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Editorial zur Neuausgabe

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Dieses Buch ist vor dreißig Jahren geschrieben worden. Es ist dennoch nicht veraltet, weder in methodischer Hinsicht noch im Hinblick auf seine Fragestellung und die ihr zugrunde gelegten Hypothesen. Andererseits könnte dieses Buch heute nicht mehr so geschrieben werden, wie es vorliegt, da die meisten Zeitzeugen, die in den 1980er Jahren noch zur Verfügung standen und bei gezielten Nachfragen über ein insgesamt gutes Erinnerungsvermögen verfügten, nicht mehr am Leben sind. Die vier Jahrzehnte, die zwischen den beschriebenen Ereignissen in Friedberg und der Wetterau sowie ihrer damaligen Rekonstruktion und Darstellung lagen, waren der optimale Abstand: hinreichend, um die erforderliche Distanz zu haben, und nahe genug, um auf das Erinnerungsvermögen der Augenzeugen sowie einiger am Gang der Ereignisse aktiv Beteiligten zurückgreifen zu können.

Die frühen 1980er Jahre waren eine Hochzeit der oral history, der Wertschätzung mündlicher Erinnerung. Die Rekonstruktion der Kampfhandlungen in und um Friedberg, eines ersten gescheiterten Übergabeversuchs und der schließlich erfolgten Kapitulation war freilich nicht allein auf nachträgliche Befragungen und Interviews angewiesen, sondern es existierten Aufzeichnungen, die schon bald nach den fraglichen Ereignissen angefertigt worden waren. Dokumente und spätere Erinnerung konnten sich dadurch wechselseitig ergänzen und korrigieren. Zugleich war während der 1980er Jahre ein Interesse an der Lokalgeschichte entstanden, in der das große Geschehen durch das Brennglas kleiner, für den Ausgang des Gesamtgeschehens unbedeutender Orte betrachtet und beschrieben wurde. Was hier sichtbar wurde, war nicht die dämonische Faszination des NS-Regimes mit seinen nächtlichen Fackelzügen, seinen großen Aufmärschen und glänzenden Paraden, etwa in München, Nürnberg und Berlin, die wenige Jahre später in den späteren Fernsehdokumentationen das Bild des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland prägen sollten, sondern die kleinstädtische Banalität dieses Regimes, der die große Kulisse abging und in der darum viele Gesten und Reden grotesk und lächerlich erscheinen.

Freilich es gab auch in Friedberg, etwa in der Mitte zwischen Frankfurt und Gießen gelegen, fanatische Nazis, vor allem aber viele, die mitliefen und mittaten, so lange das für sie opportun war und sie sich auf der stärkeren Seite wähnten. In der Zeitspanne zwischen Anfang Januar und Ende März 1945, als die Stadt dann von US-Truppen eingenommen wurde, änderte sich dies, und Risse im Gefüge der Macht wurden sichtbar, bevor das ganze Gebäude schließlich in sich zusammenbrach. Diesen inneren Auflösungsprozess vor dem Zusammensturz wollte ich analysieren und beschreiben, und darauf bezieht sich auch der Buchtitel Machtzerfall. Dieser Prozess des Machtzerfalls zog sich über mehrere Monate hin; er begann mit den Selbstzweifeln der Offiziere in der Garnison, ob sie wirklich eine entschlossene Verteidigung der Stadt organisieren oder sich vielleicht doch auf eine schnelle Kapitulation vorbereiten sollten, und ging bis zur Zivilbevölkerung, die zunächst keine aktive Rolle im Geschehen spielte, sich offenbar aber von der Vorstellung eines Kampfes bis zum Untergang verabschiedet hatte, wie sich dann nicht nur im Heraushängen von Bettlaken als »weißen Fahnen« zeigte, sondern vor allem auch in der Plünderung des Proviantamts, eines staatlichen Lagers für Lebensmittel.

Beides, weiße Fahnen wie Plünderungen staatlicher Bestände durch die deutsche Bevölkerung, war im Westen, wo man es mit den Amerikanern zu tun hatte, eigentlich nichts Besonderes: Fast überall wurden weiße Fahnen gehisst und Vorräte geplündert, um sich auf »die Zeit danach« vorzubereiten. Melvin J. Laski, der im frühen April 1945 als Historiker der US-Armee nach Deutschland kam und sich über einige Woche im südhessischen Raum aufhielt, hat das in seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen (Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, Berlin 2014) eingehend beschrieben. Auch James Stern, der sich im Frühjahr und Sommer 1945 in Bad Nauheim, Darmstadt und Frankfurt aufgehalten hat, weiß ähnliches zu berichten (Die unsichtbaren Trümmer. Eine Reise im besetzten Deutschland, Frankfurt am Main 2004). Im hiesigen Fall ist es darüber hinaus möglich, den Zerfall der inneren Bindung an das Regime, die Erosion des Glaubens an Hitler, in allmählichem Fortschreiten zu beobachten und die Plünderung des Proviantamts als einen gleichsam kathartischen Vorgang zu beschreiben: in ihm löste sich mit einem Schlag die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« auf und verwandelte sich zurück in eine Menge von ihrem Eigeninteresse verpflichteten Einzelpersonen. So steht im Zentrum des Buches die These von der für einen kurzen Augenblick ausgelebten Anomie als psychologischem Wendepunkt in der inneren Einstellung vieler Menschen: Durch die Plünderung öffentlicher Vorräte wurden aus Personen, die den Zerfall des Regimes zu ertragen und hinzunehmen hatten, solche, die diesen Zerfall aktiv vorantrieben und ihn – freilich nur im kleinen und als solchen auch nicht beabsichtigt – vorantrieben.

Während es in Friedberg nach einigen Kampfhandlungen zur raschen Kapitulation kam, durchzogen abziehende SS-Verbände Wetterau und Vogelsberg und machten Jagd auf Personen, die sie der Desertation beschuldigten, oder ermordeten diejenigen, die nach offizieller Lesart des Regimes als »fremdrassig« galten. Michael Keller hat die am 26. März 1945 erfolgte Ermordung von 87 Personen, Gestapo-Häftlingen sowie einer größeren Gruppe russischer Fremdarbeiterinnen, in Hirzenhain, etwa dreißig Kilometer von Friedberg entfernt, detailliert rekonstruiert (»Die Sache mit den Russenweibern ist erledigt«, Friedberg 2000). Solche Einheiten waren während des Rückzugs der Wehrmachtsverbände überall unterwegs, und die beiden Kampfkommandanten Friedbergs, die eine schnelle Kapitulation der zur »Ortsverteidigung« vorgesehenen Stadt erwogen, wenn nicht gar planten, mussten jederzeit mit dem Eingreifen solcher Einheiten rechnen. Bei der Beurteilung ihres Handelns, das aus heutiger Sicht manchem als eher zögerlich und unentschlossen erscheinen mag, ist dies in Rechnung zu stellen. Was sich im Rückblick als das Naheliegende, ja Selbstverständliche ausnimmt, war es damals keineswegs, sondern die handelnden Personen mussten sich zu einem solchen Entschluss buchstäblich »durchringen«. Es war und ist ein Anliegen dieses Buches, diesen Prozess der Entscheidung und Entschlussfassung nachvollziehbar zu machen. Dass das Buch Machtzerfall dreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen nun in einer neuen Auflage der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung erneut erscheint, ist für mich eine Freude und Ehre zugleich.

Berlin, November 2014 Herfried Münkler

Machtzerfall

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