Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 25
XII.
ОглавлениеIn dieser Nacht schlief Griebel wie auf der Schwelle einer offenen Hausthür, von halbem Wachsein und werdendem Traum gleich beunruhigt.
Oft schrak er jäh aus kurzem Schlafe, da ein Geräusch so fein und peinigend aufklang, daß er vor Angst die Augen öffnete. Aber dann hörte er nur die ruhigen Atemzüge des großen, schlafenden Hauses um sich, die draußen auf der Gasse gedehnt verwehten. Am Ende lag er mit großen, trockenen Augen da, bis er zwei graue Flecken in der Nacht gewahrte, von denen er nicht wußte, ob er sie träume oder sehe. Um sich zu beruhigen, beschloß er, sie für Fenster zu halten. Allein sie verwandelten sich in die geöffneten Blütenkelche von Herbstzeitlosen. Nachdem sie eine Weile still geblüht hatten, begannen ihre schwarzen Stengel sich schaukelnd zu bewegen. Um nicht aus der Blume geschleudert zu werden, in welcher er saß, kroch er als große, grüne Heuschrecke am Stengel hinunter. Er hatte sich mit Absicht in dieses Insekt verwandelt, weil er mit den scharfen Klauen seiner Füße besseren Halt auf der zarten Glätte dieser Pflanze fand. Auch behagte es ihm, ein schmerzliches Beben in ihr hervorzubringen, weil jeder seiner Tritte eine Verwundung war. Als er aber am Rande der scharfen Blätter angekommen war, ärgerte er sich doch über seine nackten, keuligen Schenkel. Dazu lachten ihn die Blumen höhnisch aus. Es klang ganz deutlich, so, daß er, aufwachend, nach dem Echo in der stillen Stube lauschte.
Allein es war nichts.
Dann fühlte er, wie jemand ihn behorchte. Die großen gierigen Augen des Unbequemen sogen an seinem Hirn. Alles, was in ihm aufstand, wurde davon, wie von einem Winde, hinweggeweht. Das zuletzt Hinaustanzende war ein Kirchturm, welchem ein Jagdhund heulend nachlief. Er wimmerte wie ein Mensch.
Gepeinigt fuhr Griebel in die Höhe.
Da erstarb der Laut mit einem Geräusch in der Ecke. — „Lorla, bist du’s?“ frug er, schwieg aber gleich, denn seine Stimme kam ihm fremd vor, wie das Geräusch, das die Knöchel plumper Hände aus einem hölzernen Schaff trommeln.
Endlich war die furchtbare Nacht vorbei und das Grau der keimenden Frühe besänftigte ihn.
Aber kaum hatte sich sein Bewußtsein in dieser Ruhe niedergelassen, als das Spiel von neuem begann. Die Schleier der Dämmerung verwandelten sich in eine tanzende Windsbraut, die aus dem losen Schnee, über den sie wogend hinzog, mit unsichtbaren Armen weiße, wehende Gewänder raffte.
Der Tuchmacher wußte ganz genau, daß das Geräusch dabei nicht von dem Winde, sondern von Betten herrühre, die jemand zagend zerwühlte. Aber in einem Zustande, der ebenso dumpfe Neugier als Erschöpfung war, blieb er ganz still und ließ die Windsbraut immerfort an sich vorübertanzen.
Jetzt klang es auch gar nicht mehr wie Windesstimme. Von schweren Atemzügen der Not verschluckte Worte redete sie, kniete dann an seinem Bett nieder und versank in ein peinvolles Schweigen.
Ihr blondes Haar lag auf zwei bloßen, süßen Armen, die von dem Echo des Tanzes noch zuckten; auch das Haupt erbebte darunter. Und ein schimmerndes Zittern glitt deshalb durch das lange, goldige Haar, über das weiße Kleid hin und rettete sich auf dem Beben seiner leisen Falten ins Unendliche. Nun hob sie das Haupt, daß man ihr Gesicht sehen konnte: Ihre großen, erfrorenen Augen standen voll Thränen, die von Zeit zu Zeit hörbar auf sein Deckbett fielen . . . „Jesus Maria! war das nicht sein Weib?“ . . .
