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Ortsverteidigung

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Ende Januar 1945 begann sich die militärische Lage des Deutschen Reichs dramatisch zu verschlechtern. Erstmals seit den napoleonischen Kriegen drangen kämpfende Truppen auf deutschen Boden vor, hatten die Kämpfe, im Osten wie im Westen, auf Reichsgebiet übergegriffen. Der Krieg, den Hitler der Welt aufgezwungen hatte, kehrte zu seinem Ursprungsort zurück.

Am 22. Januar, zehn Tage nach dem Beginn der sowjetischen Großoffensive in Ostpreußen und an der Weichsel, wurde im ganzen Reich und so auch in der oberhessischen Garnison Friedberg der Alarmplan »Gneisenau« ausgelöst. Die letzten Reserven des Reichs sollten mobilisiert werden, um die ins Wanken geratene Front zu stabilisieren. Stufe 1 des Alarmplans sah vor, neue Einheiten aufzustellen und der Front zuzuführen; Stufe 2, die in Friedberg Mitte März ausgelöst wurde, befahl die Einigelung und Ortsverteidigung der Stadt. Am 7. Februar, gut zwei Wochen nach Aufruf der 1. Alarmstufe, war Hauptmann Fred Henrich zum Kampfkommandanten von Friedberg bestimmt worden. Er hatte den Befehl, die Stadt »bis zum Äußersten« zu verteidigen.

Der Alarmplan »Gneisenau« sollte nicht nur materielle Reserven freisetzen, er sollte auch einen Mythos beschwören: die gemeinsame Verteidigung Kolbergs im Jahre 1807 durch den Soldaten Gneisenau und den Bürger Nettelbeck, die Einheit von Heer und Volk in der Abwehr des äußeren Feindes. »Gneisenau«, das sollte heißen: Widerstand auch unter dem Eindruck der Niederlagen, damit zuletzt doch noch der »End-Sieg« errungen würde.

Die Einheit von Heer und Volk war die letzte Hoffnung des nationalsozialistischen Regimes. Das Volk sollte dem Heer den Rücken stärken, damit sich 1918 nicht wiederhole. Daß 1918 der »Dolchstoß« der Heimat die Deutschen um den Sieg gebracht habe, hatten in der Weimarer Republik viele geglaubt. Wenn dem so war, dann kam jetzt alles auf die Heimat an.

Mitte Januar hielten SA-Standartenführer Riecke und NS-Kreisleiter Fleischhauer in Friedberg einen »Appell des Volkssturms« ab. Dabei hat Riecke, wie die Gießener Zeitung am 26. Januar berichtete, »alle Volkssturmmänner ermahnt, nach dem leuchtenden Vorbild unserer Helden an den Fronten unermüdlich an der eigenen körperlichen und weltanschaulichen Vervollkommnung zu arbeiten«. Danach appellierte Kreisleiter Fleischhauer an die Anwesenden, »stets eingedenk zu sein, daß das deutsche Volk gerade in ernsten Stunden sich stets seiner wahren Kraft bewußt wurde«. Fleischhauer schloß den Appell mit dem Hinweis, »daß alle Männer des Deutschen Volkssturmes stahlhart ihren Dienst versehen müßten, damit den vor den Toren des Reiches stehenden Feinden zum Bewußtsein kommt, daß das ganze Deutschland entschlossen ist, sein Leben bis zum letzten Mann zu verteidigen«.

»Du Volk, steh auf, und Sturm, brich los«, hatte Josef Goebbels, Minister für Volksaufklärung und Propaganda, ausgerufen. Den Volksempfängern, Volkswagen und Volkskühlschränken, mit denen das Dritte Reich seine Popularität bei den Volksgenossen gepflegt hatte, folgte nun die Rechnung: Volksgrenadierdivision, Volksmaschinenpistole, Volkssturm. Alte und Junge, Greise und Kinder sollten ihren im Heer kämpfenden Söhnen und Vätern zu Hilfe kommen. So stellte das Regime es dar. Nach über fünf Jahren Krieg, so versprach Goebbels, werde nun die Entscheidung fallen: an der Heimatfront.

Auch in der Garnisonsstadt Friedberg wurden nun alle fronttauglichen Soldaten aus ihren Ausbildungs- und Genesendenkompanien herausgezogen. Kranke wurden gesundgeschrieben, Rüstungsreklamierte eingezogen, Rückstellungen aufgehoben. Zwei Tage nach Aufruf des Alarmplans war die »Kampfgruppe Reineck« marschbereit. Bei starkem Schneetreiben wurde sie im Friedberger Bahnhof in einen Zug verladen, der sie an die – inzwischen gar nicht mehr so ferne – Ostfront bringen sollte.


Von den Amerikanern im Herbst 1944 abgeworfenes Flugblatt.

Für die Zivilbevölkerung in Friedberg hatte die Stufe 1 des Alarmplans »Gneisenau« zunächst keine einschneidenden Auswirkungen. Betroffen waren diejenigen, die zum 1. Aufgebot des Volkssturms gehörten, das für den überörtlichen Einsatz vorgesehen war. Dies waren alle kriegsverwendungsfähigen Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924, die bislang als »unabkömmlich«, u.k., gegolten hatten, nun aber anscheinend doch »ohne Gefährdung lebenswichtiger Funktionen in Produktion und Verwaltung« aufgeboten werden konnten. Sie wurden zu einem der beiden »Volkssturmbataillone z.b.V. Hessen« einberufen. In Friedberg wurde die »Kampfgruppe Reineck« aufgestellt. »Dr. G.R. nach dem Osten in Marsch gesetzt«, notierte der Friedberger Gymnasiallehrer Ferdinand Dreher am 25. Januar in seinem Kriegstagebuch. Die meisten der an die Ostfront kommandierten Volkssturmmänner des Kreises Friedberg sind gefallen.

