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ОглавлениеZu dieser Zeit war aber das Unheil schon lange geschehen.
Um die späte Nachmittagsstunde hatte sich das Vieh von Tettens in der Nähe der Steinhütte gesammelt. Auf einmal stürmte aus dem Nebel heraus eine fast schwarze Kuh. Es war eine Tuxer Kuh, wie der Ochsner gleich feststellen konnte. Er rief den Hirtenbuben. Beide gingen mit Stock und Geißel gegen die Tuxer Kuh vor.
Noch eine zweite tauchte aus dem Nebel auf, aber sie verhielt sich ruhig, während die erste wie ein schwarzer Teufel war! Sie ließ sich weder von Stock noch von Geißel vertreiben, wäre beinahe sogar den Ochsner angesprungen. Brüllend fuhr sie in das Vieh von Tettens hinein.
Eine Kuh stellte sich zur Wehr, aber die Tuxerin drängte sie zurück und stieß ihr die scharf gebogenen Hörner in die Seite. Ein wehes Brüllen hallte unheimlich durch die nebelverhüllten Berge.
Wieder versuchte der Ochsner, die Tuxer Kuh zurückzutreiben. Aber sie führte den Zweikampf fort. Auf und ab, hin und her wogte der Streit. Beide Kühe brüllten. Das andere Vieh sprang unruhig durcheinander und überhörte das Locken des Hirten, der sich immer noch bemühte, die beiden auseinanderzubringen.
Nun gerieten sie gar gegen die Wand unter dem Hornspitz. Und plötzlich geschah es – die Kuh von Tettens verlor den Halt und stürzte über die Wand hinaus.
Der Ochsner hob den schweren Stock – aber schon rannte die Tuxer Kuh wieder zurück, laut brüllend, und fuhr mit den Hörnern einen Ochsen an.
»Wieder eine Tuxer Kuh!«, rief der Ochsner dem jungen Anderl zu, dem Sohn des Wolfbrechter Bauern. »Wir müssen abtreiben!«
Und er schwang die Geißel, es hallte der schrille Schlag, der Anderl blies in das Bockhorn. So trieben sie das Vieh von Tettens hinunter in das Tal am Kaserer Berg.
Erst als das Vieh abgefahren war, beruhigte sich die Hogmoarin von Tux und fraß gierig das saftige Gras. Sie suchte die besten Kräuter von Marbel und Mataun heraus und gab sich mit ihrer Begleiterin zufrieden.
Entsetzt sah der Ochsner das Unglück. Eine der schönsten Kühe des Wolfbrechters lag zerfetzt am Fuße der Wand. Da war keine Rettung mehr möglich.
Weinend lief der Anderl hinunter in das Tal und kündete dem Vater die böse Botschaft …
Langsam erhellte die Morgendämmerung die triefenden Nebelschleier. Da stand eine hohe Gestalt mit wallendem Hirtenmantel vor der Kaser und rief mit seiner herrischen Stimme: »Ich bin’s! Der Alpmeister!«
Dann trat der Hohenhauser in die niedere Hütte, wo der Senner vor dem Käsekübel stand und eben Milch eingoss. Die anderen Hirten aßen das Rahmmus. Auf den Tuxer Almen standen die Hirten früh auf, denn es gab Arbeit in Hülle und Fülle.
Der Alpmeister setzte sich auf die Herdbank und legte den Mantel ab. Dabei sagte er: »Zwei gehn mit mir! Auch ein Seil mitnehmen!«
Er trank noch etwas Milch und aß hartes Brot dazu, dann trat er vor die Tür. Zwei Hirten begleiteten ihn. Draußen war es Tag geworden, wenn auch durch die drückenden Nebel immer noch etwas dämmerig. In aller Eile stiegen sie auf das Joch hinauf, und dann hetzten sie hinunter zur Tettensalm. Irgendetwas musste geschehen sein. Rufe kamen durch die Nebelwand. Manchmal brüllte das Vieh. Den Alpmeister packte die Erregung. Die Hogmoarin musste tatsächlich über das Joch gegangen sein! Was hatte sie hier wohl angerichtet? Sie würde sich nicht gescheut haben, auch einen Stier anzugreifen!
