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Als ich mich am nächsten Morgen im Bett aufsetzte, schlief Maximilian neben mir selig wie ein Kind. Bis Mitternacht hatte ich auf ihn gewartet, leider umsonst. Ich hatte keine Ahnung, wann er endlich nach Hause gekommen war.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es Viertel vor acht war. Ich zog den sonnengelben Schleier auf meiner Seite des Himmelbetts zurück und schlüpfte so leise wie möglich in meinen Frotteemantel. Dann schlich ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Am oberen Treppenabsatz sah ich, dass die Tür zum Gästezimmer nur angelehnt war. Auch wenn ich nicht sicher war, ob es eine gute Idee war, Benedetta noch vor meinem Morgentee zur Rede zu stellen, klopfte ich. Der Raum war jedoch leer, auch im Bad traf ich sie nicht an. War sie etwa schon wieder auf Tour?

Der gestrige Abend war entspannt gewesen. Vincenzo, Mona und ich hatten lange auf der Terrasse gesessen, wo es so warm gewesen war, dass ich in meinem dünnen Trägerkleid selbst nach zehn Uhr nicht gefroren hatte. In der Ferne hatten wir immer wieder Wetterleuchten gesehen. Hin und wieder hatte es gegrummelt, das Gewitter war jedoch nicht näher gekommen.

Ich hatte es genossen, mit meinem Sohn mehr als nur ein paar Worte zwischen Tür und Angel zu wechseln. Seit Mitte Juli, dem Tag des Notenschlusses, war er ständig irgendwo. Bei Schulfesten oder -ausflügen, auf Klimaschutzkundgebungen, beim Fußballspielen, bei Badenachmittagen an der Donau oder einem nahe gelegenen Weiher. Manchmal verlor ich den Überblick, wo er wann und mit wem unterwegs war.

Natürlich begrüßte ich es, dass er so aktiv war, anstatt nur vor der Playstation oder dem Computer zu sitzen wie so manch andere seiner Altersgenossen. Aber manchmal dachte ich doch mit Wehmut an die Tage, als er seine Freizeit noch überwiegend zu Hause verbracht und mich vor allem detailliert in seine Pläne eingeweiht hatte.

Auch an diesem Wochenende hatte er einiges vor. Gemeinsam mit Florian und der restlichen Fridays-for-Future-Hardcore-Gruppe ihrer Schule würde Vincenzo heute nach Kallmünz radeln, um dort das Wochenende zu verbringen. Auf einem Zeltplatz an der Naab wollten die Youngsters strategische Zukunftspläne für die Erde schmieden, Fußball spielen, am Lagerfeuer sitzen.

Ich hoffte sehr, dass die Jungs sich zu keiner der allseits so beliebten Vergnügungen hinreißen ließen, zu denen ich nie mein Einverständnis gegeben hätte. Aber erstens waren auch zwei Lehrer und ein Elternpaar mit von der Partie, die ein Auge auf ihre Schützlinge haben würden. Und zweitens wusste ich zu gut, dass ich meinen Sohn nicht für alle Ewigkeit vor den Verführungen des Erwachsenwerdens bewahren konnte. Vor Alkohol oder was auch immer.

In der Küche, sah ich, als ich die Tür aufstieß, war Benedetta ebenfalls nicht. Dann war sie wohl tatsächlich schon wieder unterwegs, um Kirchen zu besichtigen.

Auf dem Tisch lag ein Zettel von Maximilian. Daneben stand die Weinflasche, die gestern Abend fast noch voll gewesen war – leer bis auf den letzten Tropfen. In der Spüle stapelten sich die Teller, auf denen ich sein Abendessen gerichtet hatte. Darauf eine Espressotasse, wahrscheinlich von Benedetta, und Monas riesige Kaffeetasse. Wie so häufig hatte sie ihren Morgencappuccino in meiner Küche getrunken und mir wieder einmal das Aufräumen überlassen.