In Friedberg und Umgebung hatte sich seit Mitte Januar eine schwere Diphtherieepidemie ausgebreitet, und so kam zu der Angst um die eingezogenen Verwandten und Bekannten für viele noch die Sorge um die erkrankten Kinder. Dazu ständiger Luftalarm. Immer häufiger mußte man die Nächte im Keller verbringen. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln hatte sich seit dem Sommer 1944 deutlich verschlechtert. Da Medikamente allmählich knapp wurden, konnten viele nur noch unzureichend behandelt werden. Vor allem Kinder sind an der Diphtherie gestorben. Die Epidemie zog sich von Mitte Januar bis Anfang März hin. Ältere Friedberger berichten, sie hätten sich an den Herbst 1918 erinnert gefühlt, als eine schwere Grippewelle in der Stadt viele Todesopfer gefordert habe. Damals sei ja auch Krieg gewesen …

Eine im nachhinein vorgenommene Parallelisierung von 1918 und 1945? Oder haben die Betreffenden schon zu Beginn des Jahres 1945 diese Parallele gesehen, Ausdruck ihrer Opposition zu dem offiziellen Bemühen, jede derartige Gleichsetzung zu unterbinden? Und wenn sie eine Parallele gesehen haben, haben sie dann nur an die epidemische Verbreitung der Krankheit gedacht oder weiter, an die bevorstehende Niederlage Deutschlands? Waren sie gar »abergläubisch« und sahen eine Verbindung zwischen Krieg und Seuche? So viel wird man sagen können: Kaum einer in Friedberg hat das Jahr 1945 so erlebt, wie es sich später in seinem Gedächtnis festgesetzt hat: als Neubeginn. Für die meisten bedeutete dieses Jahr eine weitere Steigerung der Angst, dann den Zusammenbruch des Reichs, für das man all die Opfer gebracht hatte, und schließlich die Sorge um den Lebensunterhalt.

Friedberg liegt auf einem leicht aus der Ebene aufsteigenden Basaltrükken am Rande der Wetterau, etwa in der Mitte zwischen Gießen und Frankfurt. Zwei Faktoren haben die Geschichte der Stadt bestimmt: die verkehrsgünstige Lage und die politisch und verwaltungstechnisch herausgehobene Stellung in einer der fruchtbarsten Landschaften Deutschlands. Bereits die Römer hatten, um ihre Eroberungen in Germanien zu sichern, auf der strategisch wichtigen Erhebung ein Kastell errichtet. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde Friedberg erstmals urkundlich erwähnt, zunächst nur die Burg, wenige Jahre darauf auch die Stadt. Es dürfte eine staufische Doppelgründung gewesen sein.

Nach einer kurzen wirtschaftlichen Blüte ging es mit der Stadt Ende des 14. Jahrhunderts bergab. Formell blieb Friedberg zwar weiterhin Freie Reichsstadt, de facto aber wurde sie von der Burg beherrscht, die immer stärker in die städtischen Angelegenheiten eingriff. 1803 beziehungsweise 1806 endete die politische Selbständigkeit von Stadt und Burg; beide wurden der Landgrafschaft, dem späteren Großherzogtum Hessen, einverleibt. Friedberg wurde Kreisstadt, Verwaltungszentrum des südlichsten Kreises der Provinz Oberhessen. Am Ende der Weimarer Republik hatte der Kreis etwa 100000 Einwohner, von denen knapp ein Zehntel in der Kreisstadt wohnte.

Beamte, Handwerker, Kaufleute dominierten, und fast alle waren evangelisch; dazu kamen einige Arbeiter der im Osten der Stadt gelegenen Zuckerrübenfabrik und eine Reihe von Bahnbediensteten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war Friedberg Eisenbahnknotenpunkt an der Main-Weser-Bahn: Hier waren die Strecken von Nidda, Hungen, Hanau und Bad Homburg an die Bahnlinie Frankfurt–Kassel angeschlossen.

In der großen Wirtschaftskrise nach 1929 lag die Arbeitslosigkeit im Kreis Friedberg immer unterhalb des Reichsdurchschnitts. Die weltwirtschaftlichen Faktoren schlugen auf die mittelständische Wirtschaft nicht so stark durch wie auf die Großindustrie. Dafür gab es in der Wetterau seit Ende der Kaiserzeit einen starken Antisemitismus, der für die Parolen der NSDAP empfänglich machte. Das Klima gegenüber den jüdischen Mitbürgern war keineswegs so liberal, wie dies später gern behauptet wurde. Mehrere Faktoren spielten dabei eine Rolle: Sowohl in Friedberg selbst als auch im benachbarten Kurort Bad Nauheim bestanden größere jüdische Gemeinden mit eigenen Synagogen. Die jüdische Gemeinde in Friedberg war fast so alt wie die Stadt selbst. In beiden Städten lag der Anteil deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens klar über dem Reichsdurchschnitt. 1933 lebten in Friedberg über 300 Juden, die mehr als 50 Geschäfte und gewerbliche Unternehmungen betrieben, darunter die meisten der größeren Geschäfte. 1942 gab es in Friedberg keine Juden mehr; sie hatten entweder rechtzeitig emigrieren können, oder sie waren deportiert worden.

