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Vorwort zur Neuauflage
ОглавлениеAls ich Anfang der 1980er Jahre damit begann, das Kriegsende in meiner Heimatstadt Friedberg zu erforschen, war noch umstritten, ob das Ende des Zweiten Weltkriegs für die Deutschen vor allem eine Niederlage oder doch eher die Befreiung gewesen sei. Zwar hatte das sogenannte Wirtschaftswunder die meisten, mit denen ich damals Interviews über die Ereignisse des Jahres 1945 führte, zu einer prinzipiellen Anerkennung der Nachkriegsordnung gebracht, doch diese Anerkennung bestand gelegentlich nur aus einem dünnen Firnis, der sich seit Ende der 1950er Jahre gebildet hatte, als der Lebensstandard in Deutschland den der Vorkriegszeit und noch der ersten Kriegsjahre zu übertreffen begann. Der Rückblick auf die Ereignisse im Winter und Frühjahr 1945 war bei vielen der befragten Zeitzeugen noch von der Erinnerung an getötete Angehörige geprägt, und wenn es sich bei diesen um Kinder handelte, die bei amerikanischen Bombenangriffen auf Friedberg getötet worden waren, so war für die Betroffenen nichts ferner liegend als die Vorstellung einer Befreiung. Das hat sich mit dem Generationenwechsel, der seitdem stattgefunden hat, grundlegend geändert. Während des Vierteljahrhunderts, das seit Beginn meiner damaligen Recherchen vergangen ist, hat die Bezeichnung des Kriegsendes als Befreiung weithin Akzeptanz gefunden.
Für die offizielle politische Kultur der Bundesrepublik hat die große Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 eine tiefgreifende Veränderung bewirkt: In ihrem Gefolge wurde die Niederlage als Befreiung anerkannt, und damit kam es zu einer Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland, mit der auch deren Status als politisches Provisorium im Bewußtsein der Mehrheit ihrer Bürger schwand. Die Formel der politischen Selbstanerkennung, die auch über den Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 hinweg für das vereinigte Deutschland Bedeutung behielt, lautet: Weil die Deutschen sich nicht selbst zu befreien vermocht hatten, mußten sie von anderen befreit werden, und das ging nur auf dem Weg über die militärische Niederlage. Das ist eine geschichtspolitische Konstruktion, die den Gang der deutschen Geschichte retrospektiv in eine Ordnung bringt, mit der es sich individuell wie kollektiv leben läßt, auch wenn klar ist, daß die Alliierten den Krieg nicht geführt haben, um die Deutschen von ihrem »Führer« zu befreien, ja, daß sie diesen Krieg nicht einmal geführt haben, um die Opfer der Deutschen zu befreien. Die Befreiung der Deutschen und der von ihnen Unterjochten war ein nichtintendierter Nebeneffekt des Kriegsausgangs, der um so stärker ins Zentrum der geschichtspolitisch angeleiteten Erinnerung trat, je länger das Kriegsende zurücklag. Auf diese Weise wurden individuelles wie kollektives Ressentiment allmählich getilgt. In den zwanzig Jahren, die seit der Erstveröffentlichung des Machtzerfalls inzwischen vergangen sind, ist der Zweite Weltkrieg endgültig Geschichte geworden.
Wie wichtig und zugleich schwierig die Überwindung von aus Niederlagen erwachsenen Ressentiments ist, zeigt der vergleichende Blick auf Ereignisse unserer Tage: Die politische Führung der USA hatte gehofft, einen politischen Regimewechsel im Irak in ähnlicher Weise militärisch erzwingen zu können, wie ihr dies im Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Japan gelungen war. Und sie glaubte, allen Grund zu dieser Annahme zu haben, war doch von vornherein klar, daß dies infolge der waffentechnischen Entwicklungen inzwischen mit viel weniger Opfern geschehen würde – sowohl an eigenen Soldaten als auch auf seiten der zu befreienden Zivilbevölkerung. Diese amerikanischen Erwartungen haben sich jedoch sehr schnell als Illusion erwiesen. Die Gründe dafür müssen hier nicht geklärt werden, aber gerade die vielfache Apostrophierung der Befreiung Deutschlands und Japans als Modell für die Befreiung des Iraks hat die Ereignisse im Winter und Frühjahr 1945 in einer Weise politisch aktuell werden lassen, wie man es sich vordem kaum hätte vorstellen können.
