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Kapitel 5

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Dair

Obwohl Dair schon immer in Seattle und Umgebung gelebt hatte – Lakewood, Olympia und so weiter –, war er noch nie viel weiter östlich als Snoqualmie oder Monroe gewesen. Während sie durch den Okanogan-Wenatchee-Nationalpark fuhren, fragte er sich, warum. Es war atemberaubend schön hier.

Blauviolette Berge mit glänzend weißen Kappen aus Schnee erhoben sich über den dunkelgrünen Pinienwäldern, denen Robins Heimatstädtchen seinen Namen verdankte. Telefonmasten säumten den Rand der Straße, die sich durch die Hügel wand und sie immer näher zu dem Ort führte, den Robin so lange gemieden hatte.

Wieder köchelte die Wut in ihm auf und er umklammerte das Lenkrad mit festem Griff. Er wollte nicht, dass Robin ihn so zornig erlebte. Glücklicherweise wurde Robin durch Smudge abgelenkt, der ihn mit feuchten Hundeküssen bedeckte und zum Lachen brachte, während er erfolglos versuchte, das Lied von Britney Spears mitzusingen, das im Radio gespielt wurde.

Dair konnte nicht lange wütend bleiben, als er Robin so unbeschwert und fröhlich neben sich sitzen sah. Es war ein großer Unterschied zu dem Stress, unter dem er wegen dieses Klassentreffens vor einigen Tagen noch gestanden hatte. Dabei hatte sich Robin die Freude an der Landschaft und dem Wiedersehen mit seiner Familie nur verweigert, weil er sich unbewusst von diesem Bastard Mac fernhalten wollte.

Dair hatte einige Freunde unter den Männern seiner Einheit, die aus einem armen Elternhaus kamen oder als Kinder misshandelt worden waren. Er kannte auch einen Mann, dessen Familie war steinreich, bestand aber nur aus Arschlöchern. Es gab viele Gründe, seiner Herkunft oder seinem Elternhaus den Rücken zuzuwenden. Aber verjagt zu werden und sich unsicher zu fühlen, obwohl man zurückkehren möchte…

Er umklammerte das Lenkrad wieder fester. Das Leder knirschte.

»Alles okay bei dir?« In Robins topasblauem Blick lag Besorgnis, als Dair sich zu ihm umdrehte.

»Ja, bestens«, log er, doch das Lächeln, mit dem er Robin bedachte, war ehrlich gemeint.

Er war schließlich hier, um dafür zu sorgen, dass Robin nichts passierte und diese Woche so glatt wie möglich verlief. Er war hier, um dafür zu sorgen, dass Mac keinen Scheiß bauen konnte.

Er war nicht hier, um Mac die Fresse zu polieren, falls sie sich über den Weg liefen.

Je mehr sie sich Pine Cove näherten, umso nervöser wurde Robin.

Für Dair waren Seattle und die umliegenden Städte die einzige Verbindung zu seinen Eltern. Sie erinnerten ihn auch daran, was er verloren hatte – nicht nur seine Eltern, sondern auch das Leben, das er sich mit Malory aufzubauen gehofft hatte.

Malory lebte immer noch in der Stadt. Die Chance, dass sie sich über den Weg laufen würden, war so gering, dass keiner der beiden ein Problem damit hatte, in Seattle wohnen zu bleiben. Aber es gab viele Restaurants, Parks oder Kinos, die sie gemeinsam besucht hatten und die Dair an ihre gemeinsame Zeit erinnerten. Dair vermisste weniger Malory als vielmehr die Erinnerung an eine Beziehung, die diese Orte durchdrang und die sie in ihm weckten.

Manchmal hielt das, was man sich als Teenager gewünscht hatte, dem Lauf der Zeit nicht stand. Er und Mal hatten gute Zeiten erlebt. Doch er hatte sich nach Kindern gesehnt, und damit war Schluss gewesen. So war das eben. Dair war froh, dass sie immer noch Freunde waren.

Deshalb wollte er Seattle nicht verlassen. Er hätte auch nicht gewusst, wo er stattdessen hingehen sollte. Trotzdem konnte er verstehen, warum sich jemand dazu entschied, seine Heimatstadt zu verlassen.