»Meine Anna«, las ich auf Maximilians Zettel, mein Name war von einem Herz eingerahmt, »deine Parmigiana ist die beste der Welt, und eine solche Pannacotta gibt es wohl im ganzen Universum kein zweites Mal. Es ist schon halb drei, Brunch bitte nicht vor zwölf. Tausend Küsse, M. PS: Ich liebe dich«.

Das Postskriptum war groß geschrieben, mit fünf Ausrufezeichen. Ich musste lächeln – die Liebe ging eben doch auch durch den Magen.

Ich schaltete den Wasserkocher an, füllte meinen geliebten Assam, stark und fast so schwarz wie die Nacht, in das Teesieb, holte Milch aus dem Kühlschrank und inspizierte mein Mobiltelefon. Keine Nachrichten. Weder von Paolo noch von Mona oder Benedetta.

Dass Paolo sich so still verhielt, erstaunte mich nicht. Sein Urlaub war kein Urlaub im herkömmlichen Sinn. Er hatte sich in ein Kloster am Chiemsee zurückgezogen, um zu schweigen, zu meditieren, in sich zu gehen. Das Handy hatte er an der Pforte abgegeben, nicht einmal mit seinen Mitinsassen – wie sonst sollte man die anderen Schweigenden nennen? – durfte er sprechen. Ich hoffte sehr, dass ihm diese freiwillig auferlegte Prüfung guttat. Seit Lilo, seine langjährige Lebensgefährtin, sich von ihm getrennt hatte, war er nicht mehr der Alte.

Ich räumte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Nach dem Tee und der Dusche würde ich zur Kripo fahren, zu einer weiteren Zeugenaussage hinsichtlich der gestrigen Vorfälle im Dom und um das Protokoll zu unterschreiben. Bis zum Brunch mit Maximilian blieb mir anschließend sicher noch genug Zeit, um in Straubing zu recherchieren, dieses Mal in der »Rossi-Immo-Service GmbH«. Vielleicht bekam ich in Vittorio Rossignolos Firma ja tatsächlich einen Hinweis auf die neue Besitzerin der Gemälde, die ich für meine Auftraggeber aufspüren sollte.

Der Wasserkocher schaltete sich aus. Ich goss den Tee auf, öffnete die Verandatür und trat hinaus.

In den Sträuchern und Laubkronen der alten Bäume zwitscherten Spatzen und Meisen, Amseln sangen ihre vielstimmigen Melodien. Die Rosen- und Lavendelbüsche waren eine einzige Pracht, und dank Maximilian leuchtete das Grün des Rasens, auf dem noch immer der Fußball lag, hell in der Morgensonne. Tief sog ich die schon jetzt heiße Luft ein. Ich freute mich auf das Wochenende mit meinem Hobbygärtner. Nur wir beide.

Das Gespräch mit dem Anwalt und vielleicht auch Vincenzos Pläne hatten Mona gestern Abend davon überzeugt, dass sich etwas ändern musste. Schluss mit Trübsal, Schluss mit der Angst vor dem, was vielleicht, was hoffentlich nie auf sie zukommen würde. Spontan hatte sie beschlossen, das Wochenende nicht in Regensburg zu verbringen, sondern am Gardasee gemeinsam mit einer Kollegin aus der Redaktion. Sonne satt, Urlaubsfeeling pur, endlich wieder einmal leben. Allein schon der Gedanke daran hatte sie wieder in die leichtfüßige Elfe verwandelt, die ich seit Wochen vermisste.

Für die Samstagsschicht im »BellaDonna«, für die eigentlich Mona eingeteilt war, sprang eine unserer verbliebenen Aushilfen ein. Da am Montag ohnehin Benedetta dran war, konnten Mona und ihre Kollegin sich für die Rückreise Zeit lassen.

Ich holte den Fußball und legte ihn in eine Ecke der Terrasse. Zurück in der Küche goss ich den fertig gezogenen Tee in meine Lieblingstasse mit veilchenfarbenen Blümchen und gab Milch dazu. Beim ersten Schluck hörte ich die Tür von Vincenzos Zimmer oben zuknallen, ungewohnt früh. Der Ausflug mit seinen Freunden lockte.