Tatsächlich gab es, wie auch die Lektüre dieses Buches deutlich macht, zunächst eine bemerkenswerte Reihe von Analogien und Übereinstimmungen. Ohne daß damit Hitler und Saddam gleichgesetzt werden sollen, beginnen diese Ähnlichkeiten damit, daß die vor der Niederlage Stehenden ein nach innen wie außen grausames, ohne jeden Zweifel verbrecherisches Regime getragen haben, das seine Nachbarn zuvor mit Krieg überzogen und gegen Teile der eigenen Bevölkerung ein brutales Gewaltregime errichtet hatte. Und sie reichen bis zu den Plünderungen, die in Deutschland wie im Irak im Augenblick des Machtzerfalls der alten Ordnung stattgefunden haben. Aber damit enden sie dann auch: Während nämlich die Plünderungen in Deutschland, wie hier ausführlich beschrieben wird, eine innere Verabschiedung der Beteiligten von der alten Ordnung, ein Dementi von Ehre und Opferbereitschaft und der Beginn einer neuen Sorge um sich selbst waren, haben nach allem, was wir darüber wissen, die Plünderungen im Irak dazu gedient, einem Teil der korrupten Elite des alten Regimes die materiellen Ressourcen zu verschaffen, die ihm auch nach dem Machtverlust ermöglichen sollten, das gewohnt aufwendige Leben weiterzuführen. Vergleichbares hat es im übrigen auch in Deutschland gegeben, nur daß hier die Funktionäre und Amtsträger des alten Regimes in aller Stille versucht haben, ihren zu nicht unerheblichen Teilen zusammengeraubten Besitz in Sicherheit zu bringen. Es waren also zweierlei Typen von Plünderung, die in Deutschland und im Irak nach dem Zusammenbruch des alten Regimes stattfanden, und deswegen war es auch ein Fehler der politischen und militärischen Führung der USA, im Irak ähnlich zu reagieren, wie sie dies in Deutschland im Frühjahr 1945 getan hatte: Während es in Deutschland sinnvoll gewesen war, die Plünderungen für einige Zeit hinzunehmen und nicht dagegen einzuschreiten, war dies im Irak ein verheerender politischer Fehler.
Der erste große Unterschied zwischen dem von den USA analogisierten Kriegsende in Deutschland und im Irak war jedoch der erstaunliche Fortbestand der administrativen Infrastruktur in Deutschland, während sich im Irak die alte Verwaltung innerhalb kürzester Zeit auflöste. Der amerikanische Stadtkommandant in Friedberg etwa hatte sein Amt gerade angetreten, als sich die Leiter der deutschen Behörden, vom Finanzamt bis zum Wasserwirtschaftsamt, bei ihm meldeten, um zu erfragen, ob und wie sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen sollten. Und selbst die deutsche Polizei versah wenige Tage nach Übergabe der Stadt wieder ihren Dienst – wenn zunächst auch ohne Schußwaffen. Der ordnungslose Zustand hatte nur wenige Tage, eigentlich nur ein paar Stunden gedauert. All dies war im Irak völlig anders.
Bevor daraus jedoch falsche Schlußfolgerungen hinsichtlich eines geordneten und nach den Regeln zivilisierter Kriegführung erfolgenden Kriegsendes in Deutschland im März und April 1945 gezogen werden, ist es erforderlich, den Blick auf Vorgänge zu werfen, die sich nahezu zeitgleich mit der weitgehend kampflosen Übergabe der Kreisstadt Friedberg in dem etwa dreißig Kilometer entfernten Städtchen Hirzenhain vollzogen: Hier verübte ein SS-Kommando einen Massenmord an vorwiegend osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen, die sich dort in Gestapo-Haft befanden. In der Nacht vom 25. auf den 26. März wurden 81 Frauen und 6 Männer erschossen und in einem Massengrab verscharrt, das sie tags zuvor selbst ausgehoben hatten. Michael Keller hat die Vor- und Nachgeschichte dieses Massenmords in seinem Buch »Das mit den Russenweibern ist erledigt« (Friedberg/ Hessen 2000) minutiös aufgearbeitet. Erst wenn man die Ereignisse während der letzten Märztage 1945 in Friedberg und in Hirzenhain zusammennimmt, bekommt man ein umfassendes Bild vom Kriegsende in der Gegend zwischen Taunus und Vogelsberg nördlich von Frankfurt am Main.
