden schmalen Gesicht entgegen. Ungefähr vierzig Jahre alt, schätzte Claudia. Die dunklen Haare zeigten helle Strähnen, von denen Claudia nicht wusste, ob sie echt oder gefärbt waren. Wenn ja … auf alle Fälle sehr gut gemacht. Kleine Fältchen in den Augenwinkeln zeugten davon, dass die Frau gerne lachte. Graugrüne Augen schauten sie wach an.
»Ich habe mit Ihnen gerechnet, nachdem ich hörte, wer der Tote ist.«
»Kennen Sie ihn?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Wie man halt einen Kollegen kennt, mit dem man ab und zu Berührungspunkte hat.«
»Wie war er so? Mir ist eine unvoreingenommene Meinung wichtig«, wollte Claudia wissen.
»Da fragen Sie die Richtige. Tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht viel über ihn und am Flurgeflüster sind sie bestimmt nicht interessiert.« Krause hob abwehrend die Hände.
»Dann lassen wir das«, kommentierte sie die normale Reaktion von Wegners Kollegin. Zu Anfang wollte niemand in etwas hineingezogen werden. Das änderte sich im Verlaufe der Zeit. »Wir benötigen einen Besprechungsraum. Haben Sie so etwas für uns?«, fragte Claudia.
»Klar. Ich habe es kommen sehen und Ihnen den Kleinen Konferenzraum freigemacht. Gleich hier drunter auf dem B-Flur. Der Schlüssel«, sie hielt ihn ihr entgegen. »Einen guten Rat noch. Schließen Sie alles weg. Es gibt einige Generalschlüssel im Haus.«
»Das ist super. Danke. Wegschließen?«, sie sah die Dezernentin merkwürdig an, tat es aber dann ab. »Wie komme ich an eine Liste der Arbeitskollegen von Herrn Wegner?«
»Am besten über das Personaldezernat. Im Konferenzraum stehen ein Computer und ein Faxgerät. Ein Organigramm unseres Hauses mit den entsprechenden Ansprechpartnern habe ich auch deponieren lassen. Einen Teil finden Sie auch im Netz und Intranet, das ich für Sie freischalten lasse. Da haben Sie einiges zu tun.« Krause lächelte.
Eine kompetente Persönlichkeit, dachte Claudia. Die ist echt zu gebrauchen.
»Ich hatte in der Vergangenheit einige Male hier zu tun … wenn ich ehrlich bin, habe ich die Struktur ihres Krankenhauses nie durchschaut«, packte sie die Gelegenheit beim Schopf.
»Oh Gott. Sagen sie das nie wieder.« Krause lachte zu Claudias erstauntem und ratlosem Gesichtsausdruck. »Ich meine ›Krankenhaus‹ … wir sind eine Universität. Der Krankenbereich kostet zwar viel Geld und beschäftigt mehrere Tausend Personen, läuft jedoch nur so nebenher. Lehre und Forschung ist der Schwerpunkt. Auch wenn die Hochstudierten ohne die Kranken verloren sind … sind sie nicht mehr als ein lästiges Anhängsel. Wenn die Fakultät die Patienten backen könnte, würde sie es tun.«
»Ist das echt so?«, fragte Claudia interessiert.
»Viel schlimmer. Wir, das bedeutet der Krankenpflegebereich, die Unterhaltung des Gebäudes, Versorgung, Verwaltung und vieles mehr, sind nie frei in unseren Entscheidungen. Der Dekan und der Ärztliche Direktor haben das Sagen. Dazu kommen Politik und Krankenkassen. Ein Durcheinander ohne Ende. Häufig entstehen unverständliche und unmögliche Situationen. Sie können sich nicht im Traum vorstellen, was in der Bundesrepublik und insbesondere hier los ist. Katastrophe.« Sie kam richtig in Rage.
»Ähnlich wie bei uns«, bemerkte Claudia schmunzelnd. »Bei uns ist es die Staatsanwaltschaft und die Politik. Das System ist das gleiche. Doch zurück zu unserer Leiche. Wer kann mir über den Toten Genaueres sagen?«
»Am besten vor Ort mit den Kolleginnen und Kollegen sprechen.«
»Das ist mir auch als Erstes in den Sinn gekommen«, sagte Claudia sarkastisch. »Na ja. Ich schaue mich um.«
*
Drei große rechteckige Tischen auf Stahlbeinen beherrschten den Kleinen Konferenzraum. Darum gruppierten sich sogenannte Freischwinger. In der hinteren rechten Ecke stand ein Schreibtisch mit Computer, Telefon, Faxgerät und jede Menge Utensilien, die für Büroarbeit notwendig waren. Auf den ungefähr achtzig Quadratmetern fanden bequem zwanzig Personen Platz. Keine Schnörkel oder etwas, was dem Raum Atmosphäre gab. Nackt, groß und geschmacklos.
»Ich setze mich gleich vor den Computer«, legte Maria mit Elan los und drückte den Einschaltknopf, um das Gerät hochzufahren.
Heinz saß am Tisch und sah Claudia erwartungsvoll an.
»Ich dachte, wir fangen mit den Kollegen des Toten an«, sagte Claudia.
»Das habe ich heute schon einmal gehört. Ja. Ist wohl am besten. Er wohnte drüben im Personalwohnheim. Ich habe mich dort umgesehen.«
»Im Personalwohnheim? War er nicht ein bisschen zu alt dafür? Da wohnen doch Schülerinnen und Schüler der Krankenpflegeschule.« Claudia hob die Augenbrauen.
»Und solche, die Probleme zu Hause haben. Ja … und ein Hotel haben die da.«
»Ich komme hier nicht rein«, rief Maria und fluchte wie ein Rohrspatz.
»Wieso? Hast du ihn nicht eingeschaltet«, fragte Heinz, der von Computern nichts wissen wollte.
»Die haben hier noch uraltes Windows NT. In einer Universität … stellt euch das einmal vor. Ich muss ein Passwort haben, sonst habe ich keine Berechtigung. Außerdem scheint dieses System über einen internen Server zu laufen. Dann taugt es nicht für uns. Jeder kann alles abgreifen. Es ist finsterstes Mittelalter. Ich hole mein Notebook aus dem Auto und hoffe, dass die hier einen Hotspot haben. Festnetz wäre mir zu unsicher in dem Klotz.« Sie verschwand flugs.