Seine eigentlichen Wurzeln hatte der Antisemitismus im Kreis Friedberg vor allem jedoch in den klein- und mittelbäuerlichen Familienbetrieben der Wetterau, die fast alle hoch verschuldet waren. Die Parolen gegen das »jüdische Kapital« fielen hier auf fruchtbaren Boden. Die Agitatoren kamen zumeist aus Friedberg, doch städtische Hochburg des Nationalsozialismus im Kreisgebiet war Bad Nauheim, ein Eldorado pensionierter Offiziere, wo die Nazis schon zu Beginn der dreißiger Jahre die absolute Mehrheit errungen hatten.

Am 15. November 1931, bei der Wahl zum Hessischen Landtag, war die NSDAP im Kreisgebiet zur stärksten Partei geworden und hatte die bis dahin führende SPD klar überflügelt. Die SA-Standarte 222 Friedberg-Büdingen bestand jetzt aus 800 Mitgliedern. Auch das protestantische Bürgertum in Friedberg hatte überwiegend braun gewählt. Wie überall in Deutschland hatte die NSDAP Stimmen vor allem aus dem Lager der bürgerlichen Parteien gewonnen, die fast völlig verschwanden. Außerdem war es ihr in hohem Maße gelungen, bisherige Nichtwähler zu mobilisieren. Die Dörfer im Osten von Friedberg, Schwalheim, Dorheim, Bauernheim und Ossenheim, wählten allerdings bis zuletzt »rot«, das Dorf Ockstadt im Westen wählte überwiegend das Zentrum.

Von einigen Ausnahmen abgesehen, waren die Friedberger Bürger keine fanatischen Nazis, aber sie zeigten sich empfänglich für die neuen Parolen – allen voran die Lehrerschaft und die protestantischen Pfarrer. Einer der beiden Pfarrer trat schon 1931 auf NS-Heimatabenden auf, und der andere wurde nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler schnell Parteigenosse. Noch am Abend des 30. Januar hatte der nationalsozialistische Landtagsabgeordnete des Kreises, der im Frühjahr 1933 zum hessischen Staatspräsidenten ernannte Dr. Ferdinand Werner, auf dem Landratsamt in Friedberg die Hakenkreuzfahne gehißt. Auf die Frage eines Beamten, auf wessen Weisung hin dies erfolge, antwortete er, Genehmigungen seien hier nicht mehr erforderlich. Am gleichen Abend veranstaltete die SA einen Fackelzug durch die Stadt.

Im Frühjahr 1938 wurde Friedberg wieder Garnisonsstadt: Am 17. April traf das I. Bataillon des gerade aufgestellten Infanterieregiments 36 ein und bezog die im Süden der Stadt neu gebaute Wartturmkaserne. Schon zweimal war Friedberg Garnisonsstadt gewesen, von 1803 bis 1870, dann wieder von 1913 bis 1918, als hier das III. Bataillon des Infanterieregiments 168 stationiert war – zunächst in den Gebäuden des Alten Bahnhofs und einem angemieteten Hofgut, ab Frühjahr 1914 in der neu errichteten Bergkaserne. Gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages hatte die Friedberger Garnison nach dem Ersten Weltkrieg geräumt werden müssen. Die Grenze der entmilitarisierten Zone verlief mitten durch die Stadt. Daß man jetzt keine Soldaten mehr habe, war einer der Hauptpunkte in der konservativen, nationalistischen und völkischen Agitation gegen das »Schanddiktat von Versailles«: Die Friedberger hingen an »ihren« Soldaten.

Im Frühjahr 1938 war die Garnison also wieder da. Mit klingendem Spiel zogen die vier Kompanien des I. Bataillons, die Kompanie Infanteriegeschütze und die Panzerabwehrkompanie in Friedberg ein, vornweg zu Pferd der Regimentsstab. Das II. Bataillon und das Ersatzbataillon des Regiments bezogen Quartier in Butzbach, einem kleinen Industriestädtchen etwa zwölf Kilometer nördlich. Am 1. Oktober 1937 war das Infanterieregiment in Gießen neu aufgestellt worden; andere Einheiten hatten Offiziere und Unteroffiziere als Stammannschaften abtreten müssen. Die »Stämme« des Stabs und des I. Bataillons in Friedberg kamen aus Sachsen und Oberbayern, die Rekruten aus Hessen.

Bei Kriegsbeginn wurde aus dem in Butzbach stationierten II. Bataillon und dem Ersatzbataillon des Regiments das Infanterieregiment 471 aufgestellt, während Stab und I. Bataillon in Friedberg den Stamm für das neu formierte IR 36 stellten. Während des Zweiten Weltkriegs bildete das Infanterieregiment 36 zusammen mit dem IR 116 und dem IR 57 (Siegen) die 9. Infanteriedivision, im August 1944 ist das Regiment in Rumänien nahezu aufgerieben und danach aufgelöst worden. Aus seinen Resten wurde im November 1944 in Dänemark das Grenadierregiment 36 aufgestellt. Nach den schweren Verlusten, die das Regiment im Januar 1945 an der Westfront erlitt, wurde es Anfang Februar aus dem Verband der 9. Volksgrenadier-Division herausgelöst und in den Friedensstandort Friedberg zurückverlegt. Dort sollte es zum dritten Mal neu aufgestellt werden; vorerst unterstanden die Reste des Regiments unmittelbar dem OB West, Generalfeldmarschall Kesselring.