Auch in Friedberg hat es überzeugte Nazis und fanatische Durchhaltekämpfer gegeben, nur daß sie hier nicht zum Zuge kamen. Das freilich hat mehrfach auf Messers Schneide gestanden. Ich habe, als ich vor zwanzig Jahren diese Vorgänge geschildert habe, versucht, das Exemplarische der Ereignisse deutlich werden zu lassen. An vielen Orten dürfte sich im Frühjahr 1945 ähnliches zugetragen haben, und man wird davon ausgehen können, daß nicht nur die Entscheidungsabläufe, sondern auch die Abwägungsprozesse in den Köpfen der Beteiligten ähnlich abgelaufen sind. Das war es auch, was mich beim Zusammentragen des Materials und schließlich bei der Niederschrift des Buches weit über das Interesse an einem Stück Geschichte meiner Heimatstadt hinaus beschäftigt hat: das Exemplarische der Vorgänge, bei denen, gleichsam wie in der Dramaturgie eines Schauspiels, unterschiedliche Charaktere in verschiedenen Rollen auftreten, Entscheidungen treffen oder in Nichtentscheidungen verharren und sich im nachhinein bemühen, die Folgen ihres Tuns und Unterlassens vor sich und anderen zu rechtfertigen.
Bei alledem hat die in den 1970er/80er Jahren dann so wichtig gewordene Frage, ob es sich um Niederlage oder Befreiung gehandelt habe, keine Rolle gespielt. Ich habe darum als Bezeichnung für das Rekonstruierte den Begriff »Machtzerfall« gewählt. Machtzerfall bleibt gegenüber den geschichtspolitisch eindeutigen Begriffen von Niederlage oder Befreiung in der Schwebe. Aber das genau war es, was ich aus dem Puzzle der unterschiedlichen Quellen rekonstruieren konnte: einen sich mit großer Geschwindigkeit vollziehenden Verfall nicht bloß der äußeren Machtstrukturen, sondern auch der inneren Bindung an diese Macht. Manche, die wenige Tage zuvor noch bereit gewesen waren, für den »Führer«, für Deutschland oder für das, was sie als ihre Aufgabe oder Ehre erachteten, zu sterben, wollten nun nichts als leben. Die Voraussetzung dafür aber war das Überleben jenes Augenblicks, in dem die Front das zur Ortsverteidigung vorgesehene Städtchen erreichte und sich entschied, ob es zur kampflosen Übergabe kam oder ob sich Kampfhandlungen entwickelten, die einen massiven amerikanischen Luftangriff zur Folge gehabt hätten. Die Stunden, in denen sich dies entschied, stehen im Mittelpunkt des Buches.
Nach Veröffentlichung des Buches im März 1985 haben sich einige Zeitzeugen bei mir gemeldet und ihren von mir nicht hinreichend gewürdigten Anteil am letztlich glimpflichen Ausgang der Ereignisse herauszustellen versucht. Darunter waren manche, die ich im Verlaufe meiner Recherchen angeschrieben und von denen ich zunächst keine Antwort erhalten hatte. Zeitweilig reproduzierten sich in der Recherche Konstellationen, wie sie auch während der zu recherchierenden Ereignisse vorgeherrscht hatten. Bei der Beantwortung meiner Fragen konnte ich drei Gruppen ausmachen: diejenigen, die mir antworteten und weiterführende Hinweise gaben; diejenigen, die »die ganze Fragerei« ablehnten oder doch mit Mißtrauen beobachteten und mir nach Kräften Schwierigkeiten bereiteten (bis hin zur fortgesetzten Drohung mit Strafanzeigen); und schließlich jene, die nur beobachteten, was sich da tat, und abwarteten, was als Ergebnis meiner Recherchen herauskommen und wie das Buch aufgenommen werden würde. Als dieses dann eine überaus freundliche und zustimmende Aufnahme fand, nicht nur bei den Rezensenten überregionaler Fachzeitschriften, sondern auch in Friedberg selbst, wollten die Letztgenannten natürlich dabeigewesen sein, und einige gaben mir zu verstehen, daß meine Darstellung schon darum unzutreffend sei, weil ihr eigener Anteil am Gang der Dinge darin nicht hinreichend gewürdigt worden sei.