»Bin ich froh, dass ich nichts mit so einem bekloppten Computer zu schaffen habe.« Heinz grinste unverschämt, um gleich wieder ernst zu werden. »Der Tote lebte getrennt von seiner Familie. Frau und zwei Kinder. Ich fahre gleich mal dort vorbei und überbringe die traurige Nachricht. Die wohnen in Kohlscheid. Da bin ich schnell rüber gefahren.«
»Schön, dass du mir das abnimmst«, sagte Claudia dankbar.
»Gerne«, antwortete er, auch wenn er die dunkle Seite des Berufs absolut nicht mochte.
»Die Spurensicherung hat Anhaltspunkte, die von einem Kampf herrühren. Auf dem Boden im Staub und am Geländer. Der Tote versuchte, sich festzuhalten«, erzählte Claudia. »Was mag dort geschehen sein?« Sie blickte nachdenklich auf einen imaginären Punkt an der Wand. Heinz störte sie nicht. Ihre grauen Augen lagen verloren in der Ferne und bekamen einen abwesenden Ausdruck. Dabei spitzte sie die Lippen und stieß von innen mit der Zunge dagegen. An der Nase entstanden zwei Grübchen. Häufig, wenn sie eine solche Anwandlung bekam, lebte ihr Bauchgefühl auf und das brachte manch verblüffendes Ergebnis zum Erfolg einer Ermittlung. Doch es war noch nicht so weit. »Keine Spuren, die annehmen lassen, dass sie vom Täter sind. Es kann immer noch ein Unfall gewesen sein.«
»Auf dem Dach sieht es nach einer Straftat aus. Ich weiß nicht, was die Spurensicherung gesehen hat. Für mich ist der Fall klar. Der ist gestoßen worden. Warten wir die Obduktion ab«, meinte Heinz. »Ich bin dann nach Kohlscheid.«
*
»Frau Derichs. Sie haben vom Tod ihres Kollegen Wegner gehört«, begann Claudia die Befragung der brünetten Frau, die ihr gegenübersaß und nervös wirkte. Der Kleine Konferenzraum war mittlerweile so hergerichtet, dass sie die Vernehmungen vor Ort durchführen konnten.
»Sicherlich. Wer nicht, in unserer Abteilung«, gab Frau Derichs vorsichtig zurück, dabei zuckte ein Nerv an ihrem linken Auge unkontrolliert. Mitte zwanzig, ansprechende Gesichtszüge und eine gute Figur, stellte Claudia fest. Nicht zu vergessen der Klunker im linken Nasenflügel. Der kleine Edelstein glitzerte im Licht, wenn sie den Kopf bewegte.
»Sie kannten Herrn Wegner näher?«, fragte sie ruhig.
»Wie man sich halt kennt, wenn man zusammenarbeitet«, antwortete die junge Frau. »Er war mein Abteilungsleiter.« Dabei tauchte ein weiteres Piercing auf der Zunge auf.
»Nach unseren Informationen muss es wohl etwas mehr gewesen sein«, hakte Claudia nach und betrachtete fasziniert die Verunstaltungen auf Nase und Zunge. Sie verstand die jungen Frauen heutzutage nicht. Dabei war sie selbst noch nicht so alt.
»Getratsche. Neid der Besitzlosen.« Frau Derichs wurde ein wenig nervöser und patzig.
»Sind Sie verheiratet?
»Ja.«
»Weiß Ihr Mann von Ihrem Verhältnis?«
»Nein. Woher … jetzt haben Sie mich hereingelegt. Muss ich mir das gefallen lassen?« Sie lispelte übergangslos aufgeregt. »Iss werde miss beim Personalrat beschweren. Das isst doch wohl allein meine Privatsache.«
»Im Normalfall ja … in einem Mordfall nein. Wie lange ging das schon?«, fragte Claudia.
»Es war schon längst vorbei. Nichts als eine Episode«, tat Derichs die Beziehung ab und bekam ihre Aussprache wieder unter Kontrolle. »Er hatte noch eine andere.«
»Kennen Sie Ihre Nachfolgerin?«
»Welche?«
»Dann war Ihnen wohl bekannt, dass er wechselnde Bekanntschaften hatte?«
»Das wusste doch jeder im Haus.«
»Trotzdem haben Sie sich mit ihm eingelassen?«
»Warum nicht. Für eine gute Nummer ist doch jeder zu haben. Davon haben Sie wohl keine Ahnung.« Frau Derichs musterte Claudia geringschätzig, die, entgegen ihrem üblichen Outfit, eine abgetragene Jeans und ein schlabbriges T-Shirt trug. »Außerdem entspannt das so schön, wenn man Stress hat. War aber nicht viel dahinter. Ein Blender.«
Blöde Kuh, dachte Claudia. »Eine Nummer, wie Sie so schön sagen, auf Kosten des Steuerzahlers ist keine Bagatelle«, schob sie gehässig nach. Auch auf die Gefahr hin, dass sie als Spielverderberin angesehen wurde. Frau Derichs fuhr zusammen. »Sie wollen doch keinen Aufstand machen?«, fragte sie. »Wenn mein Mann dahinter kommt, bin ich geliefert. Der versteht keinen Spaß.«
»Daran sollte man vorher denken.«
*
»Frau Heinen. Sie kannten Karl Wegner?«, fragte Claudia. Vor ihr saß eine ungefähr vierzigjährige Frau mit langem blondiertem Haar. Sie war modisch gekleidet und für Claudias Geschmack ein wenig überschminkt.
»Ja. Wie man sich so kennt, wenn man im gleichen Betrieb arbeitet. Er arbeitete in der Beschaffung, also Materialcenter, und ich in der Finanzabteilung. Da gab es Berührungspunkte«, erwiderte sie. Frau Heinen gab sich locker und entspannt.
»Von seiner laxen Dienstauffassung wussten Sie?«
»Was so erzählt wird. Da gibt es jedoch Schlimmere.«
»Und? Worüber wird so gesprochen?«
»Nichts Wichtiges. Aus seiner Zeit in der Reinigung. Da sollen einige Dinge vorgefallen sein, die man ihm jedoch nicht beweisen konnte«, gab sie bereitwillig Auskunft.
»Und ... der jetzige Arbeitsbereich?«
»Da ist mir nichts zu Ohren gekommen.«
»Wussten Sie über die Affären Bescheid?«
»Sicherlich. Ich habe auch mit ihm gepennt, wenn Sie das wissen wollen«, kam die gelassene Antwort.