Und Robin? Nach allem, was Robin und Peyton ihm erzählt hatten, schien Robin eine sehr liebevolle Familie zu haben, die immer an seiner Seite stand. Und obwohl Robins Eltern mehr als genug eigene Kinder hatten, hatten sie Peyton offensichtlich mehr oder weniger adoptiert und in die Familie aufgenommen. Peyton hatte Dair schon lange, bevor sie diese Scharade ausgeheckt hatten, von den Coals vorgeschwärmt.

Wäre Robin schon früher in seine Heimatstadt zurückgefahren, wenn Mac sie nicht bewachen würde wie ein tollwütiger Hund?

»Hey.« Dair griff über die Konsole und drückte Robins Bein. »Und mit dir? Auch alles in Ordnung?«

Es war merkwürdig, aber es fühlte sich gar nicht seltsam an, Robin zu berühren. Vorhin, als Dair das Selfie vorschlug, schien Robin etwas überrascht gewesen zu sein, doch dann hatten sie mit dem Foto viel Spaß gehabt. Robins Freund zu spielen, würde vielleicht viel einfacher werden, als Dair es sich vorgestellt hatte.

Er nahm die Hand von Robins Bein und legte sie wieder aufs Lenkrad. Dann warf er einen Blick auf die Seite und sah, wie Robin ihn beobachtete und schluckte. »Ich bin dumm. Es sind nur die Nerven. Wenn ich erst zu Hause bin, wird es besser.«

Ein plötzlicher Gedanke schoss Dair durch den Kopf. War er Robin vielleicht peinlich? Robin war so unfassbar klug und Dair konnte sich gut vorstellen, dass seine Familie ebenfalls sehr gebildet war. Dair hatte kaum den Abschluss der Oberschule geschafft. Er hatte sich immer wohler gefühlt, wenn er bis zu den Ellbogen in einem ölverschmierten Automotor steckte oder seinen Körper bis an die Grenzen seiner Fähigkeiten trieb. Bücher waren nicht sein Ding und vom Lesen schwirrte ihm der Kopf.

Machte sich Robin Sorgen, was seine Familie von dem Mann halten würde, mit dem er angeblich zusammen war?

Dair rutschte hin und her. »Ich werde mein Bestes geben, dich nicht zu blamieren«, sagte er, unvermittelt und aus dem Blauen heraus. Er hatte das Gefühl, Robin dieses Versprechen zu schulden.

Dair konnte von der Seite erkennen, wie Robins Kopf herumfuhr und Robin ihn ansah. »Was? Warum solltest du… Dair, du spinnst. Du bist ein ehemaliger Marine und du bist umwerfend!«

Das Kompliment überraschte ihn. Und noch mehr überraschte ihn Robins heftige Reaktion. Dair wurde warm ums Herz. Es tat gut, zu wissen, wie Robin fühlte. »Oh, äh… Danke. Aber ich bin nicht so klug wie du. Ich will nicht, dass deine Familie denkt, dein Freund wäre ein ungebildeter Dummkopf.«

Robin wurde rot und rieb sich den Nacken. Er war sichtlich aufgeregt. Dair fand ihn bezaubernd und drückte ihm kurz das Bein, um ihn zu beruhigen. Dann zog er die Hand zurück und lenkte den Wagen um die nächste Kurve.

»Den verrückten Nachrichten und Unmengen von Gifs nach, die in unserer Chatgroup geteilt werden, freut sich meine Familie einfach nur, dass ich überhaupt einen Freund habe«, murmelte Robin. »Nicht, dass… Du weißt schon.« Er zeigte auf Dair und sich. »Das hier ist die Wirklichkeit. Aber das müssen sie nie erfahren. Sie sorgen sich um mich. Und sie werden dich lieben. Sie werden vollkommen baff sein, dass ich mir einen so sexy Freund geangelt habe. Und genau deshalb werden sie uns vielleicht durchschauen und unser Spiel fliegt auf.«

Ihm entfuhr ein leicht hysterisches Lachen. Er war mittlerweile feuerrot geworden und starrte stur aus dem Seitenfenster auf die vorbeihuschenden Bäume. Dair runzelte die Stirn und schaute abwechselnd auf Robin und die Straße.

Eine ganze Reihe von Gedanken schoss ihm durch den Kopf – vor allem, dass Robin ihn innerhalb weniger Minuten erst umwerfend und dann sexy genannt hatte.

