Читать книгу Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen - Hermann Stehr - Страница 20

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Inhaltsverzeichnis

So kam Leonore abermals in einen Traumzustand. Von der dauernden Mystik, welche ihre Seele früher erfüllt hatte, unterschied er sich durch das blutvollere Spiel einer Episode. Er blühte bis in das Geräusch des Tages hinein. Mitten im Schaffen erlag sie ihm, einer weichen, lösenden Mattigkeit. Dann fühlte sie sich aufblühen, als dehnten sich vertrocknete Gänge in ihr durch eine losbrechende Flut der Befruchtung. Und sie gab sich diesen Momenten vorwurfslos hin. Mit keinem Aufreißen des Willens zur Pflicht, wie früher, rüttelte sie an den versunkenen Thoren ihres Bewußtseins. So verschwand die uranfängliche Spaltung ihres Wesens. Ihr Tag wandelte in ihrem Traum, und der Puls ihrer Seele schlug in allen Handgriffen.

Dann saß sie, scheinbar wie immer, die feinen Finger in unruhigem Spiel bewegend. Aber ihre weichblauen Augen standen nicht verloren in einem weißen, scharfen Gesicht, sondern ihre Blicke glommen, und die Brust ging stürmischer, ein sieghafter Zug lag auf ihrem blühenden Antlitz.

Denn ihre Gestalt rundete sich mehr und mehr. Die keimende Woge eines jungen Busens blühte in volleren Wallungen. Das Weiß ihrer Nägel wich einem immer satteren Rot, und das müde Blond ihres reichen Haares war goldiger.

Auch das wesenlose Lied ihrer Seele schien verstummt. Die krankhafte Starrheit war von dem rechten Auge gewichen. Lag sein Lid auch noch in alter Kraftlosigkeit über ihm hin, so wandelte es darunter doch ohne Hemmung wie der Stern des anderen. Eine unnennbare süße, heiße Fülle empfand sie auch oft, wenn sie den Knaben küßte.

Jäh aufkochende Glut riß sie dann aus dem Tritt ihrer gewohnten Arbeit. Sie warf weg, was sie in der Hand hielt, eilte fliegend zu dem Kinde und nahm es jubelnd aus der Wiege.

„Frau, Sie missa Gustlan nie immer aus’m Schlofe reißa. Oan wenn ach, dat åber hiebsch staate: psch, psch Gustla! — Asu, dåß a recht langsam ufwacht. A kån jå amål vr Erschrecknis de Krämpfe krieja,“ verwies es ihr die Amme.

Das war das Wuchten heißer Stöße, wie wenn ein Sturm einsetzt.

Dann lag die alte Fremdheit, die tote Schicht wieder Tage lang zwischen ihr und dem Knaben. Umsonst langte er von dem Arm der Amme mit lallenden Lauten nach ihr. Sie ging achtlos vorüber, kaum daß sie ihm ein zerstreutes, leeres Lächeln zuwarf und sein Weinen rührte nicht an ihr Gemüt.

Auch mitten im Taumel ihrer Glut erlag sie dieser eisigen Ausschaltung.

Die Bewegungen des Knaben, die eben noch von einem Schimmer umgeben waren, wurden ihr zuwieder; der Duft süßer Kindheit verschwand, und sie roch die süßsaure Dumpfheit, die um kleine eben liegt. Die selige Musik der Kinderstimme, die nur das Herz hört, war wie versunken, und sie vernahm unausstehlich schneidende Laute.

Dann warf sie den Knaben hin und eilte hinaus, um stundenlang in einer Starre dazusitzen, die am Ende in eine gespannte Stumpfheit überging. Sie vermied jede Gesellschaft und ging verstört umher, bis endlich ein sanftes Weinen sie von den Klammern dieses seelischen Krampfes erlöste.

In ruhigen Minuten klarer Bewußtheit machte sie den festen Vorsatz, diesen heißen Überfällen ihrer „Laune“ durch stetige Sanftmut entgegenzuwirken. Aber was galten die Fälle, in denen dieser Selbstzwang ihr gelang, gegen jene häufigen Ausbrüche, die sie nötigten, ihr Kind in peinvoller Bedrängnis von sich zu stoßen!