Groß hob sich die sonst so niedrige Steinhütte aus dem Nebelwallen. Einige dunkle Gestalten ragten in den Nebel hinein. Schwer hallten die Schritte des Hohenhausers auf den Steinplatten.
»Wolfbrechter, wir suchen die Hogmoarin! Ist hoffentlich nichts geschehen?«
»Nichts geschehen?«, fragte der Wolfbrechter mit seltsamem Unterton. Dann zeigte er zum Hornspitz: »Über die Hornwand ist meine beste Kuh abgestürzt! Vor der Tuxer Hogmoarin ist Mensch und Vieh nicht sicher!«
Es blieb lange Zeit drückend still. Dann fragte der Knecht spöttisch: »Geht ihr jetzt Küh suchen? Wär besser gewesen, ihr wärt gestern herkommen! Das ist ja keine Kuh nicht, das ist ein schwarzer Teufel! Da drüben steht er – dieser Teufel – da im Nebel! So eine Kuh lässt man nicht frei auf der Alm laufen!«
Der Hohenhauser hatte geahnt, dass ein solches Unglück geschehen könnte. Er hatte es den Hirten der Sommerberger Alm oft gesagt, sie sollten auf die Kuh aufpassen, dass sie ja nicht in eine andere Alm käme – aber jetzt war das Unglück geschehen.
Er streckte die Hand vor und sagte: »Wolfbrechter, du musst verzeihen! Aber – du weißt, die Hogmoarin ist mein ganzer Stolz. Weil’s so nebelig gewesen ist, ist sie übers Joch auskommen. Nichts für ungut, Wolfbrechter. Für den Schaden will ich aufkommen!«
Der Wolfbrechter antwortete: »Ja, Hohenhauser, ich hab meine beste Kuh verloren – sie hätt’ im Herbst gekälbert! Aber wir zwei sind Nachbarn.« Dann fügte er hinzu: »So eine Roblerin hab ich noch nie gesehen! Kannst stolz sein auf die Hogmoarin. Der möcht ich nicht unter die Hörner kommen.«
Da tauchte ein schwarzer Schatten aus dem Nebel. Es war die Hogmoarin, die die Stimme des Bauern und der Hirten gehört hatte. Langsam näherte sie sich dem Hohenhauser und den anderen Tuxern, die sie nun mit beruhigenden Worten anlockten. Mit gesenktem Kopf kam sie näher. Es war eine richtige Tuxer Kuh, schwarzweiß gefleckt, mit glänzendem Fell, die Hörner tückisch und gefährlich vorgebogen, mit glänzenden schwarzen Augen. Nur im Tuxertal gab es diese schwarzgefleckten Bergkühe, nicht besonders groß gewachsen, aber gedrungen und stark und immer wild ausschauend. Mit dem Grauvieh von Ladins vertrugen sich diese schwarzen Tiere überhaupt nicht.
Der Hohenhauser winkte den Hirten heran. Dann nahm er den Salzsack und näherte sich langsam der Kuh. Die Hirten richteten das Lederseil her. Weit streckte der Hohenhauser die Hand vor.
Die Kuh hob den Kopf, denn sie witterte das Salz. Zwei- oder dreimal steckte ihr der Hohenhauser Salz in das Maul. In diesem Augenblick hatte der Hirte das Lederseil über die Hörner geworfen. Die Ladinser wunderten sich, wie schnell die so wilde Kuh eingefangen war. Dem Hohenhauser gegenüber war das Tier nicht mehr störrisch und wild. Ruhig ließ sie sich dann von den beiden Hirten auf das Joch führen.
