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1 Einführung 1.1 Anforderungen auf dem Platz

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Schiedsrichter sind körperlich und mental gefordert. Sie treffen eine Reihe von Entscheidungen auf dem Platz. Doch wie viel Prozent einer Spielleitung sind Kopfsache? Schätze doch einmal und schreibe einen Wert von 0 bis 100 % auf den Zettel! Am besten bevor du weiterliest.

Zu was für einem Ergebnis bist du gekommen? Vielleicht ist der Wert bereits hoch und liegt bei 50 % oder sogar weit darüber. Dann wird dich Folgendes vielleicht wenig überraschen und in deiner Einschätzung, dass Pfeifen auch Kopfsache ist, bestätigen. Vielleicht ist der Wert aber auch niedriger und liegt unter 50 %. Dann bin ich gespannt, was du nach dem Lesen der folgenden Abschnitte denkst. Diese sollen einen kleinen Eindruck von den Anforderungen geben, die mit der Schiedsrichtertätigkeit verbunden sind.

Als Schiedsrichter triffst du viele Entscheidungen während einer Spielleitung. Eine Analyse der Europameisterschaften 2004 zählte 137 beobachtbare und 60 nicht beobachtbare Entscheidungen eines Schiedsrichterteams (Helsen & Bultynck, 2004). Setzt man dies zur Nettospielzeit in Relation, trifft der Schiedsrichter alle 15-20 Sekunden eine Entscheidung. Für die Entscheidung selbst bleiben auch nur wenige Sekunden (vgl. Raab, Avugos, Bar-Eli & Mac-Mahon, 2020). Du nimmst eine Situation wahr, beurteilst sie im Kopf und fügst in Sekundenschnelle alle Informationen zusammen, um eine Entscheidung zu treffen und diese dann auch zu kommunizieren. Das Zeitfenster für die Entscheidung ist eng. Die Situationen oft nicht eindeutig.

Stelle dir einmal folgendes Szenario vor: Du leitest als Schiedsrichter ein Spiel. Es steht unentschieden und es läuft bereits die Nachspielzeit. Du schaust auf die Uhr. In nicht einmal einer Minute ist Schluss. Bleibt es bei einem Unentschieden, dann steigen beide Mannschaften ab. Gewinnt eine Mannschaft, hält sie die Klasse.

Ein Angriff der Gäste wird nun abgefangen. Es kommt zum Konter: zwei gegen zwei. Du sprintest. Ein Angreifer – der Gastgeber – dringt in den Strafraum ein. Es kommt zum Zweikampf mit dem Torhüter. Der Angreifer geht zu Boden. Foul oder kein Foul? Du musst nun eine Entscheidung treffen – es spielt keine Rolle, wie gut du die Situation beobachtet hast. Als Schiedsrichter kannst du keiner Anforderung so einfach entfliehen. Das macht es auch schwer, auf dem Platz die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Von außen betrachtet, erscheint der Job des Schiedsrichters oft spielend leicht. „Das muss der doch sehen. Warum pfeift der nicht?“, ist dann am Spielfeldrand zu hören. Leichter gesagt, als getan. Auf dem Platz ist die Perspektive eine andere. Der Schiedsrichter trägt die Verantwortung und muss binnen kurzer Zeit eine Entscheidung treffen, die korrekt ist und nach Möglichkeit auch die Akzeptanz bei Spielern, Offiziellen und Zuschauern findet. Als Schiedsrichter reicht es nicht aus, sehr gut zu sein, man muss immer dann sehr gut sein, wenn es darauf ankommt – eine typische mentale Anforderung von Leistungssportlern (vgl. Eberspächer, 2011).

Im Beispiel oben hängt von deiner Entscheidung als Schiedsrichter der Klassenerhalt einer Mannschaft ab. Deine Entscheidung hat Konsequenzen für andere. Im Regelwerk spielen die Konsequenzen keine Rolle: Ein Foul ist ein Foul. Doch Konsequenzen beeinflussen bewusst oder unbewusst den Schiedsrichter und seine mentale Verfassung auf dem Platz. Es ist etwas anderes, ein Vorbereitungsspiel zu pfeifen als ein Pokalfinale. Ein Spiel um die „Goldene Ananas“ ist (zumeist) leichter als der Abstiegskampf am letzten Spieltag.

So manch ein talentierter Nachwuchsschiedsrichter erweckte bei einer bedeutsamen Spielleitung den Eindruck, als habe er neben sich gestanden. Dieses Phänomen ist aus anderen Sportarten bekannt: Dort gibt es Trainingsweltmeister, denen im Training alles gelingt. Im Wettkampf unter Druck können sie jedoch die Leistungen nicht abrufen (Baumeister, 1984).

Konsequenzen führen dazu, dass Entscheidungen unter Druck getroffen werden müssen. Als Schiedsrichter musst du auch unter Druck souverän urteilen und entscheiden. Dies erfordert auch ein Stressmanagement.

Zeitdruck kann nicht nur auf dem Fußballplatz Stress auslösen. Auf dem Platz gibt es weitere Stressoren: Konflikte zwischen Spielern, Kommentare von Spielern, Trainern und Zuschauern sowie eigene Ansprüche an sich selbst, möglichst keinen Fehler zu machen, können den mentalen Druck weiter erhöhen und einen Schiedsrichter in eine Stresssituation bringen.