*
»Sicher bin ich mit Karl in die Kiste gehüpft. Welche Frau im Haus hat das nicht gemacht. Das können aber nur zwei oder drei sein.«
»Ich hab mich von ihm bumsen lassen, damit ich den Job bekomme, den ich jetzt habe. Das machen doch alle so.«
»Wegner hat alles zu Geld gemacht, das ihm in die Finger kam. Ich kann mir gut vorstellen, dass er den Job zum Vorteil nutzte.«
*
Claudias Nerven lagen blank. Den zweiten Tag befragte sie jetzt den Kollegenkreis des Toten. Außer dem Hormonüberschuss, mit dem er fast jede Kollegin und darüber hinaus beglückte, kam bisher nicht viel heraus.
Wegner regierte sein kleines Reich, als Abteilungsleiter in der Materialbeschaffung, mit scheinbar harter Hand. Er arbeitete mit psychologischem Druck und trieb die Kolleginnen und Kollegen zu den erwarteten Leistungen. Er verlangte von den nachgeordneten Mitarbeitern das Letzte, bis hin zu unbezahlten Überstunden, die Kolleginnen oft im Büro auf dem Schreibtisch beendeten. Sie waren Freiwild, das ihm überwiegend freiwillig folgte. Wobei Claudia jedoch auch einige Male Arbeitsplatzangst heraushörte. Sie wollte kein Mitleid aufbringen. Bei allem Psychoterror musste keine Frau so weit gehen, dass sie gegen ihren Willen den Körper anbot. Das Verständnis dafür ging ihr ab. Sie kannte solche Machenschaften auch bei der Polizei. In vielen Männerköpfen waren Frauen noch Freiwild. Manche dieser Machos hatten das ganze Jahr Jagdsaison.
Durch ihren Kopf geisterte Ziegler. Der Idiot hatte sie damals aus dem LKA geekelt, weil sie eine Affäre mit ihm beendete. Seitdem hatte sie einen Hals auf die Büromachos. Aber nein, dachte sie, was bist du eine blöde Ziege. Von Zwang konnte bei ihrem Verhältnis keine Rede sein. Sie war einfach blöd.
Wegner stritt gerne und oft mit den männlichen Kollegen. Dabei nutzt er seine Stellung und schoss jeden ab, der nicht nachgab.
Bevor man ihn im Materialcenter einsetzte, gehörte zu seinem Aufgabengebiet die Vergabe von Aufträgen an Fremdfirmen sowie deren Kontrolle. Hinzu kam die Aufsicht über die hauseigene Reinigung, was ihm faktisch uneingeschränkte Macht innerhalb dieses Bereiches gab. Führung, die er missbrauchte. Er setzte die Kolleginnen unter Druck und wer nicht mitspielte, die moppte er so übel, dass sie das Handtuch warfen oder sich beugten.
Er war der Liebling der Vorgesetzten, weil der Dienstleistungsbereich ohne Komplikationen lief. Die Schwierigkeiten begannen, als über politischen Druck, die hauseigenen Leistungen privaten Anbietern zugeführt werden sollten.
Wegner nahm zunächst kleine Geschenke und später größere Zuwendungen. Was natürlich nicht verborgen blieb und zu einer Anhörung im Personaldezernat führte.
Claudia stand auf und streckte den Rücken. Sie wanderte nachdenklich durch den fensterlosen Konferenzraum. Das Anhörungsprotokoll zeichnete sich durch Detailwissen der Personalabteilung aus, das den einzigen Schluss zuließ: Jemand hatte Wegner verpfiffen. Sie machte einen Vermerk, in der Personalabteilung nachzufragen. Daraufhin erfolgte faktisch die Strafversetzung in das Materialcenter, in dem Wegner bis zum Tod arbeitete.
Im Privaten suchte seine Frau, die Trennung von ihm … vielmehr warf sie ihn aus der gemeinsamen Wohnung, weil die Wilderei in fremden Revieren unerträgliche Ausmaße annahm. Sie arbeitete ebenfalls in der Klinik, und zwar in der Krankenpflege. Ihre beiden Kinder wurden von den Eltern der Frau versorgt, während sie ihrem Beruf nachging. Nach Heinz Angaben empfand sie seinen Tod als ausgleichende Gerechtigkeit und aufgrund der noch nicht eingereichten Scheidung hätte sie ja jetzt wohl Anspruch auf Witwen- und Waisenrente, die ihr das Leben mit den Kindern wahrscheinlich erleichtere.
Zu den angeblichen Unregelmäßigkeiten der Auftragsvergaben, von denen scheinbar jeder wusste, fand die Kripo noch nichts Brauchbares. Sie traf auf eine Mauer des Schweigens.
Claudia verwunderte immer wieder, was bei solchen Ermittlungen ans Tageslicht kam. Fassaden bröckelten und fielen zusammen. Sorgfältig, häufig über Jahre gehütete kleine Geheimnisse und tiefe Abgründe, die niemand vorher vermutete. Familien, Karrieren oder auch Leben wurden auf immer, faktisch als Beigabe, zerstört. In vielen Fällen taten ihr die Beteiligten leid, weil sie im Grunde unbeteiligt und durch die Unvernunft ihrer Partner unaufhaltsam mit in den Strudel gezogen wurden. Sie konnte nichts daran ändern.
Mord blieb eine unschöne Angelegenheit und der oder die Täter verdienten, dass sich die Polizei mit aller Macht dafür einsetzte, sie zu stellen. Im aktuellen Fall fiel es Claudia schwer mit dem tatsächlichen Opfer, Mitleid zu empfinden. Nichts hatte sie auf diesem moralischen Sumpf vorbereitet. Der Ermordete musste ein absolut skrupelloses Arschloch gewesen sein. Sie war gespannt, welch arme Sau für den Tod verantwortlich war.
*
Kurt … Claudias Problemchen. Hoffentlich entließen sie ihn bald. Ihre männliche Miss Marple. Jetzt nervte er eine Krankenschwester auf der Nachbarstation, die etwas mit Wegner gehabt hatte. Er stellte blöde Fragen und berichtete laufend per Telefon über die Ermittlungsergebnisse. Als wenn sie so nicht schon genug zu tun hätte? Doch so einfach wollte sie ihm nicht vor den Kopf stoßen und außerdem war sie nicht seine Erziehungsberechtigte. Sie lächelte, als sie an den großen Tollpatsch dachte. Na ja … viel hatte er ja im Moment nicht von ihr. Das musste sie ändern. So lange gehörten sie schließlich noch nicht zusammen. Die Entwicklung ihrer Beziehung lief im Moment automatisch und es schien Schicksal, dass sie zusammenblieben. Obwohl er manchmal so ein Blödmann war, mochte sie ihn. Vielleicht … war es auch etwas mehr.