Dair hatte noch nie darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen würde, von einem schwulen Mann attraktiv genannt zu werden. Dabei war er schon seit über einem Monat nicht mehr beim Friseur gewesen. Er hatte die Freiheit genießen wollen, die Haare nicht mehr ständig abscheren zu müssen, wie es in seiner Zeit bei den Marines der Fall gewesen war. Dair hatte erwartet, dass ihn Robins Kompliment nervös machen würde, aber stattdessen fühlte er sich geschmeichelt.

Es gefiel ihm allerdings nicht, dass Robin davon ausging, sie würden nicht zusammenpassen. »Kumpel, versteh mich jetzt nicht falsch, aber du bist auch heiß. Ich sage das ganz objektiv, als dein Freund. Du siehst richtig gut aus. Also mach dich nicht immer schlecht.«

Robin schüttelte den Kopf und kraulte Smudge, der versuchte, ihm an den Fingern zu knabbern. »Du hörst dich an wie Peyton«, stammelte er.

»Dann steht es zwei zu eins und wir haben recht«, verkündete Dair stolz und war erleichtert, als Robin laut lachte und sich wieder sichtlich entspannte. »Pass auf… Ich weiß, wir legen die Wahrheit recht großzügig aus, wenn wir den Leuten sagen, dass wir ein Paar sind. Aber ich bin trotzdem als dein Freund mitgekommen, oder?« Er sah Robin mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ich bin gewissermaßen dein Cheerleader und Bodyguard in Personalunion. Und ich glaube an dich.«

Robin atmete prustend aus. Dair konnte seinen Blick spüren, bevor er an den Arm geboxt wurde. »Danke.«

Dair zwinkerte ihm zu. »Du schaffst das mit links, ja? Und wenn du nervös wirst oder mich brauchst, dann sagst du es mir. Ich bin für dich da. Dein… Cheerguard!«

Sie lächelten sich lange an. Dann musste Dair wieder auf die Straße achten und folgte den Anweisungen seines Handys. Den Rest der Fahrt verbrachten sie überwiegend schweigend, aber Robin blieb ruhig und entspannt.

Bis sie in die Einfahrt zu seinem Elternhaus einbogen.

»Oh Gott.« Robin schnallte den Sicherheitsgurt auf, blieb aber im Wagen sitzen. »Jetzt wird's ernst. Jetzt sind wir ein Paar.« Er zog eine Grimasse und gab Dair ein Zeichen: Daumen hoch!

»Ja.«

Dair leckte sich über die Lippen. Er war so damit beschäftigt gewesen, Robin aufzumuntern, dass er ganz vergessen hatte, über seine eigenen Gefühle nachzudenken. Robin hatte ihn umwerfend genannt. Und das war plötzlich eine viel größere Sache als in ihrer Wohnung, als sie beide betrunken gewesen waren.

Die einzigen Eltern, denen er jemals vorgestellt worden war, waren Malorys Eltern gewesen. Natürlich hatte er während seiner Schulzeit die Eltern von Klassenkameraden kennengelernt. Aber die hatte er schon lange wieder vergessen. Es konnte also nicht sehr bemerkenswert gewesen sein – ganz im Gegensatz zu Malorys Familie.

Ihr Dad war der Finanzdirektor einer großen Anwaltskanzlei in Seattle, ihre Mutter Innenarchitektin und ihre ältere Schwester Anwaltsgehilfin. Sie hatten ihn zwar akzeptiert, aber er hatte sich bei Familientreffen immer wie ein Außenseiter gefühlt.

Wie würde Robins Familie ihn empfangen? Er und Robin waren zwar kein richtiges Paar, aber das wussten die Coals nicht. Was war, wenn sie den grobschlächtigen Mechaniker nicht für würdig befanden, der Freund ihres gebildeten Sohnes zu sein?

Und spielte das überhaupt eine Rolle? Wenn diese Woche vorbei war, würde auch ihre angebliche Beziehung enden. Er war nur hier, um diesen Mac von Robin fernzuhalten. Und doch wünschte er sich jetzt die Anerkennung von Robins Familie. Es war ihm wichtig, dass Robin stolz auf ihn sein konnte und er Robin die Selbstsicherheit vermittelte, die ihm selbst plötzlich zu fehlen schien.