Anfang 1945 kehrten auch die beiden Stammkompanien des Grenadier-Ersatz- und Ausbildungsbataillons 36 zurück, die nach mehreren Bombenangriffen auf Friedberg nach Hanau verlegt worden waren. Die Hessen-Homburg-Kaserne in Hanau, das zeitweilige Quartier, war bei einem schweren Bombenangriff vollkommen zerstört worden. Wegen der ständigen Luftangriffe auf Friedberg war es freilich nicht ratsam, zu viele Soldaten in der Wartturmkaserne unterzubringen, die ein ideales Ziel für amerikanische Jagdbomber war. So wurden die meisten Soldaten kompanie- oder zugweise in Privatquartiere der umliegenden Wetteraudörfer verlegt. Das galt auch für die Genesendenkompanie des Regiments und für die beiden Ausbildungskompanien. Dazu kam noch die 4. Kompanie des ungarischen Honved-Regiments 88, die etwa 130 Rekruten stark war. Die Ausbildungseinheiten lagen in Rodheim, Ober- und Nieder-Rosbach.

Per Erlaß hatte Hitler am 18. Oktober 1944 angeordnet: »Es ist in allen Gauen des Großdeutschen Reiches aus allen waffenfähigen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren der Deutsche Volkssturm zu bilden. Er wird den Heimatboden mit allen Waffen und Mitteln verteidigen, soweit sie dafür geeignet erscheinen. (…) Die Angehörigen des deutschen Volkssturmes sind während ihres Einsatzes Soldaten im Sinne des Wehrgesetzes.«

Das aus dem Gebiet des Landkreises zusammengezogene Volkssturmbataillon bestand vor allem aus den Angehörigen des 2. Volkssturmaufgebots. Das waren alle Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924, die bis zur Annäherung der gegnerischen Truppen als unabkömmlich galten. Im Unterschied zu dem 1. Aufgebot, das Ende Januar 1945 an die Ostfront kommandiert worden war, konnte das 2. Aufgebot darum nur im Kreisgebiet selbst eingesetzt werden. Hinzu kam das 3. Aufgebot, bestehend aus den Männern und Jungen der Jahrgänge 1925 bis 1928, die keinen Wehrdienst leisteten. Als am 5. März 1945 der Jahrgang 1928 zur Wehrmacht eingezogen wurde, wurde die Volkssturmpflicht auf den Jahrgang 1929 ausgedehnt: Fünfzehnjährige Hitlerjungen mußten nun zum Volkssturm antreten. Das 4. Aufgebot schließlich umfaßte alle, die zu einem bewaffneten Einsatz eigentlich nicht in der Lage waren: die Schwerbeschädigten beider Kriege. Kommandeur des Friedberger Volkssturmbataillons war Kreisstabsführer Riecke.

Die »fanatische Kampfentschlossenheit«, von der die nationalsozialistische Propaganda seit Monaten sprach, scheint nur bei wenigen Angehörigen des Friedberger Volkssturms vorhanden gewesen zu sein. Offensichtlich war eine Reihe von Schwerversehrten nicht davon begeistert, wieder in einen militärischen Verband zurückkehren zu müssen. Am 12. und 13. Februar hieß es in der Gießener Zeitung, in der nach der Einstellung der Friedberger Lokalpresse im Sommer 1943 die Nachrichten für Kreis und Stadt veröffentlicht wurden: »In den verschiedenen Gemeinden des Kreises Friedberg gibt es immer noch einige Volksgenossen, die sich nicht bei ihrer zuständigen Ortsgruppe zum Dienst im deutschen Volkssturm gemeldet haben bzw. durch die Ortsgruppen noch nicht erfaßt sind. Die Kreisstabsführung macht noch einmal darauf aufmerksam, daß auch die Volksgenossen, die schwerkriegsbeschädigt oder seitens der Wehrmacht ausgemustert sind (im Besitz des rosa Ausmusterungsscheines), sowie auch alle in die Gemeinden umquartierten oder beruflich verlagerten Volksgenossen dort meldepflichtig sind. Letzter Meldetermin ist der 15. Februar. Nichtmeldung bedeutet Schwächung der Wehrkraft der Nation und wird, wie der Kreisstabsführer hervorhebt, entsprechend bestraft.«

Kriegsbegeisterung zeigte sich, folgt man wiederum der Gießener Zeitung, bei einigen Hitlerjungen. »Tapfere Jugend des Kreises Friedberg« war am 14. März ein Artikel überschrieben, dessen Hintergrund allerdings eher makaber anmutet: Kreisstabsführer Riecke, der Kommandeur des Volkssturmbataillons, wollte eine Meldung nach Bad Nauheim übermitteln. Anstatt zu telephonieren, ließ er sie durch Melder überbringen; offensichtlich hielt er das für militärischer. Aus einem unsinnigen Befehl hat der Schriftleiter der Zeitung ein Exempel für Heldenmut konstruiert: »In einer HJ-Dienststelle. Telephonanruf: Es wird sofort ein freiwilliger Melder benötigt. Kurze Zeit später tritt bereits der Hitlerjunge Heinz Klotzeck zum Befehlsempfang an. Er ist nicht allein gekommen. Sein Kamerad Helmut Michel erbietet sich, ihn zu begleiten. Ob beide wohl ahnen, wie schwer die Ausführung des Auftrags werden wird.« – Daß SA-Sturmbannführer Riecke, um sich wichtig zu machen, die beiden durch ein Gelände schickte, in dem tagsüber ständig mit Tieffliegern zu rechnen war, konnte der Redakteur natürlich nicht schreiben. Er verallgemeinert und fährt fort:

»Sie wissen wohl, daß die Feinde überall darauf lauern, wehrloses deutsches Menschenleben zu vernichten. Hart und einsatzfreudig besteigen beide ihr Fahrzeug, das sie nach B. bringen soll. Kurze Zeit danach: Achtung! Feindliche Tiefflieger! Das Fahrzeug in den Graben und sich selbst in Deckung werfen war Gebot. Doch die Jungen wurden von den Feinden bereits gesichtet. Sie scheinen ein lohnendes Ziel für die amerikanischen Luftgangster zu sein. Sechsmal fliegen sie an, sechsmal sprühen sie Feuergarben auf die Wehrlosen. Beide werden schwer verwundet.«