Ich bin in den Monaten nach dem Erscheinen des Buches noch einmal allen Hinweisen und Anfragen nachgegangen, die womöglich hier und da zu einer anderen Akzentsetzung in der Darstellung hätten führen können. Dabei bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß ich auch im Wissen um die nachträglich eingegangenen Hinweise und Informationen zu demselben Ergebnis gelangt wäre. Deswegen kann das Buch nunmehr auch ohne jede inhaltliche oder formale Veränderung wieder aufgelegt werden. Bei den nach Erscheinen des Buches bei mir eingegangenen Hinweisen handelte es sich nämlich nicht um Informationen, die den äußeren Gang der Ereignisse betrafen, sondern um Einschätzungen des Handelns von Personen: Hatte Hauptmann Henrich, der erste Kampfkommandant der Stadt, tatsächlich von langer Hand eine kampflose Übergabe der Stadt vorbereitet oder hatte er bloß im nachhinein sein eher kopfloses Agieren beim Eintreffen der amerikanischen Panzerspitze als wohlbedachten Kapitulationsversuch dargestellt? Wer war an der Durchfahrt des amerikanischen Jeeps zum Gefechtsstand der deutschen Kampfkommandanten beteiligt bzw. hatte diese Fahrt ermöglicht? Und so weiter.
All dies waren Fragen, die bei der Niederschrift des Buches im Mittelpunkt meiner Überlegungen gestanden hatten. Diese Fragen ließen sich, das war mir schon bald klar geworden, nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Plausibilitätserwägungen und Einschätzungen mußten hier letztlich an die Stelle sicheren Faktenwissens treten. Ich hatte vor und während der Niederschrift diese Erwägungen und Einschätzungen mehrfach mit Zeitzeugen besprochen, Alternativen erwogen und war schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß sich die Vorgänge so, wie ich sie beschrieb, entwickelt haben mußten. Daran hat sich auch aus heutiger Sicht nichts geändert.
Was sich dagegen verändert hat, ist nicht nur die allgemeine Wahrnehmung und politische Beurteilung des Kriegsendes in Deutschland, sondern auch das verfügbare Wissen über den Verlauf des amerikanischen Vorstoßes, den Zerfall der deutschen Wehrmacht und die ersten Monate des alliierten Besatzungsregimes. Zu nennen ist zunächst das umfangreiche Buch von Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands (München 1985), das auf über tausend Seiten das Kriegsende im Westen Deutschlands untersucht. Wer sich, angeregt durch die Lektüre des Machtzerfalls, einen umfassenden Überblick verschaffen und den hier behandelten regionalen Ausschnitt in einen größeren Rahmen stellen will, sei auf diese Arbeit verwiesen. Ein noch breiteres Bild, nämlich das Europas in der Zeit von 1944 bis 1948, zeichnet der von Ulrich Herbert und Axel Schildt herausgegebene Sammelband Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948 (Essen 1998). Und schließlich ist noch der im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes von Hans-Erich Volkmann herausgegebene Band Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs (München/Zürich 1995) zu nennen. Vergleichbare Arbeiten waren Anfang der 1980er Jahre, als ich mit den Recherchen zum Kriegsende in Friedberg begann, nicht verfügbar. Insofern haben sich seitdem nicht nur die politische Einschätzung, sondern auch die wissenschaftliche Erkenntnis um das Kriegsende 1945 verändert.
Zur Wissens- und Einstellungsveränderung dürften mikrohistorische Arbeiten nicht nur den Anstoß, sondern auch entscheidende Beiträge geliefert haben. Was auf der makrohistorischen Ebene Geschichte ist, die uns gleichsam als Schicksal, also gegeben und unverfügbar, gegenübertritt, stellt sich bei der Betrachtung der Ereignisse im lokalen Rahmen gänzlich anders dar: Hier können wir das Handeln von Einzelpersonen beobachten, die Voraussetzungen und Folgen von Entscheidungen betrachten und uns vorstellen, was eingetreten wäre, wenn diese oder jene Entscheidung anders gefallen wäre. Hier werden Verantwortung und Verantwortlichkeit von in der Befehlskette relativ weit unten stehender Personen sichtbar. Das Ensemble der dramatis personae bleibt überschaubar, der Ort des Geschehens verändert sich nicht, und es gibt so etwas wie einen durchgängigen Handlungsstrang mit Anfang und Ende. Das sind, wenn man so will, die drei Einheitsforderungen der aristotelischen Dramentheorie, die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Mikrohistorische Studien unterliegen darum immer der Gefahr einer Dramatisierung des Geschehens, die eher literarische als wissenschaftliche Qualität hat. Ich bin mir bei der Niederschrift des Machtzerfalls dieser Suggestionen bewußt gewesen und habe mich von ihnen soweit wie möglich freizuhalten versucht. Ob mir dies gelungen ist, muß einmal mehr der Leser beurteilen.
Berlin, Dezember 2004 Herfried Münkler