Die Haustür schwang auf und Dair setzte das strahlendste Lächeln auf, das ihm gelingen wollte. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, flüsterte er Robin mit zusammengebissenen Zähnen zu. Eine kleine, braungelockte Frau in mittleren Jahren kam auf die Veranda gelaufen und winkte aufgeregt, als bestünde die Gefahr, dass Dair und Robin sie übersehen könnten. »Deine Mom?«, fragte Dair.

Robin gab ein quiekendes Geräusch von sich.

Also gut. Das Spiel ging los. Sie waren auf einer Mission und Dair musste sich auf seinen Auftrag konzentrieren. Er kam Robin zuvor, stieg aus und lief um das Auto herum, um ihm und Smudge die Tür zu öffnen, wie er es von seinem Papa vor dessen Tod gelernt hatte. Natürlich war Mr. Epping davon ausgegangen, sein Sohn müsste es für eine Frau lernen. Das hieß aber noch lange nicht, dass Dair vergessen hatte, wie man sein Date höflich behandelte.

»Oh, danke«, sagte Robin leise und sprang aus dem Wagen. Smudge folgte ihm und fing sofort an, heftig an der Leine zu zerren. Er war in einem neuen Revier und wild entschlossen, jeden Quadratzentimeter zu beschnüffeln.

Das Haus der Coals war aus hellem Holz gebaut und hatte drei Stockwerke. Holzpfosten trugen das Dach der Veranda und eine Überdachung, unter der Autos abgestellt waren. Große Fenster ließen viel Tageslicht ins Haus. Dair war während ihrer Fahrt durch die Randbezirke der Stadt aufgefallen, dass nur wenige Häuser nebeneinander aufgereiht die Straßen säumten. Die meisten waren frei stehend. So auch das Haus der Coals, das von Pinien umgeben war und dreißig Meter von der Straße entfernt am Ende der Einfahrt lag. Dair holte tief Luft und atmete den Duft der Bäume ein.

Es gefiel ihm jetzt schon.

»Es ist schön hier.«

Robin schlug schweigend die Autotür zu. Er lächelte seine Mom nervös an, zögerte aber, auf sie zuzugehen.

Das war nicht der Robin, den Dair kennengelernt hatte. Wo war der Mann geblieben, mit dem er stundenlang die physikalischen Grundlagen des Warp-Antriebs der Enterprise diskutiert hatte? Der Mann, der ihn bei Call of Duty abgezogen hatte? Der Mann, der sich vor einigen Monaten offensichtlich seinem Chef widersetzt hatte, weil der eine falsche Entscheidung treffen wollte? Wo war der süße, lustige Kerl geblieben, der zu den Liedern von Carrie Underwood durch die Wohnung tanzte, wenn er sich unbeobachtet glaubte?

Okay. Genau deshalb war Dair hier. Um der perfekte Freund zu sein und Robin auf jede nur erdenkliche Weise zu beschützen. Und wenn dazu diese überraschende Nervosität gehörte, die Robin jetzt angesichts seiner Familie gepackt zu haben schien, dann war das auch in Ordnung. Dair fasste ihn an der Hand, drückte zweimal kurz zu und nickte dann in Richtung Haus.

»Ja, richtig«, stammelte Robin.

Smudge wollte unbedingt Mrs. Coal kennenlernen und zog an der Leine, bis ihm die beiden endlich zur Veranda folgten.

»Oh, Robin!«, rief seine Mom. Ihre Augen glänzten feucht hinter den Brillengläsern, als sie die Treppe heruntergelaufen kam und ihren Sohn umarmte. Dair erwartete, dass Robin seine Hand loslassen würde, doch Robin hielt sie nur noch fester umklammert. »Du siehst wunderbar aus. Ich könnte wetten, dass du gewachsen bist. Wie war eure Fahrt? Habt ihr genug gegessen? Das Abendessen ist bald fertig. Ich hoffe, ihr habt Appetit mitgebracht. Die anderen kommen auch noch und… Ach, bin so froh, dass ich dich wiederhabe!«

Dair spürte ein Stechen in der Brust. Malorys Mutter war auch nett gewesen, aber lange nicht so warm und herzlich wie Robins Mom. Es war unübersehbar, wie sehr Mrs. Coal ihren Sohn liebte. Dairs Erinnerungen an seine eigene Mom waren im Laufe der letzten zehn Jahre verblasst, obwohl er sie immer wieder wachrief. Er war nie lange genug von seinen Eltern getrennt gewesen, um so sehr vermisst zu werden. Wäre seine Mom auch so emotional geworden, wenn sie ihn mehrere Monate nicht gesehen hätte?

