Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 42
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ОглавлениеSeit diesem Vorkommnis wurde der Schuster Klose nie wieder nüchtern, kam nicht mehr in das Haus seiner Mutter und mied auch das Gehöft des Lahmen. Er war wie von einem bösen Geiste besessen.
In Stuben benahm er sich scheu, als seien es Gefängnisse; vor allen Leuten mit geregelter Lebensweise hatte er einen Abscheu, wie wenn sie geheimen Verbrechern ergeben seien. Immer ging er gesenkten Hauptes einher, murmelte Unverständliches vor seine Füße, blieb oft stehen und begann unter leidenschaftlichen Armbewegungen mit einem Unsichtbaren Streit, den er mit reuevollen Schlägen vor die Brust beendete, wie der Christ seine stille Andacht schließt.
Er hatte die halb erloschenen Augen eines angeschossenen Wildes, und sein Gesicht erschütterte trotz der Verwahrlosung, denn es war ganz mager geworden, erdfarben und tief gefurcht wie das Antlitz eines fanatischen Büßers.
Sobald er angetrunken war, verfiel er in einen Paroxysmus der Selbstpeinigung, schlug sich mit Fäusten, raufte sich die Haare, rannte durch Dornhecken und saß dann weitab von allen Menschenwohnungen auf dem einsamen Felde, weinte, wehklagte und flehte zu Gott um Gnade mit weithin schallender, beschwörender Stimme, um dann wohl plötzlich aufzuspringen, durch die Gassen der Dörfer zu laufen und die Schar der Neugierigen um Lästerungen, Steinwürfe und Anspeien zu bitten.
In einer bewölkten Mondnacht wollte der alte Förster Knolle gesehen haben, wie er in weitem Bogen unter näselndem Selbstgespräch um das Höfchen des Lahmen geschlichen sei.
Alle hielten ihn für verrückt, und einige meinten, die andauernde, außergewöhnliche Hitze sei viel schuld an dieser plötzlichen Verwirrung seiner Seele.
Denn Tag um Tag schwammen die Waldberge der Grafschaft in zitternder Glut. Sie sahen aus wie Riesenlasttiere, die, halb von grauem Sand verschüttet, fern durch eine endlose Wüste schreiten; immer in Bewegung, immer an einen Platz gebannt; kein Lufthauch der Kühle; der Himmel aschfarben, von vertrocknetem Blau. Die Sonne sah wie durch eine abgestorbene, zerstörte Unendlichkeit auf die Erde. Nur hin und wieder hob dorrender Ost seine Schwingen und flog durch die Windungen des Warthapasses mit einem feinen Sausen herein, das klang wie das Pfeifen schneidender Sensen, dann sank das wenige Gewölk wie gemäht dahin und zerfloß am Himmel zu einer kochenden Glut.
Von den Obstbäumen fielen die unreifen Früchte welk und gelb in das ausgebrannte Gras.
Der Wald heulte im Nachtwind auf wie ein verschmachtender Löwe.
In den kleinen Rinnsalen lag Staub, die reichsten Quellen gaben das Wasser in Tropfen.
Die Hitze ging knisternd durch das notreife Getreide. Die Türme läuteten um Regen. In den Kirchen knieten zu allen Stunden Menschenhaufen und riefen in furchtsamem Glauben endlose Litaneien. Die Bildstöcke und Kapellen der Felder und Kreuzwege waren mit Kränzen behängen, Weiber kauerten auf Steinen davor und hoben die Hände empor, die Männer gingen vorüber und bekreuzigten sich. Der Geistliche trug das Allerheiligste in den Fluren umher, sprengte das geweihte Wasser aus und sprach in das Rauschen der bunten Kirchenfahnen den uralten Wettersegen: es war alles umsonst.
Die Erde klaffte in breiten Rissen, als schreie sie zum Himmel um Hilfe; die dürren Blätter fielen dichter, der Wald lag grau auf den Höhen und stöhnte von Zeit zu Zeit, als liege er in den letzten Zügen; die körnerlosen Schwingel des Hafers flatterten wie winzige Bettlersbeutel; den Vögeln war das Lied in der Kehle vertrocknet; die Hoffnungslosigkeit saß an den Wegen; in den Häusern webte die Verzweiflung, und scheu begab man sich an die Ernte, als gälte es nicht Segen, sondern Fluch einzuheimsen und auf den Böden aufzuschichten, damit er des Lebens Speise werde.
–
In diese schwere Zeit fiel der Beginn des Prozesses, den der Freirichter gegen den Lahmen angestrengt hatte, weil sein Brief ohne Antwort geblieben war.