Welche Pläne Benedetta für heute und morgen hatte, wusste ich nicht. Von dem anstehenden Gespräch mit ihr würde ich mir das Wochenende jedoch nicht verderben lassen. Irgendwann würde ich sie schon noch erwischen.

***

Das Entree der »Rossi-Immo-Service GmbH« war genauso nobel wie Vittorio Rossignolos Privathaus, wenn auch auf andere Weise. Über drei Stockwerke zog sich die Halle, bis unters mit Holzbalken abgestützte Dach. Die vorherrschende Farbe war asphaltgrau. Dazwischen gekonnt in Szene gesetzte Farbkleckse in Form von Blumenarrangements, sichtlich wertvollen Gemälden und Lithografien, die sogar an diesem sonnenhellen Vormittag per Lichtspot angestrahlt wurden.

Der Besuch bei der Kripo in der Bajuwarenstraße war schon erledigt. Auf dem Weg nach Straubing hatte ich mit verstellter Stimme in Vittorio Rossignolos Firma angerufen und zu meiner Erleichterung erfahren, dass der Chef selbst nicht im Büro war, sondern wie immer an Samstagen im Homeoffice arbeitete. Gewiss wäre er nicht begeistert, wenn er wüsste, dass ich hier herumschnüffelte.

Das Immobilienunternehmen befand sich in einem modernen Gebäude, in einem offenbar ziemlich neuen Industriegebiet im Westen der Stadt. Der gepflasterte Platz vor dem mit viel Glas versehenen Bauwerk führte in einen Hof. Dort schien außerdem eine Spedition untergebracht zu sein, vor einer Rampe wurde ein Lkw beladen.

Ich ging auf die gläserne Eingangstür zu. In den oberen Stockwerken, die über eine Holztreppe zu erreichen waren, sah ich nur eine einzige gebeugte Gestalt vor einem Bildschirm sitzen. Hinter dem wuchtigen Tresen im Erdgeschoss trippelte eine Frau auf und ab, mit Headset, im eng anliegenden Hosenanzug und blutjung. Ich schätzte sie auf noch nicht einmal zwanzig.

»Am Montag, ja, da ist er wieder im Haus«, sagte sie in höflichem, fast säuselndem Ton, als ich das Entree betrat. »Aber Sie könnten auch mit Herrn Sassi sprechen, Herr Schönbrinck. Er ist unsere Notbesetzung heute, außerdem voll im Thema und …«

Sie schwieg, blieb vor einem Bildschirm stehen und tippte hektisch auf einer Tastatur herum, während ihr Telefonpartner augenscheinlich gerade explodierte. Immer wieder versuchte sie, etwas Beruhigendes einzuwerfen, jedoch vergebens, und ihr zarter Teint lief allmählich dunkelrot an.

»Nun, wenn es so dringend ist, stelle ich Sie doch lieber an Herrn Rossignolo persönlich durch«, sagte sie schließlich. »Einen ganz kleinen Moment bitte, ich verbinde.«

Sie drückte auf einen Knopf an ihrer Telefonanlage, ihr Blick streifte mich. Sofort erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, wenn auch etwas schief. Mit bemüht entspannter Geste deutete sie auf eine Sitzgruppe aus Leder gegenüber dem Tresen.

Ich setzte mich auf einen Sessel mit Sicht auf den Empfang, über dem ein riesiges Bild von Andy Warhol hing, eine handkolorierte Lithografie in den typischen knalligen Farben. Es roch nach Kaffee und einem kaum wahrnehmbaren Zitrusduft. Leise Klaviermusik perlte aus unsichtbaren Lautsprechern.

»Emma hier«, hörte ich die Empfangsdame mit leiser Stimme sagen. »Ich soll dich ja nicht stören, Vittorio, tut mir auch echt leid. Aber es geht nicht anders.«

Natürlich spitzte ich die Ohren. Berufskrankheit.

