Читать книгу Der Tuxer Schäfer - Hermann Holzmann - Страница 12
5
ОглавлениеDer Hohenhauser war nicht der Mann, der sich eines kleinen Erlebnisses wegen schnell umstimmen ließ oder einzig einem augenblicklichen Gefühl nachgab.
Es war Sommer, einige Tage vor St. Veit am 15. Juni. Und diese Tage waren für die Bergbauern schon immer von großer Bedeutung, denn am Veitstag erfolgte die Auffahrt auf die Almen.
So gab es Arbeit in Hülle und Fülle. Ein Alpmeister musste in diesen Tagen bei den Hirten sein, musste das Vieh beobachten und die Weide regeln, die auf den Tag genau eingeteilt war:
Zuerst wurden die unteren Gebiete abgegrast, dann weidete das Vieh immer höher bis zu den Bergmähdern. Die ersten Wochen hielt sich Hirte und Vieh auf dem Niederleger auf, später auf dem Hochleger, der Sommerberger Alm. Alles erfolgte nach den Anweisungen des Alpmeisters.
Der Hohenhauser war in diesen Tagen so mit Arbeit überlastet, dass ihm die zwei Tage der Wallfahrt fast entschwebten.
Ungefähr um Johanni begann die Heumahd. Das war die liebste Zeit des Hohenhauser. Da ging er ganz in seiner Arbeit auf und hatte nur die eine Sorge, ob wohl das Wetter anhielte.
In diesen Tagen sang die Sense ihr Lied. In aller Früh, noch bei der ersten Dämmerung, hallte der helle Schlag des Dengelhammers durch den jungen Tag. Dann fiel das üppige Gras rauschend unter den Schlägen der Sense. Immer wieder sang der Wetzstein dazwischen. Wie neckend kam die Antwort von anderen Mähern. Der weite Talboden war erfüllt von diesem frohen Sang der Erntearbeit.
Die schwere Arbeit von der frühesten Morgenstunde bis zum Dunkelwerden nahm den Hohenhauser ganz gefangen. Oft stieg er dann nach der Tagesarbeit auf den Niederleger hinauf, um dort Nachschau zu halten. Dann kam er vielleicht erst um Mitternacht auf den Hof, um schon gegen 4 Uhr morgens wieder aufzustehen. Er saß immer als erster auf dem kalten Dengelstein und hämmerte die Sense.
Davon wurden die anderen Hintertuxer, wach. »Der Hohenhauser tut schon dengeln! Jetzt müssen wir aufstehen!«
So sehr hatte ihn also die schöne Zeit der Heuernte in Anspruch genommen, dass die Wallfahrt in seiner Erinnerung wirklich etwas verblasste. So war es auch bei der Emma. Doch in den einsamen Nächten oder bei den Gängen zur Alm hinauf erwachte bei beiden alles wieder, als hätten sie es eben erst erlebt.
Da sah der Hohenhauser dann die Leute auf dem Wolfbrechter-Hof, und er sah sich selbst am gleichen Tisch mit der Maria. Doch immer wieder erinnerte er sich auch daran, dass er der Emma ein Kettel geschenkt hatte, denn die Emma arbeitete ja mit ihm zusammen auf Hof und Feld.
Er hatte mit ihr seit jenem Tag kein Wort gewechselt als das, was über die Arbeit und das Wetter zu sagen war. Eigenartig schien es ihr nun, dass er sie nicht mehr – wie früher oft – heimlich anschaute – und seinen Blick hatte sie immer gespürt. Er tat, als wäre nichts gewesen, als hätte er ihr kein Kettlein geschenkt. Er blieb verschlossen, ein Mann, der es nie dulden wollte, dass ihm jemand in sein Inneres schaute.
Aber sie schwieg und tat ergeben die schwersten Arbeiten auf dem Hof. Sie streute das nasse Gras auseinander, dass es gut trocknen konnte. Sie war die flinkste Recherin bei der Heuarbeit. Sie arbeitete unermüdlich und half noch am Abend bei der Hausarbeit. Todmüde sank sie dann auf den Strohsack. Aber trotz ihrer Müdigkeit schlief sie nicht ein. Das Kettel machte sie so glücklich und so traurig zugleich.
Denn der Hohenhauser schwieg. Er schwieg mit Worten und Gebärden. Er tat, als hätte er seiner Dirn nie ein Kettel gegeben! Und doch kreiste all sein Denken nur um diese beiden Frauen: Die eine war ihm nahe, die andere lebte auf dem Wolfbrechter-Hof jenseits des Tuxer Joches.
Der Emma war er nahe. Jeden Tag lebte und arbeitete er in ihrer Nähe. Jeden Tag aß er mit ihr aus der gleichen Schüssel. Und wenn er zufällig mit ihrem Löffel zusammenstieß, war ihm zumute, als müsste er den Löffel festhalten – und auch die schmale, braungebrannte Hand, die den Löffel hielt. Irgendeine ungeahnte Gewalt zwang ihn immer wieder mit aller Kraft zu ihr zurück … Oft wollte er mit ihr sprechen und sie fragen: »Gefällt dir das Kettlein?« Doch der Hohenhauser war kein Mann der schnellen Entscheidung, der sich über Nacht durch irgendein Erlebnis anders entschied. Nur scheinbar ging er also seiner Arbeit nach, als kenne er nichts anderes und als denke er an nichts anderes – aber doch dachte er den ganzen Sommer lang an diese beiden Frauen …
Nach dem hohen Frauentag am 15. August hatte sich das Wetter verschlechtert. Tagelang lastete ein undurchdringlicher, feuchter Nebel wie in Herbstzeiten über Berg und Tal. Schwer wurden Gerste und Hafer auf den Boden gedrückt, sodass das Korn zu faulen begann. Die Hintertuxer hatten große Angst vor einer Hungersnot als Folge einer Missernte.