Allein jetzt stand sie auf, ganz, ganz leise, wie es nur Windsbräute können, und reckte sich, reckte sich bis in den Himmel, ihn immer unverwandt und tief ansehend mit ihren erfrorenen Blauaugen. Dann streckte sie die Hände aus und fuhr streichelnd über sein Haar, daß ihm vor Grauen die Sinne vergingen . . . „der Himmel is mit dir und mit mir — mit mir — ach! mit mir — — mit . . . .“ während sie das mit ihren tiefsten Wehen sprach, ward sie von immer schnelleren Tanzkreisen gepackt und verschwand mit einem lauten Krach.
Davon erwachte Griebel thatsächlich und richtete sich im Bette auf.
War das ein Traum gewesen oder hatte Leonore vor seinem Bette gestanden?
Ja, aufgestanden war sie schon. Da rief sie ja eben das Dienstmädchen: „Anna! — aufstehn!“ — So konnte sie es doch gewesen sein; aber wozu war es nötig, daß sie über ihm betete, als ob auf beiden ein großes Unglück liege?! — Plötzlich fiel ihm das gestrige Ereignis ein. Es kam ihm wie ein wilder Traum vor. Aber es half doch nichts; er hatte sie wirklich am Arme gepackt und in höchster Wut gerüttelt, weil sie von diesem Reisenden in solch verdächtiger Weise gefaselt hatte. Vielleicht war es vertrackt dumm von ihm gewesen und doch gab er sich recht, aber immer so, als wenn thatsächliche Beziehungen seines Weibes zu diesem Menschen beständen, wofür er nicht den geringsten Anhalt hatte.
Auf jeden Fall mußte er sehen, wie seine Frau die ganze Angelegenheit auffaßte. Schleunig verließ er das Bett und kleidete sich an.
In der Küche erfuhr er, sie sei eben in die Frühmesse gegangen und werde etwas spät zurückkehren. Er solle nur ruhig allein frühstücken.
* * *
Es gelang ihm nicht, mit Leonore zu einer Aussprache zu gelangen. Wohl hörte er sie flüchtend gehen und in der Kinderstube leise ihre Anordnungen geben. Er lauerte ihr auf hinter den Ecken der Gänge, im Hausflur. Allein das Gelingen des besten Planes wurde durch einen unerwarteten Zwischenfall oder durch Leonores Vorsicht vereitelt, die es einzurichten wußte, jederzeit eine dritte Person zwischen ihren Mann und sich zu schieben. Ihr Nachtlager suchte sie erst nach seinem Einschlafen auf und entfernte sich vor seinem Erwachen oder blieb nächtelang beim Knaben, wenn er einmal zaghaft den Versuch gemacht hatte, über die Sache mit ihr zu verhandeln.
Dann war ihre Hast um ein weniges eiliger und zitternd; ihr Wort unsicherer; ihr Blick scheuer.
Doch alles lag in den Banden eines allezeit süßen Lächelns, eines Lächelns, das manchmal erschütternd schluchzte, weil man die Anstrengung empfand, die seine lichtwechselnden Linienwellen spannte und nachließ.
War das alles zusammengenommen die Bestätigung ihres Schuldbewußtseins oder unversöhnlicher Feindseligkeit? Mit Mühe nur erhielt sich Griebel in dem Fieber wiederstreitender Stimmungen die Maske seiner würdig-plumpen Gutmütigkeit.
Er ging umher wie mit einem heißen Bissen im Halse, der ihn unendlich quälte und den er doch nicht ausspeien durfte. Das erste mal in seinem Leben drückte ihn eine Last, die den ererbten Handgriffen seiner Grundsätze nicht wich.
Vor der Thatsache eines Treubruches schlossen Eitelkeit, Furcht, Scham und die Angst vor Kummer und Sorge ihm die Augen. Und er verneinte sie mit den lauten und wohlfeilen Gründen seines Bewußtseins; konnte es aber nicht hindern, daß seine Seele in atemschwerer Unruhe verstohlen um einen Abgrund schlich, aus dem der fiebernde Dunst blinder Befürchtungen stieg, den sie gierig sog.