Claudia stand vor ihrer persönlichen Entscheidung. Sie lebte schon mehr in Grotenrath, Kurts Dorf, als in ihrer Aachener Wohnung. Doch … der entscheidende Schritt fiel schwer. Zwar gefielen ihr Landschaft und Menschen, doch nirgendwo gab es ein Geschäft. Zum Shoppen gab es da einfach nichts. Dafür war Aachen besser. An und für sich lebte sie gern hier. Die Stadt hatte etwas, was sie anzog. Alt und doch jung, aufgrund der vielen Studenten. Und die zwanzig Kilometer bis nach Grotenrath waren auch nicht die Welt. Jedoch der Typ hatte etwas an sich, das sie unwiderstehlich zu ihm zog.
Claudia lachte laut und sah erschrocken auf, ob sie jemand beobachtete. Doch sie war allein.
Ihr Appartement in Aachen war zurzeit unbewohnt und deshalb aufgeräumt. Nein … sie sollte ehrlich sein. Als Kurt vor wenigen Wochen in ihre Wohnung wollte, war es nicht möglich, weil die Bude auf dem Kopf stand. Manchmal konnte sie eine richtige Schlampe sein. Das sollte nicht mehr passieren.
Noch etwas stand einem Umzug entgegen. Kurts Dorf erschien ihr unheimlich. Die Menschen dort lebten zwar im Hier und Jetzt, sahen fern und arbeiteten mit dem PC. Na ja mit dem PC nicht so, weil die Telekom noch kein DSL installiert hatte. Auf jeden Fall waren sie real. Daneben pflegten sie die Vergangenheit auf eine Art und Weise, die Angst machte. Visionen und das Zweite Gesicht gehörten zum Alltag. Im einundzwanzigsten Jahrhundert. Sie konnte es nicht fassen. Ihre Kollegin Maria kam überhaupt nicht klar damit.
Doch andererseits besaß Kurt interessante Freunde. Da waren Paul und Griet. Die beiden umgab ein Geheimnis. Na ja. Geheimnis war etwas übertrieben. Denn jeder wusste Bescheid. Nur sie tappte im Dunkeln. Freunde und Arbeitskollegen ergingen sich in Andeutungen. Wenn sie versuchte nachzuhaken, fielen bedeutungsschwangere Worte, die jedoch keinen Schluss auf etwas Greifbares zuließen. Da war irgendetwas mit einem Druiden. Kacke. Jetzt fing sie auch schon an. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag in dieser Gegend, als sie das Dorf besuchte, aus dem sie stammte. In der Heide lief ein Polizeieinsatz, über den sie bisher keine Einzelheiten erfuhr.
Und Kurts Ururgroßvater. Bisher erschienen ihr Menschen jenseits der siebzig uralt. Fast einhundert war Nöll und fit wie ein Turnschuh. Dazu noch ehemaliger Kollege aus einem anderen Jahrtausend.
Hinzu kam die eigene Vergangenheit, an die sie keine Erinnerung besaß. Lediglich ein beklemmendes Gefühl, das alles und nichts bedeuten konnte. Sie fand noch keine Zeit, ihre Eltern zu befragen.
Claudia knipste die Gedanken ab. Schluss. Die Vernehmungen warteten.
*
»Frau Krause? Heute muss ich Sie zu dem Ermordeten befragen. Herr Wegner bekam Schwierigkeiten, als er im Reinigungsbereich beschäftigt war. Ihre Kolleginnen und Kollegen haben uns einiges erzählt. Was wissen Sie darüber?« Claudia begann die Anhörung geschäftsmäßig.
»Nichts Genaues. Ich hörte vor einigen Jahren davon. Unregelmäßigkeiten mit Fremdfirmen. Reinigungsfirmen. Eine Angelegenheit, die unter den Tisch gekehrt wurde. Niemand sprach offen darüber«, sagte Krause vorsichtig. Der Dezernentin schien durchaus bewusst, dass die heutige Zusammenkunft einen anderen Charakter hatte, als die bisherigen. Sie gab sich zurückhaltend und vorsichtig.
»Vorteilsnahme?«, fragte Claudia. Sie wunderte sich über die Parallelität ihrer Gedanken von vorhin zum jetzigen Gespräch. Offene Geheimnisse.
»Vermutlich.«
»Vermutlich? Wurde nicht nachgehakt? In der Regel wird so etwas verfolgt«, stellte Claudia gespannt fest.
»Kosten«, antwortete Krause. »Es geht immer um Kosten. Die Personalkosten müssen gesenkt werden. Ein scharfer Hund an der richtigen Stelle schafft Voraussetzungen, die ansonsten nie entstehen. Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob er oder sie etwas in die eigene Tasche steckt. Kleinkram zu den Summen, die im Raum stehen. Hinzu kommen Verflechtungen der Leitungsfunktionen mit den Handelnden. Manche sind seit Jahren bekannt, trainierten im selben Sportverein und – ich sage es, wie ich es denke – legten dieselben Frauen flach. Ehrlich gesagt … es ist zum Kotzen. Jeder weiß zu viel vom anderen, als, dass dienstliche Angelegenheiten von Privatem getrennt werden könnten.«
»Sie wollen damit sagen, in der Klinik herrscht Klüngelwirtschaft?«
»Klüngelwirtschaft ist ein harmloser Ausdruck. Es ist Filz, absoluter Filz«, sie schüttelte angewidert den Kopf. »Die saufen sich jeden Freitag den Kopf zu. Vom Dezernenten bis zum Sachbearbeiter. Bei diesen Gelagen werden Sauereien ausgeheckt, von denen sie nicht glauben, dass es sie gibt. Männerfreundschaften, wenn Sie wissen, was ich meine?«
»Solche Gepflogenheiten sind mir bekannt. Weshalb geben Sie mir diese Informationen freiwillig? Es gehört doch sicherlich nicht zu ihren normalen Gewohnheiten, Ihre Einrichtung schlecht zu machen?« Claudia sah skeptisch und fragend drein.
