Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 11
VI.
ОглавлениеWie das Linnen, in dem sie lag, weiß und welk, immer im schwachen Zittern ihres letzten Hauches lag dann Leonore. Sie verlangte gar nicht, das Kind zu sehen. Und als man ihr nach Tagen den großen, starken Jungen brachte, schaute sie mit großen, verwunderten Augen auf ihn und nickte stumm: „August war’n man heeßa lå‘n“, sagte der glückliche Vater. „Wås er für Hände håt! Un wenn er erscht s Patschel ballt! Wie ein Holzhacker packt er zu.“
„Weg, thut ihn weg! — Ich kann’s nie hören! ‘s zerreißt mich!“ rief Leonore und hielt sich die Ohren mit dem Deckbett zu.
Kopfschüttelnd trug die Amme das Kind weg.
Griebel aber fuhr ihr über die Stirn:
„Jå, jå, schlåf, Lorlå, schlåf. Du wirscht schon wieder zu Kräfta komma.“
So lag sie wochenlang in der verhängten Stube. Sie sah mit großen Augen zur Decke und spielte mit ihren schmalen Fingern auf dem Bett. Oft ganz schnell und zitternd. Manchmal, indem ihr Zeigefinger wie nachdenklich, langsam mit dem Nagel über das Gewebe hinfuhr. Das brachte einen feinen, wispernd-singenden Ton hervor. Sie horchte nach den Schritten, der auf dem Flur sich bewegen den Personen und freute sich, sie so zu erkennen. Das träge Ticken der Uhr im hohen Flur, das bei der oft vollständigen Stille des Hauses mit seinen artikulierten Tönen, wie mit geformten Lippen, leise aus allen Ecken widersprach, wiegte sie ein in die Sicherheit um sie wirkender, ruheloser Kräfte. Diese bemühten sich, schlüpften aus einem weit zurückliegenden Anstoß bis nahe an sie heran; wirkten dann achtlos ein Spiel über sie, das scheinbar taub und doch voller Beziehungen zu ihr war.
Da schloß sie die Augen und lag lange wie schlafend. Aber die schnellen Atemzüge und das eilige Minenspiel ließen erkennen, daß sie innerlich beschäftigt sei.
Griebel beobachtete sie oft in solchen Momenten. Wenn ihm ihr bewegungsloses Ruhen zu lange dauerte, dann hustete er laut oder begann mit starken Schritten durchs Zimmer zu schreiten. Dann öffnete sie, wie erwachend, die Augen und sah fremd im Zimmer umher.
„Wo wårscht‘n jetze wieder?“ frug er einst. Da schüttelte sie mit lächelndem Staunen den Kopf und schob den weißen Arm unter denselben.
„Aah!“ sagte sie leise und dehnte sich . . . . . . „eine blaue, große Wand — ach! — von einem Berge zum anderen, nein, weiter, viel weiter, hing iber mir. — — Und wie ich da aufsah, siehste, da rihrt se sich, als wenn ein Wind dahinter wär. Und dann, ganz langsam kommt se runter. Es is schon mehr als wenn’s Fliegel wär’n und ich denk, wenn de Fliejel schon a so schön sein, wie muß erscht der Engel sein, dem se gehören, und ich will sehn, ich martr mich, aber . . . ..“
„Ach nee, sehn, du håst jå de Auja feste zu, wie wollste då wås sehn?“
„Nu grade! Zu so was braucht ma doch die Augen nich.“
„Nach, wie wårsch ‘n weiter?“
„Weiter ging’s nie. Da haste gehust’t und weg warsch.“
— — —
„Setz dich amål eim Bette uf.“
Sie that es.
„Nu, warum denn?“ frug sie und sah an ihren entblößten Armen nieder.
„s sein doch jetzt schon vier Wocha, dåß du eim Bette liegst.“
„Vier Wochen . . .“ sagte sie verwundert.
„Wird dir‘n dås Liega nich selber zuwieder?“
Als Antwort sah sie ihn nur groß an.
Nach einer sinnenden Weile sprach sie mit verschleierter Stimme:
„Ach nein. — Es is so ganz andersch jetze. — So ruh’ch in mir, so weit. Manchmal helle, manchmal so dämmrig. Und schönes, was ich aber doch nie g a n z seh und hör, passiert da. — — — Das allerkomischste is aber, daß ich’s gar nicht glaub, daß das Gustlein von mir is. Das is alles so weit fort. Wie in einem andern Leben . . .“
„Åber, denk doch . . . .