Jeder Tag vermehrte das Gewicht seines Geheimnisses. Ein leerer Bewegungsdrang, der wie Arbeitseifer aussah, trieb ihn von Halbheiten zu Halbheiten, hetzte die Würde seiner kurzgeschenkelten Schritte zu fahrigen Hacktritten, nahm dem Magen seine Verdauungsfreude und prickelte in dem schlafferen Fett seiner langen Backen mit einem unerträglichen Zucken.
Endlich war er zermürbt, auf dem Standpunkte, jedes Unrecht als begangen einzugestehen und zu bereuen. In dieser Stimmung mußte ihn noch die alte Marseln fragen:
„Ma sieht ja de Lordl går nie?“
„Nu ja — ich a — åch ja — die — ich weeß nich, se kennt sich vr Arbeit nie meh.“
„Wie kemmt‘n dås? — Un ålle Tage geht se in de Frühmesse, se fliegt blos aso verbei.“
„Ja, ja!“ — Sein Fall quälte ihn zum Brennen; er mußte, um sich zu erleichtern, wenigstens etwas andeuten. So fuhr er nach einer Pause trüben Hinsehens auf:
„Sieh‘ch mich å!“ Dabei zog er den unteren Rand der Weste von seinem abgefallenen Bauche. „Aso hå ich abgenommen! Ma werd ein Band, andersch nicht!“
In tiefster Seelennot zitterten seine Lippen.
„Jesses!“ schrie die Alte, packte ihn am Arm und versuchte, ihn in den Laden zu ziehen.
Aber Griebel sah plötzlich den begangenen Fehler ein:
„Ach, ängst‘ dich nie! ‘s is ålls in Ordnung. Åber sieh’ch, die viele, viele Arb‘t und gut is mir schon lange nie. Mach dr aber deswegen keen‘n Kummer, ‘s is a verdorbner Magen, a wing erkält‘t, n kleene Gauze, sonst nischt. — Adje, ich muß in de Werkstelle.“
Schroff brach er ab, reichte ihr die Hand und verschwand eilig hinter der nächsten Ecke.
— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —
Jetzt war auch die Mutter mißtrauisch gemacht und verfolgte Leonore.
Sie warf ihr den Haken des Zurufs auf der Straße nach und erschien alle Stunden unter einem nichtigen Vorwande, nach ihr zu fragen. Die kleine Ladenklingel pinkte sie wohl schnell wieder zum Thore hinaus; aber Ausflüchte gedeihen schlecht in einer gepeinigten Seele und ein zitterndes Herz findet nur kurze Zeit den Mut, das Mitleid abzuweisen.
In allen Seelennöten hatte Leonore auf dem Gedanken an ihre Mutter ausgeruht.
„. . . . ich werde mich an ihre Brust werfen, werd ihr alles sagen, und sie wird mich trösten . . .“
So hatte die Gepeinigte in den Momenten heißester Bedrängnis gesonnen.
Nun erkannte sie aus der Muttersorge, daß ihre Gewißheit nur der Wunsch ihrer ratlosen Not gewesen sei.
Mein Gott, alles löst sich in Schatten auf.
Der Beichtvater hatte ihr den Fluch über ihre Liebe zu Frank geboten. Und sie schwor ihn tausendmal betend in die Zuckungen ihres Herzens; aber das Gift aller Verwünschungen, die sie sich mühsam abrang, ätzte das Bild des Schwarzlockigen doch nur leuchtender. Allein in Treue kämpfte sie bis zur Ohnmacht.
Mit wankenden Schritten, den Schimmer der Askese in den überwachten Augen, schlich sich Leonore dann an die Wiege ihres Knaben und brach davor in die Knie. Im Taumel einer dumpfen Verzweiflung wand sie die Hände über dem schlafenden Kinde und stotterte sinnlos: „Nie, mein liebes Gustel, nie! Nein, das macht deine Mutter nie! Wäre er blos nicht gekommen, er — der, ach Gott, wenn ich bloß fluchen könnte, er!“
Und auf den Wolken ihrer Qual schwimmt sein Bild in sie, und all ihre Sinne ranken sich mit der Inbrunst des Durstes daran.