Der Verfasser des Berichts kann sich nicht entscheiden: War es ein wichtiger militärischer Auftrag, den die beiden »hart und einsatzfreudig« ausführten, dann handelte es sich bei dem Angriff der amerikanischen Flugzeuge um eine Kampfhandlung und nicht um ein neuerliches Verbrechen der »Luftgangster«; waren es wehrlose Jungen, dann ist das Heldenpathos fehl am Platz. Mitleid und Durchhaltewille, Wehrlosigkeit und Heldentum werden zu propagandistischen Zwecken geschickt ineinander verwoben: »Des Wegs kommende Soldaten finden sie und sorgen für schnelle Hilfe. Für den Hitlerjungen Michel kam ärztliche Hilfe zu spät, obwohl sich viele Blutspender freiwillig zur Verfügung stellten. Er opferte sein junges Leben für Deutschland. Die erste Frage seines überlebenden Kameraden Klotzeck nach seiner Einlieferung in das Krankenhaus war: Was macht mein Kamerad – ist die Meldung geborgen? So kämpfen und, wenn es sein muß, sterben junge deutsche Helden. Beide wurden zur Kriegsauszeichnung eingereicht.«

Zahlenmäßig waren es auf den ersten Blick bedeutende Streitkräfte, die dem designierten Kampfkommandanten von Friedberg zur Verfügung standen. Doch nur auf dem Papier. Schwere Waffen waren überhaupt nicht vorhanden, wenn man von einigen Flieger-Abwehrkanonen absieht, die zum Schutze des Bahnhofs gegen Jagdbomberangriffe aufgestellt worden waren. Außerdem war damit zu rechnen, daß alle einigermaßen intakten Verbände bei einer weiteren Zuspitzung der Lage an die Front abkommandiert würden, etwa am 6. März, als die Amerikaner ihren Druck auf die deutschen Linien in der Eifel verstärkten. Die dadurch entstandenen Lücken, so wurde dem Kampfkommandanten versprochen, könnten durch Übernahme von Genesenden aus den Bad Nauheimer Lazaretten leicht geschlossen werden. In den Krankenhäusern, Kliniken und Kurheimen von Bad Nauheim lagen nahezu 6000 Verwundete, von denen man bei Annäherung der Amerikaner einige hundert in Marsch setzen konnte.


Was dem Friedberger Kampfkommandanten tatsächlich zur Verfügung stand, waren mehrere Ausbildungskompanien, zunächst freilich nur deren Stammannschaft, da die Rekruten des Jahrgangs 1928 erst Anfang März eingezogen wurden, einige aus Leichtverwundeten und Genesenden zusammengewürfelte Kompanien und das Volkssturmbataillon – also durchweg Einheiten, deren Einsatzfähigkeit äußerst beschränkt war. Daß eine aussichtsreiche Verteidigung Friedbergs damit ausgeschlossen war, scheint auch denjenigen klar gewesen zu sein, die die Ortsverteidigung befohlen hatten. Ihre Überlegungen gingen dahin, die zurückgehenden Fronttruppen in die Stellungen um die Stadt einzugliedern. Auch dann würde man die Stadt nicht länger als ein paar Tage halten können. Einige Zeit jedoch, so die Absicht, sollten amerikanische Kräfte gebunden, ihr Vorstoß abgeschwächt und verlangsamt werden. Ob dies alles noch irgendeinen Sinn hatte, ob es nicht vielmehr nur ein sinnloses Hinauszögern der endgültigen Niederlage war, wurde nicht gefragt.

In dem »Führerbefehl Nr. 11« vom 8. März 1944, der die Aufgaben von »Kommandanten der festen Plätze und Kampfkommandanten« festlegte, hatte Hitler die Einsetzung »besonders energischer und krisenbewährter Offiziere« verlangt. So fiel die Wahl auf Hauptmann Henrich, der die größte Fronterfahrung von allen besaß, und nicht auf einen der ranghöheren Standortoffiziere, die die Kriegsjahre überwiegend in der Garnison verbracht hatten. Als der Erlaß ausgegeben wurde, war noch recht genau unterschieden worden zwischen dem »Kommandanten eines festen Platzes« und dem »Kampfkommandanten«, der einen »Ortsstützpunkt« zu verteidigen hatte: Der Kommandant eines festen Platzes hatte die Aufgaben eines Festungskommandanten und sollte die ihm anvertrauten Stellungen auch nach ihrer Einschließung verteidigen, während der Ortsstützpunkt als Eckpfeiler einer durchgehenden Front begriffen wurde. Als sich die militärische Lage Mitte 1944 dramatisch verschlechterte, wurde diese Unterscheidung immer stärker relativiert. So wurden 1945 Kommandanten fester Plätze als Kampfkommandanten bezeichnet, und diesen wurden Aufgaben übertragen, die eigentlich jenen zugedacht waren. Die präzise militärische Aufgabenstellung trat hinter der Forderung nach einer »Verteidigung bis zum Äußersten« zurück. Seitdem militärische Aktionen kaum noch sinnvoll begründet werden konnten, kam es nur noch auf den Kampf an – »bis zum Äußersten«.