„Nein, hör doch auf mich. Ich m u ß dirsch sagen . . . . in einem andern Leben . . . ja, ja . . . als wenn das, was war, all’s, all’s! gar nie hätt’ sein brauchen . . .“
„Ich etwan — he! — ich etwan auch nich?”
Sie holte nur tief Atem und sah auf ihre Finger, deren Spiel schon wieder begonnen hatte.
„Du!! — Ich etwan auch nich?“
„Aber Joseph!“ entgegnete sie mit trauriger Stimme, „bis ‘och nich gleich böse. Sieh ‘ch och, ich kann doch nie dafür. Und wer leidet mehr drunder?“
„Ich gleebs ja, Lorla. Dås weeß ich ja . . . nu då flenn doch nich. Ich meente halt bloß. Wenn ich ei der Werkstelle draußa bin, da gieht ålls drieber un drunder. — Dr Ferscht vo Marokko bin ich doch auch nich. Ma muß doch ofs Verdin‘n rechnen. s sol doch ohnder wås dazu komma wie weg. ! — — Ich dacht halt, wenn du aufstehndst un sähst blos zum rechta . . .“
„Du läßt mich ja nich ausreden. — — Ach ja! — — Das is auch ofte andersch. — — Wenn ihr draußen geht, so schnell un fleißich, oder wenn ich hör Fässer aus ‘m Keller nehmen und‘s pumpert, da bin ich schon zehn mal aufgestanden und hab angefangen, mei Bette zu machen, weil ich sehn wollte, obs geht, hab a Stuhl weggetragen, dås und je‘s gemacht. Aber s geht halt gar nich. Nich etwa, daß ichs Bette nich erheb oder den Stuhl, nein. —
Aber sieh‘ch, wenn du was machst, da sprichst du erscht in dir: wart, das wird aber jetze gehn! Da packst du an von inwendig raus, als wenn du dich in dich nei stemmst. Da gehts, und du freust dich darnach. — — — Is nich a so? —“
„Nu . . . hm, hm! . . . ich weeß nie . . . . åch, nu wås! . . . s kån immer a su sein, ich håb noch nich nåchgedåcht.“
„Un das fehlt mir ebenst. Der Arm is doch kee Mensch unds Bein auch nich.“
„Dås mag ålls sein. Ich verstieh dås nich. Åber ich meen halt, wenn du aufstindst und thäst probieren obs ging, dås Zumrechtasahn. — Verleicht wirds andersch, wenn du erscht aus ’m Bette raus bist. Versuchs blos! Giehts noch nich, nu då mußt de halt wieder neikriecha.“
* * *
Am anderen Morgen stand sie wirklich auf und zog sich die Kleider an, die sie aus ihrem kleinen Hause mitgebracht hatte.
„Da wird’s aber flink gehn wie zu Hause, als wenn die Mutter dahinterstünde“, sagte sie dabei für sich hin.
Alles um sie forderte ihre Thätigkeit heraus. Und sie griff es an, wie einen lästigen Mahner und räumte es fort. Aber in ihrem Arbeiten lag kein Plan. Sie staubte die Möbel ab, kehrte darauf die Stube und mußte dann noch einmal alles vom Staube reinigen. In voller Thätigkeit stehend, bemerkte sie, daß die Fensterscheiben blind seien. Sie rief nach Wasser und Putzlappen. Ohne die Ausführung des Befehles aber abzuwarten, lief sie in die Küche und begann mit den Vorbereitungen zum Mittagessen.
„Mein Gott“, unterbrach sie sich, „da steht und liejt noch alles drieben in der Stube. Geh und trag Wasser in de Pfanne, Mädel, ich muß doch erscht drieben Ordnung machen,“ stürmte hinüber und begann aufs neue auszufegen.
Ein fremder Zwang, der Wille ihres Mannes, wirkte in ihr und löste regellos die gewohnten Handgriffe aus, wie das Getriebe einer Maschinerie. Ein wirres Fieber war ihr Fleiß. Alle Verrichtungen drängten sich ihr auf einen Punkt zusammen. Kein Zielen war ihr Wille, eine Beängstigung, die sie trieb, daß sie mit zitternden Händen schaffte, mit bebenden Knien, keuchender Brust und glühenden Schläfen lief.