Auch die zweite Kuh war aus dem Nebel aufgetaucht und folgte willig nach. Als der Hohenhauser zurückblieb, begann sie laut zu brüllen.
Der Hohenhauser wiederholte: »Für den Schaden komm ich auf, Wolfbrechter! Ich geh mit dir hinunter nach Ladins!« So stieg der Wolfbrechter mit dem Hohenhauser, begleitet vom Anderl und dem Knecht, hinunter ins Tal.
Bei der Hörnerwand zeigte der Wolfbrechter hinüber: »Da ist die Kuh abgestürzt! Sie war gleich tot. Wir haben sie schon verräumt!«
Lange Zeit blieb es still. Der Hohenhauser spürte den inneren Vorwurf, denn wie jeder Bauer wusste er, was der Verlust einer solchen Kuh bedeutete.
Im Kaserer Berg weidete das Vieh von Tettens. Der bärtige Ochsner stapfte aus dem Nebel herbei.
»Jetzt kannst du wieder auftreiben«, sagte der Wolfbrechter. »Die Hogmoarin ist wieder überm Joch!«
Eine gewisse Verstimmung hatte sich zwischen beiden Bauern eingestellt. Der Wolfbrechter war sehr gutmütig, aber es ärgerte ihn doch, dass er diesen Schaden erlitten hatte.
Der Hohenhauser machte sich Vorwürfe, denn gerade mit dem Wolfbrechter Bauern wollte er gut stehen. So sagte er: »Ich werde dir beim Matthäusmarkt eine Kuh kaufen! Du kannst sie selbst aussuchen!«
Aber der Wolfbrechter wehrte ab und sagte: »Ich hab ja das Fleisch verwenden können! Jetzt gehst du mit mir nach Kasern, dann werden wir alles in Ordnung bringen!«
Auf diese Einladung hatte der Hohenhauser gewartet, denn nun kam er endlich wieder mit der Maria zusammen – gerade an sie hatte er in den letzten Tagen immer wieder gedacht!
Als sie zum Wolfbrechter-Hof kamen, einem wuchtigen Gebäude, aus mächtigen Baumstämmen gefügt, geschah etwas Seltsames: Schon am Kaserer Berg hatten sich die Nebel etwas gelichtet. Hoffnungsvoll hatten die beiden Bauern immer wieder in das Grau der Wolkenwände geschaut, aber erst als sie zum Hofe kamen, geschah das Wunder. Ein jäher Windstoß riss die Nebel wirbelnd durcheinander. Aus dem Wind wurde ein Sturm. Der graue Nebelvorhang wurde urplötzlich aufgerissen, und aus einem blauen Schlitz des Himmels strahlte die Sonne. War das eine Freude! Immer noch brauste der Wind und trieb die Wolken und den Nebel die Berge hinauf. Größer und größer wurde der blaue Fleck.
Die beiden Männer schauten wortlos diesem Schauspiel zu. Der Hohenhauser hatte dabei gar nicht bemerkt, dass die Maria am nahen Brunnen stand und das Milchgeschirr reinigte.
Jetzt rief sie: »Vater, der Hohenhauser hat uns die Sonn mitgebracht!«
Der Hohenhauser fuhr überrascht herum und ging nun rasch zum Brunnen. Lachend reichte er der Maria die Hand und sagte:
»Die Sonn, Maria, ist schon deinetwegen gekommen, ich hab sie nicht mitgebracht!«
Er schaute sich nach dem Wolfbrechter um, aber der war schon ins Haus gegangen. So hielt er die Hand der Maria noch länger fest umschlossen. Sie strahlte ihn an und sagte leise:
»Weißt du noch, Hohenhauser, wie unsere Löffel zusammengestoßen sind? Mich lacht man deswegen heut noch aus!«
Verwundert schaute er auf die Maria, die so gar nicht ihrem groben Vater glich. Sie hatte eigenartig zarte und schmale Hände. Auch ihr Gesicht war zart, und das Lachen verschönerte sie über alle Maßen.