»Meine Güte. Du musst Alasdair sein.« Mrs. Coal ließ Robin nicht ganz los, als sie sich zu ihm umdrehte. »Ich freue mich so, dich kennenzulernen, mein Liebling.«

Dairs Brust zog sich zusammen. Er wünschte fast, er würde wirklich seine künftigen Schwiegereltern kennenlernen. Mrs. Coal machte einen sehr netten und offenherzigen Eindruck. Das Gefühl hielt zwar nicht lange an, aber es war sehr stark und beinahe überwältigend. Dair rief sich seine Aufgabe in Erinnerung und reichte ihr lächelnd die Hand.

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Ma'am.«

Sie schlug seine Hand zur Seite, stellte sich auf die Zehenspitzen und warf ihm die Arme um den Hals. Dair wurde davon so überrascht, dass er ganz vergaß, ihre Umarmung zu erwidern, bevor sie ihn wieder losließ.

»Entschuldigung«, sagte sie unter ihren braunen Wuschelhaaren, die sich vor Aufregung auf das doppelte Volumen aufgeplustert hatten.

Sie zog ein Haarband vom Handgelenk und versuchte, ihre Locken in einem Pferdeschwanz zu bändigen. Am Kragen ihrer Strickjacke steckte eine Brosche in Form einer dicken Hummel. Einige weitere Löcher im Gewebe ließen darauf schließen, dass hier schon andere Broschen und Nadeln gesteckt haben mussten. Die Knie ihrer ausgebleichten Jeans hatten braune Schlammspuren, die sich offenbar nicht mehr auswaschen ließen.

»Es ist alles so überwältigend.« Mrs. Coal wedelte mit der Hand vor ihren feuchten Augen. »Robin hat noch nie einen Mann mit nach Hause gebracht und du scheinst ein richtiger Gentleman zu sein. Und wer ist dieser kleine Schatz?«

Der arme Smudge sprang ihnen auf der Suche nach Streicheleinheiten um die Füße. Als Mrs. Coal sich vor ihm auf den trockenen Boden kniete, sprang er sofort an ihr hoch und leckte ihr übers Gesicht. Sein Schwanz wedelte so wild, dass er Dair ans Bein schlug.

»Brav, brav!« Dair legte die Hand über Robins, um Smudge an der Leine zurückzuziehen. »Tut mir leid, Ma'am.«

»Warum sollte es dir leidtun?«, rief sie lachend und drückte sich mit dem Gesicht an den kleinen Hund. »Er ist ein Schatz. Ist das deiner?«

»Das ist er«, erwiderte Dair zärtlich.

»Dair hat ihn gerettet«, erklärte Robin. Dair wurde warm ums Herz, als er den Stolz in Robins Stimme hörte. »Er hat alle seine Hunde und Katzen gerettet. Die anderen hat er sogar aus Afghanistan mitgebracht.«

Mrs. Coal zog ein Taschentuch aus dem Jackenärmel und wischte sich übers Gesicht. Dann stand sie auf. »Du bist ein Engel. Als Robin noch ein kleiner Junge war, hatten wir einen Collie. Nachdem er gestorben ist…« Sie schüttelte sich und lächelte, aber ihre Augen glänzten immer noch feucht hinter der Brille. »Wie auch immer. Es freut mich, dich kennenzulernen, mein Liebling. Bobbin hat uns nicht verraten, dass du ein so hübscher Mann bist.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wollt ihr nicht reinkommen?«

»Mom«, protestierte Robin. Dair war nicht sicher, ob der Protest dem Kosenamen galt oder der Tatsache, dass sie ihn als hübscher Mann bezeichnet hatte. Es war ihm auch egal. Er genoss es einfach.

»Bobbin?«, fragte er, als sie hinter ihr die Treppe zur Veranda hinaufgingen.

»Gnade!«, bettelte Robin stöhnend, aber das Grinsen in seinem Gesicht zeigte, dass er es nicht allzu ernst meinte.