So war wirklich ihre Fähigkeit zur Thätigkeit mit der Geburt des Kindes erloschen; die Spannung eines Lebens gewichen, das die Energie der Mutter ihr angewöhnt hatte.
Mitten aus dem zwecklosen Wirbel ihres Schaffens sank sie erschöpft auf einen Stuhl und sah dumpf vor sich nieder, um sich schrill aufzureißen:
„Alles liegt und steht noch da und ich setz’ mich hierher!“
Sie sprang auf und sank wieder zurück.
„Ich kann aber nich! — Ich k a n n nich! — Es geht n i c h!! — Mein Gott, was soll denn wer’n?!“
Darauf brach sie in verzweifeltes Weinen aus.
Wie einen beengenden Gürtel fühlte sie das Leben, in das sie sich auf das Gebot ihres Mannes begeben hatte. Es ist eintönig in seiner Vielgestaltigkeit und doch verworren und hart. Die weite Weichheit ihrer Seele zuckt wie im Krampf unter diesem unbarmherzigen Druck.
Sie weiß, daß die Erfüllung ihrer Arbeiten ihre Pflicht ist, und vermag doch ihr Wesen in dieses Gebot nicht hineinzuzwingen. Mit Schrecken fühlt sie es zwischen den Fingern ihres Willens fortgleiten und hat zugleich das Gefühl wachsender Befreiung dabei: denn das, was in unräumliche Fernen schwimmt, ist sie selbst, ist das, woraus ihr wahres Leben sich Kraft trinkt. Die Beängstigung aber, die dem Fortebbenden nachruft mit zuckenden, schluchzenden Lauten des Weinens, weilt dort bei dem Leben der Menschen, das ihr stets so unbegreiflich vorgekommen ist.
Sie empfindet mit schlaffer Freude, wie ihr strömender Schmerz die Kraft dieser Beängstigung bricht, daß das Gebot aus immer weiterer Entfernung, immer leiser nach ihr verlangt.
Wie abschüttelnde, heraufarbeitende, tiefe Atemzüge genießt sie nun das befreiende Weinen. Endlich verschwinden die letzten Schatten der Gegenwart hinter dem Horizont ihrer Seele. Hinter einem weichen Schleier schimmere eine glänzende, stille Welt herauf, von schönen Ebenen, leisen Städten, sanften wunschlosen Menschen und einem Himmel, der mit seinen wandelnden Farben wunderbare Weisen singt.
So zaubert das feinste Gefüge ihres Organismus im zeugenden Spiel von Berührung und Flucht das Abbild der streitenden, brutalen Welt, das ihr kraftloser Leib so siech in sich aufgenommen hat, noch von keinem starken Instinkt entzweit und verfeindet, noch von keinem Affekt zu einer heißen Forderung getrieben.
In wachem Traumschlaf genießt sie die müden, sanften Wunder ererbter Schwachheit.
Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände andächtig gefaltet, sitzt sie regungslos da, mitten in der Stube. Der Besen liegt neben ihr. Mit weiten, schimmernden Augen starrt sie auf den Boden.
Dann hört sie die langen, festen Schritte ihres Mannes die Stiege heraufkommen, im weiten, hallenden Flur immer stärker werden, die gegenüberliegende Thür aufgehen.
„Wo is‘n die Frau?“ fragt ihr Mann hinein.
„Ja ich weeß nie.“ Es ist des Dienstmädchens Stimme.
„Is se offe?“
„O ja.“
„Und‘s Essen? s is doch gleich zwölfe.“
„Wie sollte ichn fertig wer’n, wenn mir ålles alleene bleibt?“
Leonore möchte aufstehen; aber alles ist ihr doch so gleichgültig, so unnötig. Sie vermag sich nicht loszureißen von dem Zwang, der sie beherrscht.
Schon tritt ihr Mann herein, ärgerlich hustend, und seine großen Arbeitsschuhe treten noch härter auf. Er bleibt an der Thür stehen, dann schließt er sie langsam überlegend.
Aber Leonore kann sich noch nicht erheben. Nun ist es ein Gemisch von Scham und Trotz, das sie regungslos auf ihrem Platze erhält.
„Nu, wie is! — Gibts heute kee Mittagassa, he?“ platzt er rauh heraus, da sein Weib sich nicht rührt.