»Meine Einrichtung schlecht machen? Nein. Die Masse der Beschäftigten ist in Ordnung. Diese Feudalherren an der Spitze, von denen ich vorhin sprach, sind es, die selbstherrlich schalten und walten. Die Mittelschicht ist, aufgrund der Abhängigkeiten, auch nicht zu verachten. Was glauben Sie, welch einen Adrenalinschub, die erhalten, die an diesen elitären Saufgelagen teilnehmen dürfen. Die haben die Hosen nass vor Begeisterung. Hinzu kommt, ein Job im öffentlichen Dienst, ist nicht so einfach zu bekommen. Niemand sieht ihnen auf die Finger. Keiner kann sich diesem Karussell entziehen. Dabei wäre es so nötig. Hier muss einmal mit einem eisernen Besen gekehrt werden. Das wäre zum Besten des Betriebes. Außerdem habe ich ein persönliches Interesse, über das ich im Moment noch nicht reden möchte.«
»Die Unregelmäßigkeiten in der Reinigung, die Sie vorhin ansprachen …«, sie überging die letzte Bemerkung. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand darüber einen Vorteil nehmen kann. Da geht es doch um Kleckerlöhne. Ich höre immer so etwas von vier bis sechs Euro die Stunde. Übersehe ich etwas? Wie geht das vor sich?« Sie erwartete gespannt die Antwort.
»Sie übersehen wirklich etwas. Für Außenstehende, selbst für Insider sind die herrschenden mafiosen Strukturen kaum durchschaubar. Die Beschäftigten der Reinigungsfirmen verdienen tatsächlich nicht viel. Sie sind Mittel zum Zweck und werden ausgebeutet. Wir haben eine hauseigene Reinigung, die Tariflohn erhält. Darin sind enthalten, Kranken- und Urlaubszeiten sowohl wie alles andere, was damit zusammenhängt. Die Kosten gehen voll in das Personalbudget und sind darüber leicht zu verifizieren. Die Personalkosten machen den Hauptteil des Gesamtbudgets aus.
Um tatsächlich zu verstehen, welche Mächte hier am Werk sind, müssen wir einige Jahre in die Vergangenheit gehen. Ich halte den Ausflug ganz kurz. Damals war das Land Betreiber unserer Einrichtung. Privatisierung war ein Unwort. Wie sie wissen, nicht nur im Gesundheitswesen. Beste Beispiele sind Bahn und Telekom. Die Politiker kürzten die finanziellen Mittel im Personalkostenbereich. Das bedeutet pauschale Stellenstreichung, und zwar in allen Bereichen. Jeder, der Personal führte, wehrte sich mit Händen und Füßen. Natürlich wollte keine Abteilung Beschäftigte abgeben. In der Hierarchie bedeutete viel qualifiziertes Personal Macht. Das schwächste Glied in dieser Ordnung war die Reinigung. Keine Ausbildung, häufige Fehlzeiten und ein unbändiger Glaube in den öffentlichen Dienst als sicherer Arbeitgeber. Pech. Glaube heißt nicht wissen. Der öffentliche Dienst war das Paradies. Gute Bezahlung und ein sicherer Arbeitsplatz.«
»Die Fakten sind mir durchaus bekannt«, unterbrach Claudia unwillig.
»Das mag sein«, fuhr Krause unbeirrt fort. »Doch wahrscheinlich lediglich die Berichte aus den Medien, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Also … weil die Privatisierung seit Jahren, wie ein Damoklesschwert über den Köpfen schwebte, wurden frei werdende Stellen befristet besetzt. Eine unaufhaltsame Spirale begann. Die befristeten Verträge wurden nicht mehr verlängert und die Reinigungsleistung wurde schlechter. Aufgrund des reduzierten Personals wurden die abzuarbeitenden Flächen für die verbleibenden Beschäftigten größer. Die Arbeit konnte schließlich nicht mehr geleistet werden. Viele Mitarbeiter flüchteten in den Krankenschein. Der Betrieb drohte zusammenzubrechen.
Jetzt kommt der Clou. In Düsseldorf standen die großen Retter parat und boten dem Land ihre Dienste an … Lobbyisten. Die Dienststellen wurden angewiesen, mit privaten Anbietern den Betrieb aufrechtzuerhalten. Die angesprochene Spirale geriet langsam in Bewegung. Die Bezahlung der Arbeitskräfte dieser Firmen blieb indiskutabel. Meist wurden sie auch nicht sozialversichert. Die Besitzer dieser Fremdfirmen erhielten viel Geld, im Grunde mehr, als die hauseigenen Mitarbeiter gekostet hätten. Die Finanzierung erfolgte aus einem anderen Titel, also nicht aus den Personalkosten. Diese jetzt neu erbrachten Leistungen wurden über Sachkosten abgerechnet. Alles Augenwischerei. Es wurde viel mehr Geld ausgegeben, doch die Personalkosten sichtbar gesenkt. Die Lobbyisten nannten und nennen den Vorgang Politik.
Damit wurden Kolleginnen und Kollegen an den Schaltstellen im Haus wichtig und hofiert. Die Fremdfirmen versüßten die Angebote durch die ein oder andere persönliche Zuwendung an Mitarbeiter.«
»Auf Deutsch: Schmiergeld?«
»Richtig. Doch wie sollte man das beweisen. Wegner war jemand von denen, die im Verdacht standen, bei der Fremdvergabe von Aufträgen, nicht mit der nötigen Objektivität zu handeln. Der Verdacht verdichtete sich, als er plötzlich die Hände auch in anderen Bereichen drin hatte. Technik, Personalkantine, Küche, Wäscherei und …«
»Da musste man ihn doch packen können.« Der Bericht fesselte Claudia wider Willen.
»Mitnichten«, erzählte die Dezernentin weiter. »Die weiteren Bereiche, die zur Privatisierung anstanden, verteidigten ihr Revier. Sie können sich nicht vorstellen, was hier los war. Der Druck wurde für Wegner zu groß. Er geriet in Schieflage. Irgendwann reichte der Verdacht aus, eine disziplinarische Maßnahme einzuleiten. Im öffentlichen Dienst nicht so einfach. Zur damaligen Zeit war der Personalrat mächtig … heute Gott sei Dank nicht mehr. Dieses Gremium bekämpfte zwar die Auswüchse der Privatisierung, ohne letztendlich zu wissen, gegen was sie angingen. Sie ließen es jedoch nicht zu, dass das Einzelschicksal eines Kollegen für die Auswüchse ausschlaggebend sein sollte. Eine Politik, in der die Augen verschlossen wurden. Anstatt sich für die Gesamtheit der Mitarbeiter einzusetzen, wurde Klientelpolitik betrieben sowie Tür und Tor für Machtmissbrauch geöffnet. Sie kannten es aber auch nicht anders und die Verwaltung förderte dieses System. Viele kleine Scharmützel vernebelten den Blick auf das Große.
Wegner wurde weggelobt. Dazu gab es eine gute Beurteilung. Eine an und für sich gängige Praxis in unserem Haus.«
»Sie hegen den Verdacht, dass der Tod Wegners damit zusammenhängt?«, fragte Claudia.