Sie ließen ihr Gepäck im Kofferraum, um es später mit ins Motel zu nehmen. Dair ließ sich von Robin und Smudge ins Haus führen.

Als Erstes fielen ihm die vielen Fotos auf. Sie hingen an den Wänden und standen auf den Möbeln. Selbst zu einem Windspiel, das auf der Veranda hing, gehörten einige Babyfotos. Dair wusste, dass die Familie fünf Kinder hatte, aber da die Fotos alle Altersgruppen abdeckten, konnte er sie nicht zuordnen und wusste nicht, wie sie heute aussehen mochten.

Bis auf Robin. Er war der einzige Rotschopf. Seine roten Haare stachen auf jedem Bild hervor. Da er oft mit einem gleichaltrigen, schwarzhaarigen Jungen fotografiert worden war, nahm Dair an, dass es sich dabei um seinen Zwillingsbruder Jay handelte. Aber der Rest blieb ihm ein Geheimnis.

Auf dem Holzfußboden lagen abgenutzte Teppiche und es gab fast so viele Keramikgefäße wie Fotos. Der Duft nach gebratenem Hähnchen lag in der Luft und ließ Dair das Wasser im Munde zusammenlaufen, obwohl sie vorhin Hamburger mit Pommes gegessen hatten.

»Deine Geschwister sind leider alle noch auf der Arbeit, aber dein Dad bastelt in seiner Werkstatt rum. Und Kes… Kes!«

Sie rief abgelenkt durchs Haus, während sie in die große, offene Küche eilte, ohne darauf zu achten, ob Dair und Robin ihr folgten. Ein großer Topf, der auf dem Herd stand, war am Überkochen.

»Jiminy Cricket!« Sie zog den Topf von der Flamme und hielt ihn hoch, bis sich das Wasser darin wieder beruhigt hatte.

Dair fand sich in einer geräumigen Küche wieder und sein Instinkt sagte ihm, dass es sich hier um das Herz des Hauses handelte. L-förmige Einbauten rahmten die Wände und eine große Kücheninsel trennte den Arbeitsbereich vom Esszimmer. Ein großer Holztisch mit dicken, gedrechselten Beinen stand in der Mitte. Auf dem Tisch befand sich eine Schale mit bunten Kieseln. Sie waren so unregelmäßig in Farbe und Form, dass Dair auf den ersten Blick erkannte, dass sie nicht gekauft, sondern an einer ganzen Reihe unbekannter Strände aufgesammelt worden waren. Vermutlich steckte hinter jedem Stein eine besondere Erinnerung.

Als er mit achtzehn Jahren zu den Marines gegangen und mit seiner Grundausbildung begonnen hatte, war der Schmerz über den Verlust seiner Eltern noch frisch gewesen. Er hatte es nicht über sich gebracht, das Haus auszuräumen und zu verkaufen, sondern nur einige Kisten gepackt und eingelagert und seiner Tante und seinem Onkel überlassen, das Haus aufzulösen.

Erst im Laufe der Jahre war ihm aufgefallen, wie selbstsüchtig er sich verhalten hatte. Und nicht nur das. Er hatte auch viele Erinnerungsstücke verloren, die entweder in seiner großen Familie verteilt oder der Wohlfahrt gespendet worden waren. Würde er sich jetzt, als Erwachsener, mit seiner Vergangenheit stärker verbunden fühlen, wenn er mehr greifbare Erinnerungen zurückbehalten hätte? Dair würde es nie erfahren.

»Steckst du schon wieder das Haus in Brand, Mom?«

»Ich habe noch nie… Das war nur ein einziges Mal«, protestierte Mrs. Coal und stellte den Topf auf den Herd zurück.

Eine Teenagerin mit Koboldfrisur kam grinsend in die Küche gelaufen, ein Handy in der Hand. Sie sprang hoch und schlug sich mit der Hand vor die Brust, als sie Robin und Dair am Küchentisch sitzen sah.