Genau dies wurde auch von den Kampfkommandanten von Friedberg erwartet. Die Pläne zur Ortsverteidigung, die Henrich am 7. Februar gleichzeitig mit seiner Bestimmung zum Kampfkommandanten übergeben wurden, sahen vor, die Stadt wie eine Festung zu verteidigen. Nur, Friedberg war längst keine Festung mehr. Die Stadtmauern, insofern sie überhaupt noch standen, stammten aus dem späten Mittelalter, aus einer Zeit, als es noch nicht einmal Geschütze gab. Die Friedberger hatten die Nutzlosigkeit ihrer Mauern bereits während des Dreißigjährigen Krieges erkannt und auf jeglichen Widerstand gegen durchziehende Heerhaufen von vornherein verzichtet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte man dann, um die Stadt in südliche Richtung erweitern zu können, große Teile der alten Stadtmauer abgetragen.

Auch die Befestigungsanlagen der Burg, ihre Gräben und Mauern hatten angesichts der kriegstechnischen Entwicklung nur noch musealen Wert, was freilich die Planer der Ortsverteidigung nicht daran hinderte, die Burg als den Ort des letzten Widerstandes vorzusehen. Zehn Tage nach Henrichs Bestimmung fand eine erste Besprechung mit dem Kommandeur der Sicherungsdivision Marburg, General von Uckermann, statt. Er könne sich sehr gut vorstellen, erklärte der ältere Herr, »daß hinter den starken Burgmauern der letzte Widerstand stattfinden würde«. Hauptmann Henrich stand diesen Vorstellungen skeptisch gegenüber. Während Uckermanns Ausführungen, so erinnerte er sich später, habe er sich »im Geiste in das graue Mittelalter zurückversetzt« gefühlt, »da die Zwingermauern, die Schießscharten und das Bohlentor noch ihren Zweck erfüllten und Amerika noch nicht entdeckt war«. Unbestreitbar war, daß die Eroberung der Burg für jeden Angreifer verlustreich würde. Fest stand aber auch, daß Friedberg danach nur noch ein Trümmerhaufen wäre.

Im einzelnen sahen die Pläne zur Ortsverteidigung vor: Übernahme der Befehlsgewalt über alle in Friedberg befindlichen Einheiten, Behörden, Dienststellen sowie Militär- und Zivilpersonen durch den Kampfkommandanten; Anlage von Verteidigungsstellungen in einem weiten Kreis um die Stadt zur Eingliederung der Fronttruppe; Anlage eines inneren Verteidigungsgürtels durch Ausbau und Befestigung der Häuser zu Widerstandsnestern; Sperrung der Stadtausgänge; Anlage von Panzersperren; Einsatz der Bürgermeister des Landkreises zur Feinderkundung und Nachrichtenübermittlung nach entsprechender Schulung; Einsatz des Volkssturmes; Bildung eines Standgerichts; bewaffnete Feindaufklärung; Eingliederung der Fronttruppe in die Ortsverteidigung; Sprengung der Verkehrsadern wie Bahnanlagen, Brücken und Viadukte; schließlich Ablehnung eines jeden Angebots zur freiwilligen Übergabe und Verteidigung der Stadt »bis zum Äußersten«. In der Burg sollte die Ortsverteidigung dann im »Kampf bis zum letzten Mann« ihr heroisches Ende finden.

Die relative Verteidigungsfähigkeit der Stadt hing von zwei Voraussetzungen ab: zunächst von der Eingliederung stärkerer Fronttruppen in die Ortsverteidigung. Damit würden möglicherweise auch schwere Waffen nach Friedberg gelangen, auf jeden Fall aber würden dem Kommandanten dann kampferfahrene Truppen zur Verfügung stehen. Noch wichtiger waren wohl die Sperrung der Straßen und die Sprengung der Brücken, die dem Gegner die schnelle Annäherung erschweren sollten; alle natürlichen Hindernisse mußten für die Verteidigung nutzbar gemacht werden.

Auf Hauptmann Henrich kamen allerdings mehr Aufgaben zu als allein die Vorbereitung der Ortsverteidigung. In Friedberg befanden sich über hundert Frauen ungarischer Offiziere mitsamt ihren Kindern, die Anfang Januar bei Annäherung der Roten Armee aus Ungarn evakuiert worden waren. Viele waren schwanger, einige standen unmittelbar vor der Niederkunft. Infolge einer Fehlleitung der Reichsbahn war der Transport der ungarischen Offiziersfrauen nach Friedberg dirigiert und dort ausgeladen worden. Im »Haus des Handwerks« hatte man sie notdürftig unterbringen können. Henrich ließ Lebensmittel und Kinderwäsche beschaffen; die ständige Forderung der ungarischen Frauen nach Offiziersburschen aber konnte er nicht erfüllen.

Erheblich größere Probleme bereitete Henrich der Alarmplan »Wellensittich«. Dabei ging es um den Schutz des Frankfurter Senders, der wegen der ständigen Bombenangriffe auf die Mainmetropole nach Bad Nauheim ausgelagert worden war. Inmitten der vielen Lazarette glaubte man ihn vor Bomben sicher. Der ungestörte Betrieb des Rundfunks war für die nationalsozialistische Führung von allergrößter Wichtigkeit, denn nach wie vor war der Rundfunk das wichtigste Mittel zur Beeinflussung der Bevölkerung. Die Bedeutung, die das Regime dem Rundfunk immer beigemessen hatte, zeigte sich zuletzt noch in den Maßnahmen zu seinem Schutz. Ein Wachzug der Waffen-SS lag ständig in der Nähe des Senders. Am 28. Januar, also noch vor seiner Ernennung zum Kampfkommandanten von Friedberg, war Hauptmann Henrich mit dem Schutz des Senders befaßt worden: Der Frankfurter Standortälteste Generalmajor Stemmermann nahm ihn in seinem Wagen mit nach Bad Nauheim, wo mit Rundfunkintendant Fries und SS-Oberscharführer Weber, dem Führer des Wachzuges, die Möglichkeiten zur Verteidigung des Senders gegen alliierte Kommandounternehmen besprochen wurden.