Mit fliegenden Pulsen, glühenden Wangen erhebt sie sich. Sie rafft alle Macht ihrer zuckenden Seele zusammen und schleudert wüste Verwünschungen nach ihm . . . aber ihr Fluch wird Stammeln der Sehnsucht; dem trotzigen Tritt erlahmt das Knie und das stumme Gebet ihrer erdwärts gerungenen Hände schwingt sich zum Jubel umfangend-hinlangender Arme auf.
Ihr Entsagen gebärt ihre verbotene Liebe und ihr Fluch macht den Willen zur Treue ohnmächtig.
„Herr Gott, Frau, warum wimmern Se nu schon vierzehn Tage, wenn Se alleene sein?“ frug die Amme.
„Kopfschmerzen, Kathrine, nichts wie Kopfschmerzen.“
„Ja, wie kriegt ma’ Kopfschmerz? Sie verkälten sich nie, sie kenna sich . . . wie is ‘n mit ‘m Magen?“
„Ach nein . . . ., aber man weiß ja gar manchmal nich, ob’s iberhaupt Kopfschmerz is. Es kann ja auch ganz von was anderm kommen.“
„Nee, Frau, von a Been’ in a Kop — vom Unterleibe — vom Herze — — je nu, vom Herze —ich dächte, dås wär meglich.“
Leonore lachte fein, wie eine zum Reißen gespannte Saite wimmert, wenn ein plumper Finger sie anschlägt, und darauf ergriff sie unauffällig die Flucht. —
Ach, und mit den heimlichsten Augenblicken säugte sie im Spiel der Phantasie einen Plan, den sie einst in den Krümmungen ihrer Pein unterjochend erfaßte mit dem reinen, starken Atem der Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . die Überwachtheit der ersten Morgenstunde hatte sie nach durchlauerten, durchwanderten Nächten wieder auf ihr Lager geführt. Die ganze Süßigkeit ihrer verbotenen Sehnsucht ein lastender Druck an den Schläfen. —
Der Nachtwind torkelte durch die Gassen, ein heimatloser Strolch, der trunken, mit immer offenem Munde die dumpfe Empfindung seines Elends in vergriffenen Tönen hingellt, verstört lullt. Dann donnert er an die Thüren und begehrt Einlaß mit wirbelnden Fäusten. Und immer beginnt er doch seinen ruhelosen Rundgang wieder mit dem hilflosen Wimmern zwischen frostzusammengeschlagenen Zähnen hindurch.
Das Griebelsche Haus droht ihm umsonst mit der kalten Wucht seiner Blitzstangen; vergeblich scheucht das Schwirren seiner Schutzbleche.
Immer wieder stößt der Herdlose gegen die großen Thore, daß ihre runden Fensteraugen im Schein des müden Spätmondes grimmgrün schillern. Die alte Zeit kann gar nicht schlafen und schlürft in den kurzen Augenblicken der Stille ihre schleppenden Schritte über den lautlosen Flur.
Dann fühlt sich Leonore beklemmt, und ihr Atem kommt zäh, wie unter einem lastenden Stein hervor. Sie hat schon mehreremal mit dem Ablegen der Kleider begonnen, aber wieder erschrocken aufgehört, wenn draußen die alte Uhr mit heiserer Stimme allein zählte.
Und wie sie endlich doch über dem Auskleiden ist, kommt ihr plötzlich der Gedanke, daß es ganz widersinnig sei, das zu thun. Mit einem schwachen Lächeln streift sie die Sonderbarkeit dieses Gedankens ab und windet sich unters Deckbett.