»Meine Güte! Wir werden ausgeraubt!«

»Ha, ha.« Robin rollte mit den Augen, als er aufstand und seine Schwester zur Begrüßung umarmte. »Schön, dich zu sehen, Kes.«

»Ich heiße Kestrel«, korrigierte sie ihn spitz und steckte ihr Handy in die Hosentasche. Dann wurde sie abgelenkt. »Ein Hündchen!«

Wie ihre Mom sank sie auf die Knie und lieferte sich freiwillig Smudge aus, der mittlerweile nicht mehr an der Leine war und sofort über sie herfiel. Sie ging sogar so weit, sich auf den Rücken fallen zu lassen, damit Smudge auf ihre Brust klettern konnte.

»Oh, du bist so ein lieber Kerl, nicht wahr? Ja, das bist du. Und so niedlich.« Sie machte eine kurze Pause und schaute zu Robin und Dair auf. »Und wer ist dieser Berg von einem Mann, den du da mitgebracht hast?«

»Kes!«, schnappte ihre Mom sie an.

Robin stieß sie mit dem Fuß an ihrem spindeldürren Arm an. »Sei brav«, knurrte er. Dair hätte nicht gedacht, dass Robin knurren konnte. »Das ist Dair.«

Dair wartete einen Moment ab, dann winkte er ihr zu. Wenn Robin nicht der Erste sein wollte, der ihre Notlüge erzählte, dann musste Dair es eben für ihn übernehmen. »Ich bin Robins Freund. Freut mich, dich kennenzulernen.«

Kestrel schnaubte und rieb sich mit der Nase an Smudges Schnauze. »Ich muss dir hoffentlich nicht erst sagen, dass du ihn gut behandeln sollst, weil ich dich sonst in den See werfe, aber… Sei gut zu ihm oder ich werfe dich in den See. Verstanden?«

Kestrel wog vermutlich ein Drittel von Dair und ihre dünnen Beine steckten in ihren Shorts wie die Beine einer Giraffe. Eine steife Brise würde wahrscheinlich ausreichen, um sie umzublasen. Doch der Blick, mit dem sie Dair bedachte, hätte die Hölle gefrieren lassen. Sie war genau die kleine Schwester, die Dair sich gewünscht hätte, wäre ihm dieses Glück jemals vergönnt gewesen.

»Verstanden«, erwiderte er grinsend.

»Oh, um Gottes willen, Kes. Hör mit der Angeberei auf.« Mrs. Coal kontrollierte den Herd, von dem sich der köstliche Geruch nach gebratenem Hähnchen im Raum verbreitete.

»Kestrel«, korrigierte Robins Schwester wieder, ohne ihren neuen besten Freund aus den Augen zu lassen, der ihr jetzt übers Ohr leckte.

»Entschuldige«, sagte ihre Mom geduldig. »Kestrel. Bitte richte deinem Vater aus, er soll mit der Arbeit aufhören und sich waschen. Das Essen ist bald fertig und die anderen kommen auch demnächst.«

Kestrel seufzte theatralisch und setzte Smudge widerstrebend auf dem Boden ab. Bevor sie sich auf den Weg zu ihrem und Robins Vater machte – wo immer der auch sein mochte –, drehte sie sich noch einmal zu Robin um und legte ihm die Arme um den Hals.

»Ich bin froh, dass du nicht ganz vergessen hast, wo wir wohnen.« Sie küsste ihn auf die Wange und schlüpfte aus dem Zimmer.

Dair schaute Robin an, der sich in diesem Moment ebenfalls zu ihm umdrehte und ihm in die Augen sah. Dair drückte seinem Freund die Hand. Es war schon merkwürdig, wie schnell diese kleine Geste zur Gewohnheit geworden war.

Er sah Robin mit einem Blick an, von dem er hoffte, dass er seine Gefühle zeigen würde. Ihre Sorgen waren unbegründet geblieben. Jedenfalls bis jetzt.

Robins Familie freute sich, ihn und Dair hier begrüßen zu können. Sie hatten sogar dafür gesorgt, dass Dair sich sofort wie zu Hause fühlte. Es gab zwar noch einige Familienmitglieder, die Dair noch nicht kennengelernt hatte, aber er hatte ein gutes Gefühl bei der Sache.

Robin lächelte ihm zaghaft zu und seufzte erleichtert. Dair hatte immer noch den Verdacht, dass Robin etwas zurückhielt, aber besser als Robins Heimkehr bisher verlaufen war, hätte er es sich nicht wünschen können.

Jetzt mussten sie nur noch den Rest der Woche überstehen, dann war alles gut.

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