Stemmermann, der als Frankfurter Stadtkommandant für den Schutz des Senders verantwortlich war, wollte diese Verantwortung offensichtlich auf Henrich übertragen. Im Falle eines Angriffs auf den Sender, so argumentierte er, würden die aus Frankfurt herbeigerufenen Truppen zu spät kommen, während die Friedberger Einheiten relativ schnell in Bad Nauheim sein könnten. SS-Oberscharführer Weber war jedoch keineswegs damit einverstanden, den Befehlen eines Wehrmachtsoffiziers folgen zu müssen. Er sei dem Reichsführer SS Heinrich Himmler direkt unterstellt, wandte er gegenüber Stemmermann ein, und er könne darum nicht akzeptieren, daß sein Wachzug unter den Befehl der Wehrmacht komme. »Ich werde mich«, äußerte er einen Tag nach der Besprechung mit Stemmermann gegenüber Henrich, »mit Gewalt diesem General widersetzen, wenn er es wagen sollte, mir jemanden von der Wehrmacht vor die Nase zu setzen.«

Der geschwundene Einfluß der Wehrmacht in den Entscheidungsstrukturen des Dritten Reiches wird durch diese Bemerkung schlaglichtartig beleuchtet: Wie konnte ein Unterfeldwebel – das etwa wäre der Rang eines Oberscharführers in der Wehrmacht gewesen – erklären, sich den Befehlen eines Generals notfalls gewaltsam zu widersetzen, ohne auf der Stelle festgenommen zu werden. Aber eine SS-Uniform war offensichtlich genug, die Befehle eines Wehrmacht-Generals zur Bedeutungslosigkeit verkommen zu lassen.

Weber handelte in völliger Übereinstimmung mit seinen Befehlen. Die Kontrolle des Rundfunks, das wußte niemand besser als die nationalsozialistische Führung, war eine wesentliche Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der uneingeschränkten Macht. Nach dem Attentat auf Hitler stand erst recht außer Frage, daß der militärische Schutz und damit die potentielle Kontrolle des Senders unter keinen Umständen der Wehrmacht anvertraut werden durfte. Gerade der Rundfunk mußte unter der direkten Kontrolle der Führergewalt bleiben – und das war die SS, im Gegensatz zur Wehrmacht, in der sich viele Offiziere als ein Organ der Staatsgewalt verstanden und damit Ziele verfolgten, die nicht unbedingt mit denen der NS-Führung übereinstimmen mußten. Andererseits aber war der SS-Wachzug in Bad Nauheim zur Verteidigung des Senders allein zu schwach, ein Problem, das schließlich sogar das Reichssicherheitshauptamt in Berlin beschäftigte. Anfang März wurde von dort der Polizeimajor Tamaschke nach Friedberg geschickt, um den Alarmplan »Wellensittich« mit dem Kampfkommandanten zu besprechen. Wahrscheinlich sollte Tamaschke auch prüfen, ob man sich auf Hauptmann Henrich verlassen konnte.

Nach mehreren Besprechungen mit SS-Oberscharführer Weber und einigen Offizieren der Garnison Friedberg hatte Henrich Anfang Februar einen Alarmplan zum Schutz des Senders ausgearbeitet: Auf das Stichwort »Wellensittich« hin sollten die Stammannschaften der 1. und 2. Ausbildungskompanie, die in Ober-Rosbach und Ockstadt im Quartier lagen, sofort nach Bad Nauheim in Marsch gesetzt werden, um den Schutz des Rundfunksenders zu übernehmen. Wer das Kommando über diese Einheiten hatte, blieb vorläufig offen; Weber wollte eine Verstärkung seines Wachzuges durch die Wehrmacht, Henrich dagegen bestand auf der Unterstellung des Wachzuges unter sein Kommando.

Am 20. Februar war Probealarm: Henrich saß in der Vernehmung eines Soldaten, als das Stichwort ausgelöst wurde. Sofort brach er die Vernehmung ab und alarmierte das Zentralersatzteillager, von wo aus Lastwagen zu den Standorten der Ausbildungskompanien in Marsch gesetzt wurden. In Ober-Rosbach und Ockstadt wurden die Soldaten in aller Eile aufgeladen, Henrichs Wagen setzte sich an die Spitze der Kolonne, dann ging es nach Bad Nauheim. Dort wurden die Alarmeinheiten von Generalmajor Stemmermann bereits ungeduldig erwartet: Ihm hatte das alles viel zu lange gedauert. Henrich erklärte ihm, die Truppen ließen sich nicht schneller nach Bad Nauheim bringen, da die Transportfahrzeuge erst von Friedberg aus zu den Alarmeinheiten fahren müßten. Offensichtlich war Stemmermann – Henrich nennt ihn in seinem Bericht einen »kleinen Giftpilz« – wütend über die Verzögerungen und die Ausreden des Friedberger Kampfkommandanten. Er wollte die Verbandspäckchen der Alarmeinheiten kontrollieren, stauchte Henrich zusammen, weil diese fehlten, und zählte die mitgeführte Munition nach. Das entscheidende Problem jedoch, wer das Kommando über die alarmierten Einheiten führen sollte, konnte Stemmermann nicht lösen.