Als er in die strahlenden Augen sah, wurden auch seine Züge milder. Die Hintertuxer hätten dem Hohenhauser solche Weichheit nie zugetraut.
Sie lud ihn nun ein: »Komm in die Stube, Hohenhauser!«
Wenn der Hohenhauser aber gemeint hatte, der Wolfbrechter hätte nicht gemerkt, wie froh er und die Maria sich am Brunnen begrüßten, so war er im Irrtum. Sehr wohl hatte der Wolfbrechter den freudigen Ton in der Stimme seiner Tochter vernommen und hatte auch gesehen, wie in die Augen des sonst immer so verschlossenen Alpmeisters ein frohes Glänzen gekommen war.
Als die beiden jetzt in die Stube traten, war der Kummer um die verlorene Kuh schon fast vergessen, zumal man sich wegen des Schadens recht schnell einig wurde.
»Also gut«, schloss er das Gespräch ab, »wegen der Kuh reden wir dann beim Matthäusmarkt!«
Die Sonne lachte freundlich durch die Fenster herein, es schien nun wirklich besseres Wetter werden zu wollen.
Mittlerweile hatte die Maria, zusammen mit ihrer Schwester, den Tisch gedeckt: Speck, Graukäse, hartes Brot und eine Schüssel voll rahmiger Milch.
Zuerst schüttete der Wolfbrechter zwei kleine Bleikrüglein mit Branntwein voll.
»Ja«, lachte er mit seiner dröhnenden Stimme, »ja, Hohenhauser, wenn du uns wirklich die Sonne gebracht hast, dass wir unser Heu noch hereinkriegen und dass unsere Gerste und der Hafer abreift, dann ist alles aufgewogen. Dann war der Schaden nicht so groß.«
Es wurde gemütlich erzählt und geredet. Im Mittelpunkt stand auf einmal wieder die Hogmoarin. Immer wieder musste der Hohenhauser erzählen, wie die schon im vergangenen Jahr den Sieg davongetragen hatte. Sie war zur berühmten Hogmoarin geworden!
Dann aber drängte es den Hohenhauser zum Aufbruch.
»Wenn du wieder übers Joch zum Richter gehen musst«, meinte der Wolfbrechter, »dann kannst du auf halbem Wege bei uns bleiben, wir haben gern einmal Gesellschaft!«
»Dank für die Einladung«, antwortete der Hohenhauser. »Dann werd ich auch am Matthäusmarkt einen Tag früher kommen.«
Dabei sah er erwartungsvoll die Maria an. Wieder bemerkte der Wolfbrechter den Blick und sah auch das Erröten seiner Tochter, und er war zufrieden.
Er geleitete den Gast vors Haus. Immer noch strahlte die Sonne aus fast wolkenlosem Himmel am Kaserer Spitz. Der Schmirner Ferner schimmerte rötlich.
»Morgen gibt es wieder einen schönen Tag«, sagte er, und die Maria, die neben dem Vater stand, wiederholte:
»Er hat uns wirklich die Sonn gebracht!«
Der Hohenhauser wandte sich zum Gehen, der Wolfbrechter trat ins Haus zurück, und die Maria ging ein paar Schritte neben dem Hohenhauser her, da sie in den Stall hinüber wollte.
Er reichte ihr noch mal die Hand und sagte: »Ja, Maria, zum Matthäusmarkt komm ich wieder übers Joch. Wenn du willst, gehen wir zusammen, deine Leut und unsre Leut. Es wird lustig werden, und vielleicht –«
Da kam ein Knecht vorbei, und als der Hohenhauser sich zufällig umwandte, sah er, dass der Wolfbrechter wieder unter die Tür getreten war.
Mit langen Schritten ging er nun davon, aber das Wörtlein »vielleicht« war der Maria Hoffnung genug.