»Ich hab wieder den Herrn von der Bank in der Leitung, der führt sich auf, sage ich dir.« Ein tiefer Seufzer. »Genau, den von gestern.«

Die Sitzecke befand sich in einer komplett verglasten Nische, sodass ich den Innenhof einsehen konnte, den ich von draußen schon bemerkt hatte. Hinter dem Lkw standen zwei Lieferwagen, der eine schwarz, der andere weiß, mit geöffneten Heckklappen. Vom heutigen Samstag war dort draußen nichts zu spüren. Männer in Arbeitskleidung luden Kisten in die Transporter. Ein wesentlich jüngerer Mann säuberte mit einem Dampfstrahler die Bodenfliesen.

»Ich hab echt alles versucht, Vittorio. Aber er will nur mit dir sprechen, natürlich jetzt sofort, und außerdem geht es um Leben und Tod und … Glaub mir, Vittorio, das hat er gesagt, wortwörtlich … Natürlich, ständig sagt er das, du hast ja recht. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich ihn …« Wieder seufzte sie, nun aber erleichtert. »Okay, danke, das ist echt lieb.«

Erneut drückte sie auf ein Knöpfchen. Dann wandte sie sich mir zu, dieses Mal mit perfektem Empfangsdamenlächeln. Ich stand auf und erklärte im Näherkommen, ich sei auf der Suche nach einer Eigentumswohnung in Regensburg.

»Fünf Zimmer, darunter auf keinen Fall, gern in der Altstadt, aber natürlich ruhig«, holte ich aus. »Neu oder renoviert, ganz egal, in jedem Fall aber mit Top-Ausstattung. Haben Sie so was?«

»Da können wir Ihnen tatsächlich ein geeignetes Objekt anbieten«, flötete sie. »Ein wundervolles Appartement, sehr zentral, und die Ausstattung absolut hochwertig.«

Mit ihren nudefarbenen Gelnägeln klickte sie ein paarmal auf die Maus. Sie trug einen vollen Bob unter einem akkurat geschnittenen Pony, wodurch ihr an und für sich schmales Mädchengesicht um einiges pausbäckiger wirkte, als es tatsächlich war.

»Und das hier«, kurz hielt sie inne, »das hier hat sogar einen Traumblick auf die Donau, ganz in der Nähe vom Marina-Viertel übrigens, so was kriegen Sie sonst …« Sie stutzte. »Da gibt es wohl schon einen Interessenten, sehe ich gerade. Aber wenn wir uns beeilen, vielleicht … In welchem Preisrahmen, sagten Sie?«

»Das spielt keine Rolle.«

Ihr Lächeln wurde noch eine Spur umwerfender und das Klicken um einiges engagierter.

Nach der Dusche hatte ich mich für eines der nobelsten Outfits entschieden, das ich besaß. Mit dem knapp sitzenden Kostüm von Giorgio Armani, so mein Gedanke, würde ich meiner kleinen Show die entsprechende Authentizität verleihen. Schließlich sah man dem farbenprächtigen Ensemble aus Seide und Leinen nicht an, dass es aus zweiter Hand stammte, wie so viele meiner besten Stücke. Dazu trug ich eine Handtasche aus jadegrünem Kalbsleder und Nonna Emilias prächtigste Perlenkette, die noch aus den goldenen Zwanzigern des letzten Jahrhunderts stammte.

Ein Drucker surrte, das Empfangsdämchen zog einen Farbausdruck nach dem anderen heraus. Während ich die Lithografie an der Wand hinter ihr betrachtete, steckte sie alles in eine grüne Klarsichtfolie.

»Hier haben Sie schon mal die Eckdaten.« Sie reichte mir die Unterlagen und wies wieder zur Sitzgruppe. »Ich informiere sofort einen unserer Berater.« Ihr Blick flog zum Display ihrer Telefonanlage. »Wenn Sie vielleicht fünf Minuten Zeit hätten, er spricht nämlich gerade. Darf ich Ihnen solange eine Tasse Kaffee …?«

»Eigentlich wollte ich mit dem Chef persönlich sprechen«, unterbrach ich sie mit in die Hüfte gestemmter Hand und hochgezogenen Brauen.