Exner lachte über die ersten gerichtlichen Zustellungen unbändig und quittierte dem Postboten den Empfang, als sei es eine wichtigtuerische Kinderei. Das sah dem »Nagelschmiede« ähnlich. Mit solchen Papierfetzen wollte er ihm bange machen, ihm, dessen Arme im Walde das schwerste Klotz ins Rollen brachten!
Guten Mutes trabte er zum ersten Termin und dachte unterwegs an seinen kurzen, siegreichen Kampf mit dem Grauen. Das steigerte noch seine Zuversicht. Wie zu einem fröhlichen Faustkampf, dessen glatter Ausgang nicht zweifelhaft sein konnte, stieg er die breiten Stufen zum Amtsgerichte empor.
Aber nach einer halben Stunde war in der kahlen Gerichtsstube sein strotzendes, heißes Recht arg mitgenommen. Die Feder des Schreibers durchstach es, von endlosen Reden ward es dünn gewalzt, von hinterhältigen Finten beschmutzt. Es nutzte nicht viel, daß er es immer wieder trotzig aufstellte. Der Richter verwies ihm endlich sein ungebührliches Betragen und drohte mit Einsperrung, wenn er weiter durch beleidigende Ausfälle die Würde der Verhandlung verletze. Dann nahm das verwirrende Fragen und Reden seinen Fortgang. Am Ende war sein Recht ein Schemen geworden, und nur die Schlauheit des Rechtsanwaltes hatte ihn vor einer vollständigen Niederlage errettet.
Zum erstenmal in seinem Leben griff eine fremde Hand rücksichtslos in die Zirkel seiner Begierde. Er mußte sich dem Spruche Dritter fügen, die sich um ihn soviel wie um jeden anderen kümmerten. Und als er auf dem Heimwege sich die Einzelheiten der Verhandlung ins Gedächtnis zurückrief, fand er, daß alles von Willkürlichkeiten und Verdrehungen nur so strotzte. Da kam er in einen wahren Rausch des Zornes und der Rache, der erst nach Tagen in eine Schwüle überging, die sich über sein ganzes Fühlen und Denken breitete und jener dumpfen Hitze sehr ähnlich war, welche seit Wochen die ganze Erde ausdorrte. Es war ein verborgenes Fieber, eine geheime Krankheit seines gewalttätigen Geistes. Er schritt in Haus und Feld umher mit Augen, die von beständigem Lauern glommen, mit einer Stirn, die wegen wilder Gedankenarbeit ihre Wulsten nie verlor. Die schmalen Lippen des unschönen Mundes bebten beständig von verhaltenen Schimpfwörtern, die Haare wirr, die ganze Haltung zerknüllt in Verdrossenheit: so wurde er von der eingedämmten Wut ruhelos auf seiner Scholle umgetrieben.
Seine Sucht nach Rache vermengte sich mit der Hoffnung auf Regen, und es hatte sich in ihm der Glaube herangebildet, daß sein äußeres und inneres Mißgeschick unauflöslich verkettet seien.
»Wenn's och regnete«, sagte er oft zu sich, wenn er um Fenster lehnte und nach dem Himmel um Gewölk ausschaute. Aber die Entladung seiner Seele kam unvermutet.
An einem Abend stand der Lahme in der Mitte des Zimmers und hörte aufmerksam auf den Ton des Windes. Es war ein tiefes, ruhiges Rauschen, in dem sich die erschlafften Zweige der Bäume schaukelten, als hörten sie tröstenden Zuspruch. Manchmal trieb der Wind gegen die Scheiben, daß es prickelte, als regne es.
Marie saß an dem Tisch vor einer kleinen, offenen Petroleumlampe über eine Näharbeit gebeugt.
»War's nich, als ob's regnete?« fragte Exner dumpf.
Das junge Weib hob den Kopf und lauschte:
»Nee, es treibt Sand gegen die Scheiben«, antwortete sie und fuhr fort, emsig zu nähen.
»Da sitzste und stichelst in den Fetzen rum!« sagte er vorwurfsvoll.
Dann herrschte eine entseelte Stimmung in dem Raume. Auf der Ofenbank kauerte die Katze, und ihre grün schillernden Augen stierten regungslos auf den kleinen Lichtkreis, die Uhr pendelte in zähen, ruckweisen Schlägen.
»Ein glücklich Jahr, das muß man sagen, ich kann zufrieden sein. Meenste nie?« fragte der Lahme in Bedürfnis nach Zank.
Marie war ihrem Manne gegenüber zu der unveränderlichen, herben Geduld gekommen, mit der starke Naturen ein unverschuldetes Geschick auf sich nehmen. Sie schwieg eine Weile, als sinne sie nach, und antwortete dann mit der ruhigen Gegenfrage:
»Kocht's über unserm Felde alleene?«
»Als wenn ma mehr hätt', wenn andre au nischt han!«
Der Lahme lachte gereizt.