„Warum schmeißt du nu Gustlan wieder hin wie ee‘n Wechselbålg?“ verwies es ihr die Mutter, die Joseph auf „die neue Krankheit“ Leonores aufmerksam gemacht hatte, und die gekommen war, ihr wieder „a Kop zurechtezusetza“.

Leonore hatte sich an das Fenster geflüchtet und starrte blicklos hinaus. Sie beantwortete die Frage ihrer Mutter nicht, denn die Erschöpfung der Ernüchterung machte sie wie regungslos.

Aber die Mutter ruhte nicht, mit Fragen an der Thür dieses rätselhaften Zustandes zu rühren. Lange war es umsonst. Endlich drehte sich Leonore um und sah sie tief an, mit bitterem Blick. Dann klemmte sie die Hände zwischen die Knie und bewegte ihren Oberkörper pendelnd hin und her.

„Hm, hm,“ setzte zitternd ihre Stimme ein, „wås sol ich erscht reden? s is eben wieder wås, wås ihr nie verstieht.“

„Liebes Lordl, sieh‘ch ich bin deine Mutter un es thut mr leed, wenn du dei Kend aso behandelst. Ich kann mersch denka, es thut dr wieh eim Herze, selber, denn wås fr eene Mutter . . . . flenn nie, Lordl, . . . sä‘ mrsch lieber, verleicht kån ich dr helfen.“

Leonore schüttelte traurig das Haupt.

Nach einer wägend hinschauenden Weile erzählte sie es doch mit jenem verhauchenden Tonfall, wie man ein traurig-unverständliches Märchen sagt:

„. . . es håt um dås Kind wås, dås is scheener wie Blumen, wie‘s Licht, wie dr Vogel singt . . . irgend wås. Dås kemmt und geht oder versinkt eis Kind und blüht wieder raus . . . kein Hauch . . . nein ein zweetes . . . Jesses, wie sol ich blos sä’n . . . wenns Nacht is — — ja, sieh‘ch, jetze hab ichs — wenns Nacht is und der Mond scheint. Du gehst . . . am Mühlgraben hin und siehst iber die Wiese. ‘s Gras is schwarz wie ein Teich, und s Wasser thut wie ein Mensch, der stirbt. Då gehst de schneller und siehst dich um. Oh, dort drieben, mitten auf dr Wiese, steht plotze ein Engel im weißen Kleede und winkt dr mit seinen Armen und seine glänznichen Fliegel wehn. Du kannst dr nich helfen, gehst nieber drauf zu, die Herze hopst fr Freede und kannsts gar nich drwarten. Aber wie de näher kemmst verschwimmt das Scheene immer mehr. Nu bist de endlich da und streckst die Hand aus . . . da greifst de in ein‘ Dörnerstrauch, dei Hand blut’t — es raschelt um dich, und alles is häßlich und leer, daß dr angst und bange wird. — Sieh’ch aso geht mersch met Gustlan. Und wenn dås Scheene wie Mondschein wegfliegt von ‘m , då is statt ei’m Engel a Strauch . . . .“

Ihre Erzählung verlor sich ruckend in eine aufgeregte Versonnenheit. Sie erhob sich und sah vor sich nieder. Dann strich sie sich mit der rechten Hand die Haare an der linken Schläfe zurück. Mit geschlossenen Augen stand sie zurückgebogen da.

Plötzlich hielt sie im Schreck mit einer jähen Erkenntnis im Kosen ihres Leibes inne.

„. . . ja wahrhaftig . . . als wenn ich mei Kind gar nich gerne hätt, nich kißte, rausnehm, hielt‘ . . . das andre, wås um ihn is . . . das andre . . . verleicht . . . aber sä mr blos einer, wo kommt das andre her?“

Schlaff ließ sie den Arm sinken und starrte seiner fallenden Linie nach.

„Sahst de mein’ Arm sinken?“ sprach sie nach Augenblicken und schaute mit großen Augen auf ihre Mutter.

„Ach, nu freilich. — Då is doch auch weiter nischt drbei.“

„Nich? — Gell ock nein! ma wird noch rein verwirrt, und da war mirsch, wie ich meinen Arm sah‘ch niederfallen, als sellde das de Antwort sein of meine Frage.“ — —

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

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