Greifen wir das Beispiel von oben wieder auf. Gleiches Szenario: Die letzte Minute der Nachspielzeit läuft. Es steht 1 : 1. Bleibt es dabei, steigen beide ab. Wer gewinnt, der hält die Klasse. Nun ist es aber ein Gästestürmer, der im Duell mit dem Torwart der Heimmannschaft zu Fall kommt. Du hast eine leichte Berührung gesehen. Der Torwart streift mit seiner Hand das Standbein. Der Stürmer kann weiterlaufen, gerät aber ins Straucheln, kann kaum das Gleichgewicht halten und fällt dann demonstrativ zu Boden.

Dir schießt vermutlich eine Frage durch den Kopf: War der Kontakt ausschlaggebend, damit der Spieler zu Fall kommt? Idealerweise beantwortest du für dich diese Frage schnell. Dir bleibt nicht viel Zeit, um nachzudenken.

Oft haben Schiedsrichter daher ein intuitives Gefühl. Im Gespann kannst du je nach Ort des Vergehens auch noch den Kontakt mit deinem Assistenten suchen. Je nach technischem Equipment kann es Funksignale, verdeckte Zeichen oder klare verbale Hinweise geben, die dich bestätigen oder nicht. Vielleicht schießt dir aber noch eine andere Frage durch den Kopf. Was ist, wenn ich jetzt den Strafstoß gebe? Was passiert dann? Eine derartige Frage führt schnell zu Zweifeln, die verunsichern. Die Folge kann sein, dass die Entscheidung – wie immer sie auch ausfällt – nicht so selbstbewusst wie nötig kommuniziert wird.

Zu viel über die Konsequenzen nachzudenken, schadet. Im schlimmsten Fall kann es zu Abwärtsspiralen kommen. Das ist meist der Fall, wenn im Spielverlauf Zweifel an vorangegangenen Entscheidungen aufgekommen sind. Nehmen wir einmal an, die strittige Strafstoßentscheidung ist nicht in der Nachspielzeit zu treffen, sondern bereits in den ersten zehn Minuten der Begegnung.

Dann kann es sein, dass das weitere Spiel den Schiedsrichter mental besonders fordert. Die Gedanken schweifen dann möglicherweise immer wieder ab. Sie sind dann nicht in der Zukunft bei den Konsequenzen, sondern in der Vergangenheit. Dann beginnt das Grübeln. War das richtig, vorhin weiterlaufen zu lassen?

Die Aufmerksamkeit wandert nach innen auf die eigenen Gedanken. Die Gefahr, dass dir dann auf dem Platz als Schiedsrichter etwas entgeht, steigt. Konzentrationsschwierigkeiten und Fehler können weitere Folgen sein. Verschärft wird dies dann, wenn du unter Beobachtung stehst. Dann kreisen die Gedanken zwischen Vergangenheit und Zukunft: „Habe ich einen Fehler gemacht? Wird der Fehler mich meine Klasse kosten?“

Als Schiedsrichter bedarf es hier einer Stressresistenz. Du musst auch in potenziellen Stresssituationen souverän urteilen und entscheiden. Besser noch, du kommst gar nicht in Stress, beugst Stress vor oder bewältigst aufkommenden Stress schnell und regulierst dich herunter. Die Reflexion von Stresssituationen, das Lernen aus Fehlern kann dazu führen, dass du künftige Stresssituationen besser meisterst. Das Gefühl, in Drucksituationen souverän geurteilt und entschieden zu haben, fördert die Stressbewältigungskompetenzen. Ein gelungenes Stressmanagement trägt auch zur Persönlichkeitsentwicklung bei (Kuhl, 2001).

Viele Schiedsrichter berichten, dass die Schiedsrichterei zur Persönlichkeitsentwicklung beigetragen hat. An die Rolle eines Schiedsrichters sind widersprüchliche Erwartungen gerichtet. Der Schiedsrichter kann es selten allen recht machen und muss dennoch unbeirrt handeln. Entscheidungen zu treffen, auch unter Druck, dies lernen Schiedsrichter mit der Zeit. Schiedsrichter werden so oft kompetenter und erleben, dass sie in ihrer Persönlichkeit reifen. Die Persönlichkeit wird vor allem aber auch durch kommunikative Anforderungen gefordert und idealerweise auch gefördert.

Als Schiedsrichter im Fußball bist du mittendrin, statt dabei. Du interagierst mit 22 Spielern und den Offiziellen. Gleichzeitig wirst du von Außenstehenden beobachtet. Die Schiedsrichtertätigkeit bietet so viele Lerngelegenheiten, den Umgang mit Menschen zu verbessern und sich Methoden anzueignen, um Konflikten zu begegnen. Die Persönlichkeit zeigt sich immer auch in der Interaktion mit Menschen – insbesondere in Stresssituationen.

Hier bietet die Psychologie Ansatzpunkte. Sie ersetzt nicht die eigene Erfahrung. Doch sie bietet dir Werkzeuge, mit denen du Erfahrungen reflektieren kannst. Doch was ist eigentlich Gegenstand der Psychologie?

Psychologie für Schiedsrichter

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