»Aber natürlich, entschuldigen Sie bitte.« Ihre Finger, die schon wieder über einem Knöpfchen flatterten, kamen zum Stillstand. »Leider ist er heute nicht im Haus. Ich könnte Ihnen aber gleich den ersten Termin für den kommenden Montag reservieren.«

»Das geht nicht, lieber Donnerstag«, sagte ich mit Blick auf mein Handy. Bis dahin hatte sie meinen Besuch hier hoffentlich vergessen. »Und nach siebzehn Uhr, bitte.«

»Ich hoffe wirklich sehr, dass das Objekt bis dahin nicht schon weg ist. Wie gesagt, der andere Interessent. Wie sieht’s denn am Dienstag bei Ihnen aus?«

Ich rollte mit den Augen. »Da bin ich in Amsterdam.«

»Verstehe. Gut, ich trage Sie sofort für Donnerstag ein, vielleicht haben wir ja Glück. Wie war der Name, sagten Sie?«

Da ich mich in Manfred Billichs Kunstagentur schon als Mona ausgegeben hatte und selbstverständlich nicht als Anna di Santosa in Erscheinung treten wollte, nannte ich nun einen anderen, von meinem Ex-Mann entliehenen Namen: »Paula Wolf.«

Paolo hieß im richtigen Leben Paul Wolf.

»Wunderbar. Darf ich Sie gleich in unsere Kundendatei aufnehmen, Frau Wolf?«

»Das machen wir dann am Donnerstag.«

Hoheitsvoll verabschiedete ich mich, warf einen letzten Blick auf die Lithografie über ihr, die ein drucksigniertes, vermutlich limitiertes Porträt Liza Minellis zeigte, und wandte mich zum Ausgang. Nach ein paar Schritten kehrte ich wieder um.

»Der Warhol gefällt mir übrigens unglaublich gut. Was meinen Sie, würde Ihr Chef mir den vielleicht überlassen?«

»Nun ja.« Ihr Profilächeln, das sie mit meinem vermeintlichen Abgang schon ausgeknipst hatte, erschien erneut. »Dazu kann ich Ihnen leider gar nichts sagen, Frau Wolf. Das besprechen Sie lieber direkt mit Herrn Rossignolo.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Chef nicht nur ein sehr angesehener Sammler ist, sondern auch mal das eine oder andere Einzelstück verkauft. Das stimmt doch, oder?«

»Wie gesagt, Frau Wolf, wenn Sie nächste Woche …«

»Verschicken Sie die verkauften Bilder auch von hier? Das wäre für mich wirklich der einfachere Weg, ich bin ja ständig unterwegs.«

Das Telefon läutete, ihr Blick flog wieder zum Display der Telefonanlage. »Das erledigt immer die Spedition.«

Ich musterte sie fragend. Sie machte eine flüchtige Kopfbewegung in Richtung Innenhof.

»Es wäre wirklich besser, wenn Sie das mit Herrn Rossignolo persönlich besprechen, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Ein letztes warmes Lächeln, sie drückte den Knopf. »›Rossi-Immo-Service GmbH‹, ich bin Katinka, was kann ich für Sie tun?«

Ein Gabelstapler holperte bald darauf an mir vorbei und auf den Lkw zu, dessen Seitenplane jemand zurückgeschlagen hatte. Auf einem Schild ein paar Meter neben der Rampe hieß es »New Transports GmbH«, darüber waren noch weitere Firmenschilder angebracht. Außer der Spedition residierten in dem Gebäudekomplex, das den Hof umgab, das Zahntechniklabor »Lohbichler und Huber«, eine Investmentfirma, zwei Arztpraxen und ein Copyshop.

In weitem Bogen ging ich um den Mann mit Dampfstrahler herum, aus dem es blies und zischte. Die Lieferwagen standen noch da, jetzt mit geschlossenen Hecktüren, die einen Schriftzug mit dem Namen der Spedition trugen. Der Großteil der Arbeiter, die sie beladen hatten, war verschwunden. Nur einer lungerte noch in einer Ecke herum und rauchte.

