Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 21

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Inhaltsverzeichnis

Das Menschenleben hat Tage wie die Zeit, außerhalb der es wächst, ein Weltwunder.

Auch die Tage des Menschenlebens steigen aus Nächten über die visionäre Brücke der Dämmerung. In jenen Frühstunden der Seele, da sie mit den Ahnungen ihres Schicksals spielt wie die Erde mit steigendem Höhenrauch oder niedergehendem Gewölk, lugen die tiefsten Lieder der Ewigkeit durch den Spalt der Sinne aus dem Unendlichen herein — — —

Das Morgengrauen . . .

In jener Frühe, die Leonore aus der Ungeduld des Wartens von ihrem Lager trieb, waren die Gesetze, die das Weib ewig regieren, in ihr Fleisch geworden.

Vor dem unsichtbaren Erfüller ihrer Sehnsucht hatte sie werbend getanzt. Die weichen Linien ihrer Bewegungen, das ganze süßverschwiegene Konzert ihrer Leiblichkeit hatte sie in den Vorhof der Liebe eingeführt. Und dann sang ihr Traum in verzückten Wallungen diese selbe Musik mit weichen Geisterlippen in das Geräusch ihres Tages und ihrer bebend-fragenden Sehnsucht, in der sie zitternd blühte, ein Wunder in einem Wunder.

* * *

Immer mehr schloß sich ihr Zustand zur Forderung zusammen in jener inbrünstigen Regellosigkeit, die schwachen Naturen eigen ist.

Bewußt zog ihre unbefriedigte Seele den Inhalt ihrer ganzen Vergangenheit auf einen Stoß. Leise, übersichtslos, in langsamer Unerbittlichkeit erblindeten alle Augen ihrer namenlosen Hoffnungen. Nur ein Auge blieb offen. Seine Sehkraft erschöpfte sie ganz, daß außer ihr nichts mehr lebte.

Der helle Schellenton eines vorübergleitenden Schlittens löste in ihr den Hunger nach einem jähen Rausch los, den sie vorgenoß, als wenn eine rasende Bogenlinie durch sie hinfahre, deren Bewegung über ihren Leib und ihre Gedanken einen heißen Taumel brachte.

Dann begann sie flutende, nie gehörte Melodien meistens auf „la“ zu singen. In herzpochendem Jubel sang sie, mit ausgebreiteten Armen, in wogendem Schritt auf- und abwandelnd. Es war, als werfe sie durch dieses sonderbare Lied Anker aus.

Aus diesen Unendlichkeitsflügen stürzte sie jäh, wie mit gebrochener Schwinge, in das Klappern des Alltags. Und wenn sie, nach Verstehen ringend, in den bekannten Räumen umherschaute, schossen eigentümliche Thränen in ihr Auge, solche, die wie kochendes Gift ihre Lider ätzend angriffen und brennend die Wangen hinabliefen.

„Wås flerrst‘n, Lorla?“ frug dann wohl Griebel.

„Hm!“ und sie sah ihn schneidend an, „hm und das fragst d u noch, d u ? — Ach, du mein lieber Gott.“

Und sie warf sich neben den Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, in die Knie und schlug ihre gefalteten Hände wie betäubt auf den Sitz. Denn die schöne Kraft ihres Leibes war noch voller geworden. Die Wogen ihres Blutes gingen höher. Sie säten keine verträumten Farben und Bilder mehr in die Fruchtfurchen ihrer inneren Welt; sie rissen Schreie heraus, glühten Aufsturz, verwundeten das geheime Instrument ihres Innern, daß seine Saiten in ein regelloses Vibrieren gerieten. Ihr schien dann alles verloren und sie kauerte in der Dumpfheit eines Stoßes da. Wie auf einen Punkt zusammengeschrumpft kam sie sich vor.

Eine Macht, über die sie keine Gewalt hatte, warf sie aus qualvollen Jubeln in stumpfe Ängste. Ihrer Leidenschaft fehlte die Kraft der Zerstreuung, der gesunde Rückhalt eines gewöhnlichen Lebens, in dem die Seele ausruhen kann, wie der meermüde Sturmvogel auf der Sandbank.

Sie war wie nackt; nichts folgte ihr in die Glut. Immer weiter ward sie von allem und allen um sie abgeführt. Vor den gütigen, derben Worten der Mutter, deren Liebe nur den Schlag in ihre Wunden kannte, floh sie. Allein immer kehrten doch ihre Augen von jenen rätselhaften Gestaden ihrer innersten Seele zurück; immer fand sie sich wieder auf dem Wege von der Küche zur Wohnstube, auf dem Boden, in dem alten Zimmer und nie doch traf sie ihre Heimat in ihrem Heim.

Und nie erstarrte sie in der Glut oder dem Taumel der Dumpfheit. Zum Wahnsinn war sie nicht stark und nicht schwach genug.

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

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