»Red' nich aso, daß uns Gott nich noch schlimmer heemsucht. Denk lieber, was sollen die Armen machen!«
»De Armen! Die! Wer nischt hat, kann nischt verliern. Du bist mir ein sauber Weibla!«
»Tu ich etwa noch zu wen'g? Da sieh meine Hände!«
Das junge Weib hielt ihm ihre Handflächen hin, die rauh und rissig wie Baumrinde waren.
Der Klumpen lachte roh auf, drehte sich um und verschwand unter Verwünschungen in der Schlafkammer.
In leidenschaftlichem Eifer riß er sich förmlich die Sachen herunter, warf sich auf sein Bett, kehrte das Gesicht gegen die Wand, und nicht lange, so war die Finsternis vor seinen Augen ganz rot vom Zorn der Seele. Die Gestalten seines Handels mit dem Freirichter liefen auf und ab vor ihm, und er redete zu ihnen von der Kommission, die in den nächsten Tagen eintreffen und die Begrenzung untersuchen sollte. Er redete zu ihnen kochende Worte, wilde, haßerfüllte Laute. Allmählich kam ein Schaukeln über ihn, aus dessen Stößen Schatten quollen, die langsam alles verhüllten. So schlief er ein. Da war es ihm, als nähere sich von ferne das satte Rauschen, das dem Regen vorhergeht, und es kam näher und hörte sich an, als sei manchmal das Klatschen fallender Tropfen darunter. Er tat das Ohr seines Traumes ganz weit auf und überzeugte sich, daß er sich nicht getäuscht habe. Ganz deutlich rieselte das Rauschen über sein Dach, und die Tropfen sielen durch das trockene Geblätter, erst einzeln, dann schneller und häufiger, bis sie jenes Summen hervorbrachten, mit dem ein gut eingerichteter Landregen herniedergeht. Und wie er voll Glück doch zweifelte, um wieder eigen hinhören zu können, vernahm er langgedehntes Klagen, wie es dem Munde von Kindern entströmt, die schon müde vom Weinen sind. Es wandelte wohl jenseits der Mauer auf und nieder, manchmal von den Stößen des wuchtenden Windes verschlungen, manchmal deutlich vernehmbar, wenn auch nicht stärker.
Der Instinkt der Furcht riß den Halbwachen in die Höhe und setzte ihn aufrecht ins Bett. Gespannt, eine halbe, betäubende Ahnung in der Seele, lauschte er hinaus.
Alles vollständig still. Kein Regensummen, kein Tropfenfall, kein Rauschen über dem Dachfirst. Es war alles Täuschung gewesen.
Exner schüttelte verwundert den Kopf darüber, daß der Mensch so deutlich träumen könne, und war eben im Begriff, sich wieder in die Kissen zu legen, als dieses eigentümliche Klagen wieder begann: wie verschmachtend, im Zittern großer Angst verloren, dann schluchzend, als schlürfe ein Ertrinkender Wasser, und dann in wirren Lauten der Verzweiflung hinbrodelnd. Wahrhaftig ... nun stand es gar unter seinem Fenster, und die seltsamen Töne strebten an den Scheiben empor wie vibrierende blasse Geistersinger.
Darauf entfernte es sich.
Nun wimmerte es in der Stube, nun auf der Stiege zur Sommerstube, nun über ihm auf dem Boden. Dabei war es, als schlürften weichsohlige Schritte auf und nieder. Dem Lahmen pochte das Herz. Er sank um, vergrub das Haupt in den Kissen, drückte die absterbenden Fäuste an die Schläfe und murmelte in kalter Angst: »'s Klagemütterla. Das is 's Klagemütterla. Was wird's och bloß noch alles haben ei meim Hause.«
Der graue, rätselhafte Geist, an dessen Dasein noch so viele Grafschafter glauben, hatte sich bei ihm eingestellt. Sein Wimmern verkündet Verlust, Krankheit, Tod, alles Elend. Mit langen Gewändern angetan, das Gesicht verhüllt, schlürft es auf und ab. In die Höhen, aus denen es stieg, entschwebt es wie ein Schatten, der entsteht und vergeht, und läßt nichts zurück als unsichtbare Gleise, denen das verfemte Menschenleben zur Qual unrettbar verfällt.
Lange lag der Lahme in eisiger Betäubung, über seinen Körper liefen Schauer.
Ein milder Laut, der aus der Wohnstube drang, brachte ihn jäh zur Besinnung. Ohne sich anzukleiden, sprang er auf und riß die Tür auf. Die Petroleumlampe war ausgelöscht, dafür brannte das Ampelchen vor dem Muttergottesbilde in der Ecke. Sein rötlicher Schein floß nieder und breitete sich wie erstes Morgenglühen über sein Weib hin, das auf den Knien davor lag und die Hände zum Gebet erhoben hatte.