Auf den Almen litten Mensch und Vieh unter dem drückenden, schweren Nebel. Die Hirten hatten alle Mühe, das Vieh zusammenzuhalten, da der Nebel jede Sicht genommen hatte. Dann fehlten eines Abends plötzlich zwei Kühe, eine davon gehörte dem Hohenhauser – und diese Kuh war sein Stolz, es war die »Hogmoarin«!
Diesen Ehrennamen trug sie nun schon zwei Jahre lang, denn bei den Wettkämpfen, die im Herbst ausgetragen wurden, war sie unbesiegt geblieben. So wie der Sieger, wenn die Burschen ihre Meisterschaften im Rangeln austrugen, sich Hogmoar nennen durfte, so gab man der stärksten Kuh den Namen »Hogmoarin«.
Ein richtiges Volksfest war es jedes Mal, wenn auf den Almen oder im Tal das »Kuhstechen« stattfand. Das schwarzscheckige Tuxer Vieh hatte weitum den Ruf, für diese Kämpfe besonders gut geeignet zu sein.
Die Hogmoarin hatte schon früh ihre Kampfeigenschaften gezeigt, denn sie hatte in ihrem Revier keine Nebenbuhlerinnen geduldet. Als der Hohenhauser das erkannte, hatte er sie besonders gut gepflegt und gefüttert. Schon bald nachdem Abkalben war das Melken eingestellt worden, sodass alle Kraft in das Fleisch und die Knochen ging. Den ganzen Sommer über hatte sie Roggen als Kraftfutter bekommen und war auf die fetteste Weide getrieben worden. Ihre Kampflust hatte man auch noch besonders gefördert, sodass sie jede fremde Kuh sofort mit den Hörnern anging und vertrieb.
Und ausgerechnet diese Hogmoarin des Hohenhauser war plötzlich im Nebelwogen verschwunden! Einen Tag lang hatten die Hirten alles abgesucht, ja sie waren bis zum Eis der Gefrorenen Wand hinaufgestiegen und hatten alle Schluchten durchsucht – aber die beiden Kühe blieben verschwunden.
Am Abend musste einer der Hirten den Gang zum Hohenhauser wagen und Mitteilung machen. Alle fürchteten seinen Zorn, darum stieg der älteste Senner in das Tal. Dort hieß es, der Hohenhauser sei droben auf den Bergmahdern der Mahdseite.
So stieg der Senner noch beim Dunkelwerden auf die Mahdseite hinauf, wo er den Bauern in der niederen Kochhütte traf. Die anderen Mäher waren schon schlafen gegangen. Ein niederes Feuerchen brannte. Der Hohenhauser war denkbar schlechter Laune, denn das gemähte Berggras verfaulte auf dem Boden. Und jetzt kam noch der Senner daher und überbrachte ihm diese schlimme Botschaft!
Der Hohenhauser ließ den Hirten stehen, ohne eine Antwort zu geben.
Lange Zeit dauerte dieses drückende Schweigen, sodass dem Hirten fast unheimlich zumute wurde und er wiederholte: »Glaub mir, Bauer, wir haben das Vieh zusammengehalten! Tag und Nacht sind wir dabeigeblieben – aber die Hogmoarin war auf einmal nimmer da!«
Immer noch schwieg der Hohenhauser, wie es seine Eigenart war, wenn ihn der Zorn packte. Es war dunkle Nacht. Der Nebel strich in feuchten Schwaden um die Hütte. Das Feuerchen flammte wieder auf und beleuchtete fahl das Gesicht des Hohenhauser.
Verängstigt trat der Hirte aus der Dunkelheit in den schwachen Schein des Feuers: »Alpmeister, es ist nicht unsere Schuld! Wir werden morgen über das Joch gehen! Nach Tettens, vielleicht ist sie dort.« Nach Tettens?
Der Hohenhauser fuhr auf: »Und auf Tettens ist das Vieh von Ladins! Wenn die Hogmoarin das Vieh trifft, dann –« Er brauchte den Satz nicht mehr auszusprechen, denn der Hirte wusste selbst, wie angriffslustig die Hogmoarin des Hohenhauser war. Dann griff sie auch fremde Hirten an.
Der Hohenhauser sagte kurz: »Morgen in der Früh bin ich auf der Sommerberger Alm!« Und er fügte mit drohender Stimme hinzu: »Wenns nur nicht zu spät ist!« Schweigend blieb er dann auf der Türschwelle vor dem Feuerchen sitzen und ließ den Hirten stehen.
Dann stand er doch auf und reichte dem Senner beruhigend die Hand. Der Senner ahnte nicht, warum der strenge Alpmeister plötzlich freundlicher geworden war. So sehr ihn die Nachricht auch beunruhigt und geärgert hatte, unwillkürlich war dem Hohenhauser der Gedanke gekommen – der Gedanke an den Wolfbrechter-Hof. So hätte er eine Ausrede, um unauffällig über das Joch zu gehen …