Ähnliche Probleme gab es auch zwischen Hauptmann Henrich und Kreisstabsführer Riecke, dem Kommandeur des Friedberger Volks sturmbataillons. Als am 17. Februar in Anwesenheit des aus Marburg angereisten Kommandeurs der Sicherungsdivision, General von Uckermann, die Pläne zur Ortsverteidigung besprochen wurden, verlangte Henrich von General von Uckermann noch einmal eine ausdrückliche Bestätigung, daß auch die SA des Kreises ihm als Kampfkommandanten von Friedberg unterstellt sei. Riecke widersprach sofort: Die gesamte SA des Gaues Hessen-Nassau, so erklärte er erregt, sei ihm für die besonderen Zwecke des Reichsverteidigungskommissars, des hessischen Gauleiters Jakob Sprenger, unterstellt worden. Es sei ausgeschlossen, daß er den Anweisungen eines Wehrmachtshauptmanns folge. Im übrigen sei die SA weit besser bewaffnet als die Wehrmacht.

Riecke ging noch weiter: Er verlangte die Herausgabe der Sprengpläne an die SA. Nur die SA biete Gewähr dafür, daß die Bahnanlagen, Brücken und Viadukte bei Annäherung der Amerikaner auch tatsächlich gesprengt würden. Damit freilich stellte Riecke die Funktion des Kampfkommandanten grundsätzlich in Frage. Selbst General von Uckermann, der, so berichtet Henrich, »bisher ständig mit dem Kopf gewackelt hatte, forderte Herrn Riecke jetzt auf, sich zu mäßigen, und bemerkte schließlich, daß er eine Entscheidung über diese Punkte höheren Orts einholen wolle«.

Da diese Entscheidung jedoch nicht eintraf, setzte sich der Kompetenzstreit zwischen Henrich und Riecke fort. Henrich weigerte sich auch weiterhin, die Sprengpläne herauszugeben, und Riecke wiederholte, den Befehlen des Kampfkommandanten keine Folge zu leisten. Bei einer Besprechung Ende Februar, bei der Henrich noch einmal einen Versuch machte, die strittigen Fragen einvernehmlich zu klären, erklärte Riecke schließlich: »Wenn unsere Sache verlorengehen sollte, dann kann ich Ihnen jetzt schon sagen, daß dies die Schuld der Wehrmacht ist und nicht die der Partei; denn diese hat ihre Pflicht und Schuldigkeit getan!« Offensichtlich rechnete selbst Riecke inzwischen damit, daß »die Sache« schiefgehen könnte, und er suchte nach einem Schuldigen. Für ihn stand dieser Schuldige schon fest: Weder leistete die Wehrmacht an den verschiedenen Fronten den Widerstand, den man von ihr forderte, noch stand sie in bedingungsloser Geschlossenheit hinter dem Führer. Das hatte das Attentat vom 20. Juli gezeigt; der Zusammenbruch der Front in Rußland war in Rieckes Augen eine Folge des Attentats.

Der Konflikt zwischen Partei, SA und Wehrmacht, der bereits in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft aufgebrochen war, kam in den letzten Wochen und Monaten des Regimes wieder unverhüllt zum Vorschein. Vor allem die Gauleiter sahen im Volkssturm eine Parteiarmee, die sie außerhalb der Befehlsgewalt der Wehrmacht einzusetzen gedachten. Der Umstand, daß die meisten Gauleiter zu Reichsverteidigungskommissaren für ihr Gebiet ernannt worden waren, bestärkte sie in diesem Vorhaben und verlieh ihnen die dazu erforderliche Befehlsgewalt.

Auch in Friedberg zeigte sich, was für den politischen und militärischen Zerfall des Dritten Reiches in den Wochen und Monaten vor der bedingungslosen Kapitulation grundsätzlich gilt: die Auflösung klarer Befehlsstrukturen und die verschärfte Konkurrenz zwischen den verschiedenen Trägern der politischen und militärischen Macht. Die Hierarchien zerfielen bereits in inneren Konflikten, bevor sie von außen zerschlagen wurden. Jeder wollte sein eigener Herr sein; selbst die untersten Chargen wollten Befehle nur noch akzeptieren, wenn sie von »ganz oben« kamen. Der Zerfall der militärischen Strukturen hatte bereits vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht begonnen: So waren für die in Friedberg und Umgebung stationierten Truppen vier verschiedene Führungsstäbe oder politisch-militärische Stellen zuständig: Der Kampfkommandant selbst unterstand, sobald er sein Kommando übernommen hatte, dem stellvertretenden Generalkommando in Kassel; die nach Friedberg verlegten Reste des Grenadier-Regiments 36 ressortierten unmittelbar dem OB West Generalfeldmarschall Kesselring; der SS-Oberscharführer Weber bestand darauf, nur unmittelbar von dem Reichsführer SS Heinrich Himmler Befehle entgegenzunehmen, und Kreisstabsführer Riecke machte geltend, mitsamt der SA dem Gauleiter Jakob Sprenger in Frankfurt unterstellt zu sein: Der Machtzerfall 1945 hatte viele Facetten.

Das System der übereinandergelagerten Befehlsstränge und der sich gegenseitig blockierenden Kompetenzen schränkte die Möglichkeiten des Kampfkommandanten zwar ein, eröffnete ihm andererseits aber auch die Chance, diesen Kompetenzstreit zu seinen Gunsten auszunutzen, wenn er nur entschlossen genug auftrat. Mit dem Zerfall der klaren Befehlsstrukturen erhielt die Person des Kampfkommandanten zusätzliches Gewicht. Fast alles hing von seiner Entscheidungs- und Entschlußkraft ab.

Machtzerfall

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