Stumpf wartet sie auf den Schlaf. Unterdes hat der verscheuchte Vorwurf sein wahres Gesicht angenommen und kehrt wieder in sie zurück. Nun erkennt sie ihn. „Wahrhaftig, ich wär‘ so schlafen gegangen.“
Fadenleise ist sie auch schon aus dem Bett, über die Decken hin mit tastendem Arm, draußen im Wohnzimmer auf dem Stuhl am Fenster. Wie vor drei Wochen sieht ihr weites Auge nach dem Tisch ihr gegenüber, der mit leisesten Umrissen aus der Nacht schielt. Aber was hundertmal gelang, versagt heute. Sie sieht ihn nicht mehr, wie er dasitzt und mit seiner weißen, schmalen Hand die dunkle Locke aus seiner schönen, steilen Stirn streicht.
Unter den Stößen des Nachtsturmes verfliegt sein Bild, das eben keimend mit unsicheren Linien aus dem Dunkel steigen wollte.
Darauf hört sie den langen Laut des Weltallfahrers wieder fortwandern in den Gassen, die sein tiefes Stöhnen mit den schweren Kinnladen steinerner Häuserreihen zur Unendlichkeit zermalmen.
„Fortwandern . . . . fort!!“ —
Auch sie?
Ein freudiger Schreck, wie das Glück eines erlösenden Blitzes aus lastender Wolke fällt. —
„Fort . . . . fort! . . . . fort!!“ — Der Sturm lockt mit den lauten Wundern seiner Freiheit, und die Enge um sie dringt auf sie ein mit dem Mummeln dumpfer, träger Wärme, den fetten Schnarchlauten ihres Mannes, der Kahlheit reizloser Räume, der ganzen öden Nützlichkeit ihres Daseins, dieser Ehe ohne Duft, diesem faulen Reichtum, diesen augenlosen, sonnenarmen Tagen . . . „fort“ . . . sie schlüpft in die Kleider, geht und packt sich ein Bündel notwendiger Sachen ein, küßt die Wand nach der Kinderstube zu, in welcher die Amme summsend die Wiege schwingen läßt und eilt der Treppe zu. Sie rückt aber ihren gleitenden Körper von der zweiten Stufe zurück und sucht das Schlafzimmer auf. — Nein, von ihrem Mann muß sie Abschied nehmen. Wer weiß, er liebt sie doch; nur hat er keine Fähigkeit zur Äußerung seiner Liebe.
Er liegt auf der linken Seite, das Gesicht gegen die Stube. Sein blonder Schnurrbart sträubt sich unter raschelnd ausgehenden Atemzügen, und sein rechter Arm ruht auf dem Deckbett.
„Geb dir der Himmel Vergessen! — Gott segne dich!“ sinnt sie mit suchenden Augen; dabei fährt sie ganz leise über sein Haar. Davon ächzt Griebel lange und schwer, seine traumlahme Lippe murmelt Unverständliches, und dann beginnt das öde Lied seines Schlafes wieder.
Bebend entweicht Leonore durch die leise murrende Thür, faßt draußen das Bündel fester, kneift die Lippen ein und nimmt beherzt ihre Flucht wieder auf.
Arm ist sie eingezogen, arm will sie gehen. Nur ihr Leben rettet sie, ihre Ehre, seine Ehre, den guten Namen ihrer Mutter. Eben beginnt sie an dem eingerosteten Schlüssel zu drehen. Es ist gerade still, und das schrille Knirschen, mit welchem der Bart sich im Schlosse dreht, lärmt die Treppe hinauf. Darum wagt sie nicht, weiter zu gehen und wartet einen neuen Windstoß ab; dann schließt sie vollends auf. Als sie aber eben auf die Straße schlüpfen will, erschallen von deren entgegengesetztem Ende schwere Schritte.
Zwei Gestalten — tiefe, verquollene Männerstimmen — in gedämpftem Frage- und Antwortspiel. Sie kommen näher. Das eine ist der Nachtwächter, der andere fremd. Durch einen kleinen Spalt der Thür lugt sie hinaus.
Es ist gerade ruhig.