Der mit Kisten unterschiedlicher Größe beladene Gabelstapler hielt vor der Ladefläche des Lkws. Der Fahrer, ein untersetzter Schnurrbartträger, studierte das Klemmbrett, das vor seinem Sitz auf einer Ablage lag. Dann ging er nach vorn, packte die oberste Kiste, setzte sie aber sofort wieder ab und fluchte in derbstem Niederbayerisch.

»Pete, mach mal rüber!«, rief er über die Schulter mit leicht osteuropäischem Akzent. »Das Packstück hier, das muss mit nach Ingolstadt, und allein heb ich mir einen Bruch.«

Der mit der Zigarette tat einen letzten Zug und drückte den Stummel in einem an der Gebäudemauer angebrachten Aschenbecher aus. Gemeinsam trugen sie die Kiste zu den Lieferwagen, die in einiger Entfernung standen. Mich beachteten sie nicht.

Auf der Ladefläche des Gabelstaplers, sah ich beim Näherkommen, befanden sich noch drei weitere Pakete, die von der obersten Kiste verdeckt worden waren. Sie waren allesamt länglich, zudem sehr flach. Etwa ein Meter auf anderthalb. Sollten in diesen Paketen etwa die Bilder der Kalterers sein? Die Abmessungen würden passen.

Die beiden Männer rumorten im Inneren des weißen Lieferwagens. Schnell trat ich noch ein paar Schritte näher und warf einen Blick auf das Klemmbrett.

Das oberste Blatt, ein Kommissionsbeleg der »New Transports«, war auf eine Adresse in Ingolstadt ausgestellt, ein Supermarkt, der mit einem Packstück beliefert wurde. Ich blätterte um, las: »Colli, drei«. Der Beleg, der mich interessierte. Als Versender war die »Rossi-Immo-Service GmbH« in Straubing eingetragen, als Empfänger: »Da Ernesta, Burg…«

»Kann ich Ihnen helfen?«, rief jemand.

Ich hob den Kopf. Der Schnurrbartträger marschierte auf mich zu und musterte mich misstrauisch.

»Ich suche den Beleg für die Sendung nach Passau«, sagte ich ohne Zögern und trat einen Schritt zurück. »Die soll nämlich nicht in die Flussgasse, sondern in die Schiffergasse, unser neuer Assistent hat da was durcheinandergebracht.« Ich wies zu den Firmenschildern. »Zahnlabor Lohbichler, mein Mann ist einer der Geschäftsführer. Ich bin heute nur aushilfsweise da, Alfons hat ein Reitturnier, und der Neue ist im Freibad.«

»Flussgasse, sagen Sie?« Der Mann, er war einen halben Kopf kleiner als ich, blätterte schon eifrig. »Passau, hm, finde ich nicht.« Sein Argwohn war verschwunden. »An welchen Empfänger soll das gleich noch mal gehen?«

Ich nannte einen Phantasienamen. Die Gassen hingegen existierten tatsächlich, wie ich von einem früheren Auftrag wusste, bei dem mich eine Spur zu einem Donauschiff in die Drei-Flüsse-Stadt geführt hatte.

»Komisch, kann ich mich gar nicht dran erinnern.« Der Schnurrbartträger kratzte sich am Kopf. »Und das soll heute raus?«

»Wenn es am Montag ankommen soll, muss es ja heute raus, oder nicht?«

»Aber bei uns doch nicht. Alles, was heute das Lager verlässt, landet noch heute beim Kunden, zumindest die Inlandslieferungen. Just in time, Sie verstehen? An sechs Tagen die Woche.«

»Dass Sie so flott sind, war mir nicht klar. Der Beleg liegt bestimmt noch im Büro.« Ich verzog das Gesicht. »Das kommt davon, wenn man immer drei Sachen gleichzeitig macht. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie behelligt habe.«

»Passt schon, Frau Lohbichler, passt schon.«

Ich nickte ihm zu und wandte mich zum Gehen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er mich wieder eingehend betrachtete, dieses Mal jedoch mit anerkennender Miene.

»Sie können mich gern jederzeit wieder behelligen«, rief er mir nach. »Oder darf man das zu Zeiten von MeToo gar nicht mehr sagen?«

Stille Donau

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