Erschrocken fährt sie nun empor. — Kein Gruß und so hart? — Und mit ihren noch traumleuchtenden Augen, in denen es bange zu zittern beginnt, sieht sie ihn stumm an.
„Wås siehst’n mich ån? — Wenn du krank bist, le‘ dich ins Bette. Wenn du offe bist, mach. Es vo beeda. Ich muß assa, wenn ich arbta wil.“
Mit bebender Hand streicht sich Leonore die schönen, weichen Haare aus der Stirn.
„Aber Joseph —“
„Ach wås, ich . . . .“
„Du! . . . Du — . . .“
Das erstemal sagt sie das Wort wie einen Vorwurf, dann in Trauer, von Weinen halb erstickt. „Was, du willst mir doch nie etwan drohn?“
„Ach Gott, nein, nein! — Ich will nichts, gar nichts, gar, gar nichts mehr.“
Von Weinen geschüttelt, läuft sie hinaus.
Nach kurzem Sinnen eilt er ihr nach und ruft gedämpft den Flur hin:
„Lorla, här amål! — Ich håb dr wås mitgebracht, wås scheenes!“
Aber sie verschwindet eilig auf der Treppe zum oberen Stockwerk. Im Begriff, ihr nachzueilen, bleibt er plötzlich stehen und schüttelt den Kopf: „Nein, Griebel, dås måchst du doch nich!“ Dann kehrte er zögernd in die Stube zurück.
Aber es läßt ihm keine Ruhe. Nach einigen Rundgängen lehnt er sich ans Fenster, tritt aber bald hastig zurück und beginnt, wieder in der Stube auf und ab zu schreiten.
„Hmhm — hmhm — ach wås — ja, ich muß doch assa! — — — nuch! — — ich wår doch nich extra böse! — vr wås is man ein Mån! — — — åber sie is eben doch noch krank, då . . . . . . . . . . Warum leeft sie naus?! Die hätt’ sich gewiß gefreut! —“
Er zieht ein rotes Schächtelchen heraus und sieht hinein.
Endlich überwindet er sich ganz:
„Åh, sehn mr, wo sie is. Ich wer mirsch dådermit noch nich verderba, wenn ich auch amål nachgebe.“
Dann steigt er in den oberen Stock.
Die Thür zur alten Stube ist von innen verriegelt.
„Lorla, dummes Weib, mach uf!“
Es giebt keine Antwort.
„Du, ich hab dr wås mitgebråcht, wås scheenes — — a Rengla.“
Die Thür blieb verschlossen.
„Ich bin wieder gut, ganz, ganz gut.“
Kein Laut.
Eine Weile überlegt er noch. Dann geht er wieder hinunter.
„Ja, då muß sie halt ausbusta, hmhm! — Åber ich hätt’s nich gedacht von’r — Un jetz schon, un jetz schon-“ —
— — —
Als er draußen rüttelte und ein barmherziges Beben seine fette Stimme seelenvoll tief machte, riß Leonore ihr Gesicht aus den Händen. Die Thür wankt! Auf den Zehen eilt sie hin und stemmt sich gegen sie: — „Nein . . . . nein . . . . oh . . . . nein, nie! . . .“ stöhnen ihre Gedanken, und als ganz ferner Ton schimmert der Wunsch durch ihre Erregung, daß die rüttelnde Kraft sich steigern möge zur Riesengewalt, die in wahnsinnig fiebernder Inbrunst die Thür mit der Füllung eindrückt, die Wand einhaut, alles, alles niedertritt — alles — um jubelnd zu ihr zu gelangen, die bebend an der Thür lehnt und mit kalten Fingern das Schloß umklammert.
Der Instinkt des Weibes ist in ihr erwacht, und sie lechzt nach einer unterjochenden Kraft, die auf unbegreifliche Weise ihre Erfüllung und Ergänzung ausmachen mußte.
Aber er geht . . . . langsam . . . . ohne Fluch . . . . ohne Stampfen, ohne alles, was ihr ein Hoffen ermöglicht. Er geht mit den gewohnten, gleichmäßigen Lauten der Ruhe . . . Himmel! . . . . nein! . . . . er lacht gar??! . . .
Blind, ohne Bild, ohne Gedanke, stößt es in ihr auf und betäubt sie. Jeder Ausruf stirbt in ihr, und sie versinkt in das in seiner Dumpfheit so starke Schmerzgefühl des Weibes, das seine erste Enttäuschung erlebt.
* * *