»Nein«, erwiderte Krause ruhig. »Ich wollte Ihnen lediglich vermitteln, wie vielschichtig die Gründe sein könnten. Außerdem besaß er einen regen Sexualtrieb. Immer wieder kam es zu irgendwelchen Schwierigkeiten mit, vor allem, jungen Kolleginnen. Sie müssen wissen, die Dezernenten haben eine regelmäßige Gesprächsrunde, um das tägliche Geschäft zu regeln. Die männlichen Kollegen ließen sich häufig und derb, aber auch mit Bewunderung, über ihn aus. Da machen sie als Frau nichts. Vor allem ich nicht.«
»Vor seinem Tod arbeitete Wegner im Materialcenter?«, fragte Claudia.
»Ja. Ob dort etwas vorlag, weiß ich nicht.«
»Und Sie? Wie standen Sie zu Wegner?«, wollte Claudia wissen.
»Ich?«, sie lachte auf. »Wie ich schon sagte, ich kannte ihn nicht gut. Mich konnte er nicht einordnen. Ich war ihm unheimlich, denn meine Passion sind Frauen und ich mag solche Arschlöcher nicht.«
Claudia grinste. Sie hatte ein genaues Bild vor Augen, wie ein solcher Macho an eine Lesbe geriet.
*
»Mensch. Ist das ein beschissener Laden«, fluchte Heinz im Kleinen Konferenzraum und fuchtelte mit den Händen. »Keiner weiß etwas oder hat jemals mit Wegner zusammengearbeitet. Die kommen vor Angst um und verweisen an die jeweils nächsthöheren Vorgesetzten.«
»Das ist doch klar«, sagte Maria, die Schultern zuckend. »Arbeitsplatzangst. Du weißt selbst, was auf dem Arbeitsmarkt los ist.«
»Was soll groß passieren. Wir stellen Fragen und sie beantworten diese. Außerdem sind wir im öffentlichen Dienst, da kann doch nichts passieren.«
»Bist du heute nur verbohrt?«, fragte Maria leicht genervt. »Du quatschst die ganzen Klischees nach. Sonst bist du es immer, der diese Verallgemeinerungen anprangert.«
»Hört auf, ihr beiden. Hier herrschen eigene Gesetze.« Claudia stoppte die keimende Auseinandersetzung. Das Wetter forderte den Tribut sowie der ständige Wechsel aus dem klimatisierten Bereich, in die feuchtwarme Hitze draußen. »Wie in einer alten Ritterburg. Eine eigene kleine Stadt. Na ja. … so klein ist sie auch nicht. An Spitzenzeiten sind mehr als zehntausend Menschen hier drin. Schon gewaltig. Ist euch schon einmal aufgefallen, dass, wenn ihr dieses Haus betretet, in eine andere Welt geratet. Dieser Stahl im Eingang, die silberne Farbe der Wände und der grüne Teppich. Dazu die unverkleideten Versorgungsrohre. Ich finde das surreal. Doch zurück … hier ist nichts sicher. Das Land hat kein Geld und …«
»Mich interessiert im Moment mehr die Aufklärung unseres Falles«, unterbrach Heinz, der irgendwelche Hummeln im Hintern hatte. »Den ganzen Tag sitzen wir hier fest, immer schön zweiundzwanzig Grad durch die Klimaanlage und draußen scheinen tausend Sonnen. Nicht mein Fall. Hier werde ich trübsinnig.«
»Hör auf zu meckern«, meinte Maria. »Du treibst dich oben auf dem Dach herum und hast richtig Farbe bekommen.« Sie betrachtete sein Gesicht. »Hast du eigentlich noch mit unserem Fall zu tun und etwas herausbekommen?«
»Sicherlich.« Er streckte die Zunge heraus. »Ich sprach mit den Bauarbeitern. Fremdfirmen, die hier eingesetzt sind und die Klimaanlage umbauen. Die haben nichts bemerkt. Es komme vor, dass jemand von unten auf das Dach kommt, um die Aussicht zu genießen. Oder heimlich ein Sonnenbad zu nehmen.«
»Das können dann aber nur Beschäftigte mit Berechtigung sein«, bemerkte Claudia. »Ich habe mir sagen lassen, dass das Dach grundsätzlich gesperrt ist, um solche Situationen auszuschließen, wie wir sie jetzt ermitteln.«
»Wie Berechtigung?«, fragte Heinz. »Davon hat mir bisher niemand etwas gesagt.«
»Ja. So eine Art elektronischer Schlüssel, der ein Signal sendet oder so ähnlich. Man hält ihn vor ein Empfangsgerät und schon: Sesam öffne dich«, sie breitete die Arme aus.
»Werden die Bewegungen aufgezeichnet?«, fragte Heinz.
»Davon gehe ich aus«, sagte Claudia.
»Wer ist dafür zuständig? Dieser Wild?« Er griff schon zum Telefon.
»Ich muss diesen Verwaltungsdirektor bekommen oder ihn ins Präsidium einbestellen«, meinte Claudia zu Maria. »Entweder lässt der Typ sich verleugnen oder er ist tatsächlich laufend in Besprechungen. Ich bekomme ihn nicht zu packen. Du kannst ja noch einige Vernehmungen von der Liste abarbeiten.«
*
»Sie sind für das Material in der Klinik zuständig?« Maria betrachtete den massigen großen Mann mit dem Dreitagebart. Ein Mittvierziger mit kantigem Gesicht und dunklem halblangem Haar.
»Reiter. Ich bin der Leiter des Materialcenters und einer der wenigen Angestellten in dieser Funktion, die ansonsten unseren Beamten vorbehalten ist.« Er reichte ihr die Hand. Listige dunkle Augen blinzelten. Wahrscheinlich kurzsichtig, dachte sie.
»Herr Wegner war Ihr Mitarbeiter?«
»Abteilungsleiter. Mehr oder weniger Medizingeräte, aber auch die anderen Sachen.« Reiter sprach mit einem harten Akzent, den sie nicht einordnen konnte.
»Wie viel Abteilungen haben Sie?«, fragte Maria.
»Vier«, kam die knappe Antwort.
»Haben Sie auch mit dem Einkauf zu tun?«
»In gewissem Maße schon. Im Grunde jedoch nur Materialien, die durch unser kaufmännisches Controlling freigegeben wurden.« Er wurde ein wenig gesprächiger.
»Dann sind also Unregelmäßigkeiten, wie Vorteilsnahme, ausgeschlossen«, hakte Maria nach.