„. . . ach wås!“
„Jå, jå, — eim Gråben. Zum Erbarmen, von weitem hörte ma’s schon.“
„Ach nee!“
„Wås ich sag! — Då håt’s nischt zu ,ach nee!’ Wenn ich sprech zum Erbarmen, is gut.“
„Nu un wie wår’s ‘n weiter?“
„Also . . . horch ’och! Mir sein doch v’r Tuchgriebels Hause?”
„Freilich sein m’r dås.“
„Horch, wie jetze sein Kind flerrt, hoch, wieh, als wenn ‘m de Mutter stürbe in dem selbjen Augenblicke . . .“
„Du, håste sie amol jetze gesehn?“
„Nee! Hör ‘och, ich muß dirsch doch voll’ds erzählen. Dås Kind eim Gråben war vo‘ ‘em Mensche . . . .“
Das Gespräch wurde unverständlich . . . Leonore bog sich hart und langsam auf die Straße und sah den fortstolpernden Männern starr nach.
Ihre Erlösung ein Verbrechen — — —
Behutsam und sicher schließt sie die Hausthür von innen wieder zu. Mit gehorsam-demütigem Haupt, die Arme schlaff, stumpfen Schrittes, schleppt sie sich in ihre Zelle zurück, entfaltet ihr Bündel und hängt die Kleider an ihren Ort.
Eine kalte Betäubung, eine unerklärlich bittere Ohnmacht schüttelt sie wie ein Fieberfrost.
Sie kann sich im Bett nicht erwärmen.
Dumpfe Verzweiflung liegt auf ihr, und sie sinnt blöde vor sich hin wie ein Gefangener, der nach einem mißlungenen Fluchtversuch wieder das Stroh seines Elends unter sich rascheln hört.
* * *
So zurückgeworfen durch eine Macht, welche aus ihr und doch nicht sie war, kam das peinigende Gefühl vollständiger Bodenlosigkeit immer dringender über Leonore und drängte sie wieder mehr nach der Mutter, nach ihrer Familie hin.
Aber es war doch auch nur ein Zug schwacher Bewußtheit, der sich ihrer bemächtigte, wie eine aufdringliche Dissonanz die ganze Fülle eines jubelnden Orchesters durchschneidet.
Ach, was wußte sie überhaupt noch?
Ihren Willen hetzte sie ab nach Affekten, welche bald aus diesem, bald aus jenem Winkel angelernter Moral aufstanden.
Nach solchen welken Tagen warf sie sich wie erschöpft und hilfesuchend immer wieder der großen Leidenschaft in die Arme, die ihre Tiefen durchbrauste in wandelloser Kraft.
Und — ihr Mann schlich feig und faul um ihren Kampf. Ein liebes, heitervergebendes Wort hätte sie stärken und zurückführen können. So dachte sie wenigstens. Oder, wenn er sich nur zu einem rücksichtslosen Hieb aufgerafft hätte!
Nichts als dieses behutsame Schleichen, dieses insektenstumme Haften an ihrem Schatten.
Alles in ihr war revoltiert; aber alles verließ sie.
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„Ach Mutter!“
Mit diesem Ausruf, den sie leise redete, weil ihr Herz so schrie, warf sie sich der Mutter in die Arme. Unbewußt war sie aus dem Hause ihres Mannes gegangen und umfaßte nun den welken Leib ihrer Mutter mit krankhaft hartem Umspannen. — Der erzitterte davon. Als Leonore das spürte, riß sie ihr hinströmendes Unglück in die wunde Brust zurück, schob den Leib dieses verehrungswürdigsten Menschen, soweit es ihre Arme gestatteten, von sich und sah ihr ins Auge, ganz tief.
„Ich bin sehr, sehr glücklich, Mutter!“
„Deswegen kemmst de nich meh riber zu mir? — Is auch wåhr?“
„Mutter — ach, ich — bin — glücklich — glücklich — Jesus Maria!“
Sie ward starr, und ihre Stimme schlug schrill über. Nach einem toten Augenblick wandte sie sich ab und ließ die Erschütterte allein.
In der alten Stube aber schritt sie dann stundenlang auf und nieder.
„Was hab ich gemacht! — Was hab ich gemacht!“ Und rang die Hände.
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