Sie kehrte ihm ihr bleiches Antlitz zu und sah ihn mit schimmernden Augen fragend an.
Der Klumpen bot einen wilden Anblick: seine Haare hingen wirr in das Gesicht, das noch entstellt war von dem Schrecken; sein Auge stammte. Marie konnte den Anblick nicht ertragen und wandte ihr Gesicht ab.
»Hast du's gehört?« fragte er bebend.
»Was denn?«
»Du willst noch streiten!«
»Ich weeß vo nischt; ich hab' gebet't, du siehst ja.«
»Du – du – erst steckste mit'm Freirichter unter eener Decke, danach –«
»Ich!«
»Ja, du! Was brauchst du vorm Freirichter Angst zu haben wegen den Pappeln, und solche Zettel schreibste!«
»Ich, een Zettel schreiben!«
»Du hast den Zettel geschrieben: ›Zum Freirichter Exner‹, du, sonst niemand.«
Da sprang das junge Weib auf und trat vor ihn hin.
»Du bist mei Mann, und ich sollte dich schlecht machen?«
»Dei Mann? Der Klumpen bin ich dr, über den du dich immer lustig gemacht hast. Ich bin kee Zaunpfahl, wenn de mich geschnitten hast, ich hab' wohl geblut't.«
Nun sagte er den Grund seines Mißtrauens gegen Marie. Diese senkte schuldbelastet ihr Auge.
Das stumme Geständnis eiferte den Zornigen noch mehr an.
»Das haste all's getan!« schrie er. »Und jetze knieste hin und betest mir's Klagemütterla of a Hals! Runter mit der Tocke vom Brette, runter, bale räumste alles naus!«
»Das bleit, das is mei Gott!«
Marie trat dem Wütenden fest entgegen und breitete ihre Arme schützend aus.
»Dei Teufel is!«
Er stieß sie zur Seite, daß sie gegen den Ofen taumelte.
»Ich bin Mutter, Karl«!« schrie sie und raffte sich von dem Falle wieder auf.
Der Lahme aber ließ sich nicht hindern, ergriff seinen Knotenstock, sprang in die Ecke und hieb mit einem Schlage Eckbrett, Muttergottes, Engel und Lämpchen unter den Tisch.
Nachdem er so die Mächte in Trümmer geschlagen hatte, mit denen sein Weib im stillen gegen ihn im Bunde war, redete er auf das leise Schluchzen in die Nacht hin: »Und daß ich das nich mehr seh' ei meiner Stube!« und kehrte in die Schlafkammer zurück.
Marie rührte sich nicht auf der Ofenbank, wohin sie gesunken war.
Sie hatte die Hände vor das Gesicht gepreßt, um nicht zu sehen, und heiße Tropfen quollen zwischen den Fingern hervor. Trotz einer wirbelnden Betäubung, die auf ihr lag, sah sie unverrückbar in der Finsternis vor sich eine häßliche, drohende Männergestalt mit langen, mageren Beinen, Armen, die bis weit über die Hüften hingen, einen unförmlichen Kopf, in dessen Gesichtsrunzeln blinzende Äuglein wie giftige Kröten krochen. Lange spärliche Haare hingen über hüglige Schläfen.
Sie rang gegen das Bild des Lahmen, das ihre mißhandelten Nerven verzerrt vor sie hinstellten; aber hartnäckig schuf es die Phantasie von neuem, wenn es der Wille kaum unterdrückt hatte.
Da glitt sie zu Boden auf ihre Knie und betete:
»Ach du mei himmlischer Gott, zerschlagen liegste eim Staube; aber mei Herze trägt dich wie a linde Tüchla. Du strafst mich harte. Ich wollte Glücke und Geld und a gutes Leben; aber ich weeß wohl, durchs Elende kommt ma zur Freede. Zerbrich mich wie 'ne Schale, bloß über mei Kindla erbarm' dich.« –
Dann rutschte sie unter den Tisch und sammelte die Muttergottesfigur und die Engel in ihre Schürze. Sie küßte jedes Stück. Darauf tastete sie sich vorsichtig zur Tür hinaus, über die Stiege, auf den Boden und vergrub sie in das Heu.
Aber die verzerrte Männergestalt wich nicht aus der Finsternis vor ihr. Wie sie auch dagegen kämpfte, im Banne ihrer Häßlichkeit stehend, starrte ihr Geist immer darauf hin, und dieses geheimnisvolle Mark des Lebens, von dem alles ausgeht, prägte sich die Formen der Wahngestalt unter Qualen ein.
Der würzige Duft des Heues betäubte endlich ihre Sinne, daß sie einschlief.