»Wie kommen Sie auf diese Frage?«, wollte Reiter wissen.
»Wir haben so einiges in ihrer Kollegenschaft erfahren.«
»Es ist richtig. Wir hatten den Verdacht, dass Wegner irgendwelche dubiosen Geschäfte machte. Doch nichts Konkretes. Nichts, wo wir hätten anpacken können.«
»In welche Richtung ging der Verdacht«, fragte Maria.
»Wie schon gesagt, es lohnt nicht, darüber zu sprechen. Auch wenn wir Vorgaben haben, welche Artikel gekauft werden müssen, besitzen wir Spielraum, wo wir bestellen. Das ist hier mal ein zehntel Cent und dort auch einmal etwas mehr. Bei den Massen, zum Beispiel Einmalartikel, summieren sich die Summen hinter dem Komma und am Ende des Jahres stehen dann Tausende von Euros.«
»Wie kommen die auf das Konto eines Beschäftigten, der es darauf anlegt?« Maria interessierte die Antwort, weil sie keine Ahnung hatte, wie das funktionierte.
»Einfach ist es nicht. Wie überall im Leben gehören immer zwei dazu. Wir stehen zwischen den Stühlen.« Ritter enttäuschte sie. »Unsere Lieferanten liefern sich einen harten Konkurrenzkampf und benutzen unser Personal zum Verkauf ihrer Produkte. Der Einkauf ist relativ frei in den Entscheidungen. Mehrfach im Jahr fragen Firmen nach, weshalb sie bei Bestellungen keine Berücksichtigung finden. In diesem Kreislauf erfolgen Unterstellungen gegenüber unseren Beschäftigten, bezüglich kleinerer Geschenke, die hier oder dort gemacht wurden.«
»Wie gehen Sie damit um?«
»An und für sich überhaupt nicht. Im Haus gibt es eine Regel, keine Geschenke anzunehmen. Schon ein Kuli ist zu viel. Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür, ob da etwas dran ist«, er kratzte unbewusst die Bartstoppeln. »Dann kommt es, ehrlich gesagt, darauf an, ob es ein gut oder schlecht gelittener Mitarbeiter ist. Bei Wegner wurden die Schuldzuweisungen häufiger und wir sahen uns genötigt, die interne Revision einzuschalten. Inwieweit dort Ergebnisse vorliegen, ist mir nicht bekannt.«
»Jetzt sagen Sie bloß, Ihre Behörde macht Untersuchungen gegen Mitarbeiter von deren Wohlverhalten abhängig?«
»Das ist doch normal. Man drückt schon einmal ein Auge zu«, verteidigte Reiter seinen Betrieb. »Ein Beispiel: Wir haben da einen Querulanten in der Technik. Eine Fremdfirma, die nicht mehr berücksichtigt wurde, unterstellte ihm Vorteilsnahme bei der Vergabe mehrerer Aufträge. Auf Deutsch: Schmiergeldzahlung. Auf Verdacht wurde die Angelegenheit durch sämtliche Instanzen gezogen und ging aus wie das Hornberger Schießen. In einem vergleichbaren Fall ging es um einen Beamten im mittleren Dienst. Er wurde auf einen Lehrgang geschickt, der zum Aufstieg in den gehobenen Dienst befähigte. Die Beamtenriege, zu der ich nicht gehöre, hält zusammen. Das geht bis in den Personalrat, der von Beamten dominiert wird. Auch, wenn sich dort geduzt wird, bleibt das Status- und Berufsgruppendenken aktuell«, er überlegte kurz und machte eine letzte Bemerkung, die ihm sichtlich schwerfiel. »Ein wenig Gerechtigkeitssinn habe ich mir erhalten. Die Entwicklung ist nicht gut.«
»Da sind Zustände wie im alten Rom.« Und noch schlimmer, ging es Maria durch den Kopf. Sie war doch nicht in der DDR. »Ihre Frau arbeitet auch hier?«, wechselte sie das Thema.
»Was soll das denn? Was hat meine Frau mit dieser Sache zu tun?« Reiter erschrak sichtlich. Das Gesicht wurde undurchdringlich.
»Vielleicht nichts. Vielleicht doch«, entgegnete Maria gelassen.
»Sie spielen auf diese Sache an.« Reiter war der Themenwechsel sichtlich unangenehm. Die Züge wurden lebhafter und unruhig. Maria las in ihm, wie, in einem Buch.
»Welche Sache?«, kitzelte sie.
»Tun Sie nicht so.« Er fuhr Maria an und die Augen funkelten böse. »Ich habe Wegner vor einigen Monaten eine auf die Nuss gegeben, weil er die Finger nicht von meiner Frau lassen konnte.«
»Da gehören immer zwei dazu, wie sie vorhin schön sagten.«
»Hören Sie«, er fixierte sie eindringlich. »Ich habe die Angelegenheit verdrängt. Es ist noch immer kein Gras darüber gewachsen und macht mir sehr zu schaffen. Ich liebe meine Frau, trotz allem. Dass dieses Schwein vom Dach gefallen ist, bedaure ich nicht. Das sage ich Ihnen ehrlich. Doch mit seinem Tod haben weder meine Frau noch ich etwas zu tun.«
»Sie wollten ihn umbringen«, hielt ihm Maria vor.
»Von Wollen und Tun ist ein weiter Weg«, stellte er fest.
»Da gebe ich Ihnen recht.«
»Falls Sie keine Fragen mehr zu meiner Arbeit oder zu Wegner haben, betrachte ich dieses Gespräch für beendet.«
»Ja. Ist gut«, sagte Maria müde. Sie wühlte nicht gern in der Privatsphäre ihrer Gesprächspartner. Der armen Socke bescherte sie einige schlaflose Nächte.
Reiter hatte kaum den Raum verlassen, da stürmte Heinz herein.
»Dieser Wegner war vielleicht ein Monster.« Er hielt Maria mehrere Blätter mit Papieren hin. »Alles Frauen, mit denen er etwas hatte. Ich frage mich, wie der überhaupt noch arbeiten konnte. Außer der Zeit, die er dazu brauchte, musste er vollkommen saft- und kraftlos sein. Ein Emir aus Tausend und einer Nacht war nichts gegen Wegner. Ich verstehe seine Frau, die ihm den Laufpass gegeben hat.«
»Hör‹ ich da etwa Neid?«, schmunzelte sie.
»Aus dem Alter bin ich raus. Ich liebe es ruhig und gemütlich.«
»Na ja. Ich weiß nicht«, sagte sie. »Doch was ich bisher von dem gehört habe, wäre es mir auch zu viel. Was hältst du von der Sache?«
»Schwierig. Ich denke, wir werden noch einige Zeit dran sein. Heute schon der dritte Tag. Viele Motive, viele mögliche Tatverdächtige und nichts, wo wir konkret anpacken können. Die Spuren auf dem Dach bringen uns auch nicht weiter. Faktisch ein Weg, auf dem die Bauarbeiter ihre Materialien transportieren. Verunreinigungen ohne Ende. Unsere KTU schüttelt nur den Kopf. Ich verstehe es nicht und habe auch schon mit Claudia darüber gesprochen. Für mich ist aufgrund der Indizien klar, dass der Typ dort runter geworfen wurde.«
»Für mich sah es auch so aus. Doch was willst du machen? Hinzu kommt der Zeitfaktor des Sturzes. Er ist unglücklich. Kurz vor halb zehn. Eine Zeit, in der viele ihre Frühstückspause nahmen … Wusstest du eigentlich, dass das hier geduldete Arbeitszeitunterbrechung heißt. Bekloppt oder nicht. In diesem Haus ist alles anders als in der übrigen Welt. Nun ja, viele waren nicht da und die am Arbeitsplatz saßen, hatten alle Hände voll zu tun, die Telefone zu bedienen und ihre Arbeit zu erledigen.« Die Ignoranz der Beschäftigten machte sie wütend. Typisch drei Affen.
»Außer den Unregelmäßigkeiten mit den Firmen, die in das Gebäude drängen, gibt es weitere Möglichkeiten. Jede Menge der Beschäftigten haben Nebentätigkeitsgenehmigungen, bis hin zur Selbstständigkeit. Die beschäftigen sogar Kolleginnen und Kollegen in ihren Firmen.« Heinz verstand die Welt nicht mehr. »Stell dir den Interessenkonflikt vor. Mit dem richtigen Draht an der richtigen Stelle kannst du dein Firmenmaterial nach Hause liefern lassen, ohne dass jemand die Nase heranbekommt. Bei denen finden sich Gründe, jemanden vom Dach zu werfen.«
»In diese Richtung überlegte ich auch«, bestätigte Maria Heinz gedanklichen Ausflug. »Kleine Massagepraxen, ambulante Krankenpflege, Heizung und Sanitär, Elektro, Reparatur und Verkauf von Fahrrädern und so weiter. Die Liste ist endlos. Es gibt sogar einen florierenden Handel mit Kleidung und steuerfreien Zigaretten im Gebäude. Hier werden viele Süppchen gekocht.«
»Wo wir gerade bei Süppchen sind … wenn du mal ein größeres Buffet benötigst, kannst du auch hier bestellen.« Heinz lachte bitter auf. »Wir haben die falsche Dienststelle. Möglicherweise kommen wir hier in der Sicherheit unter. Der größte Clou hier war«, er lachte glucksend, »ein Meister versuchte einen Zweiradmechaniker, in einem Klimabereich zu beschäftigen. Und weißt du, weshalb …«, er sah sie auffordernd an, bis Maria mit dem Kopf schüttelte. »Der Typ ist ein aktiver Rennfahrer im Motorradsport. Die Verwaltung hatte durchgewinkt, doch der Personalrat stoppte die Einstellung. Ist doch Spitze, oder nicht?«
»Hey.« Claudia kam herein und unterbrach sie. »Habt ihr es euch gemütlich gemacht? Ich habe gerade ein Alibi überprüft, weil ich es nicht glauben wollte. Ein Kollege Wegners war zum Tatzeitpunkt beim Friseur. Und die Begründung: Die Haare wachsen während des Dienstes, also können sie auch in dieser Zeit geschnitten werden. Ich habe keine Lust mehr. Wir müssen einen Mord aufklären und nicht viele kleine Straftaten entlarven. Dazu habe ich keinen Bock.« Sie drückte über ihre Körperhaltung Mutlosigkeit aus. Dann überlegte sie kurz. »Ich hab auch nicht den Drang, den ganzen Haufen an unsere Kollegen, von, wer weiß welcher Abteilung, zu übergeben.«
»Die Presse ist auch dran«, sagte Maria. »Dabei arbeitet nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz in die eigene Tasche.«
»Darum geht es nicht«, erklärte Claudia. »Hier steckt öffentliches Geld ohne Ende. Zwar nicht mehr so viel, wie vor einigen Jahren in der Krankenversorgung … doch Wissenschaft und Forschung sahnen noch kräftig ab. Aus verlässlichen Quellen weiß ich, dass es an den anderen Kliniken unseres Landes ähnlich oder schlimmer zugeht. Hinzu kommt, dass die Halbgötter in Weiß mit dem Personal und den Materialien der öffentlichen Gelder und Krankenkassen ihre Privatliquidationen aufpäppeln.«
»Das ist doch alles Kacke«, warf Heinz mürrisch ein. »Wir haben einen Mord aufzuklären und nicht die gesellschaftspolitische Situation. Darum kümmern sich die Politiker.«
»Die Politiker? Unsere?«, warf Maria bitter ein. »Dass ich nicht lache. Überleg‹ mal, wir haben den gleichen Arbeitgeber. Nur das Ministerium hat einen anderen Namen. Bei uns läuft es nicht anders. Das Personal läuft auf dem Zahnfleisch, weil kein Geld für Personalkosten da ist und die Zulieferer und Hersteller verkaufen ihre Klamotten für überteuerte Unsummen. Manchmal mehr als hundert Prozent teurer. Und weshalb? Weil das Land Verträge vorschreibt. Wie Heinz schon sagte: alles Scheiße.
»Du machst dir ja Gedanken«, lachte Heinz. »Willst du nicht auch in die Gewerkschaft eintreten?«
»Kurt wird morgen entlassen«, wechselte Claudia das Thema. »Im Grunde befinde ich mich noch im Urlaub. Ich tue mich einige Stunden raus.«
»Es sei dir gegönnt«, stimmte Heinz zu. »Wird auch Zeit. Dann haben wir Ruhe. Solange dein Typ hier ist, habe ich ein ungutes Gefühl und werde nervös. Ein Toter langt mir.«
»An und für sich müsste ich noch die Gerichtsakten unseres letzten Falles mit dem Staatsanwalt aufarbeiten. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Doch im Grunde könnte er auch allein damit klarkommen. Ich warte mal ab. Wie gesagt, ich tue mich einige Zeit raus«, stellte Claudia abschließend fest.
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