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Kapitel 1

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Dair

»Das war's, Ma'am. Alles erledigt.«

Dair rollte unter dem Chevy Spark, an dem er gearbeitet hatte, hervor und wischte sich die ölverschmierten Hände an einem Lappen ab. Die Besitzerin des Autos biss sich auf die Lippen und rieb sich aufgeregt über die Brust. Sie war eine erschöpft aussehende Frau in mittleren Jahren mit einem kleinen Kind, das einen Dinosaurier-Rucksack auf dem Rücken hatte, an dem eine Laufleine befestigt war. Das Kind zog an der Leine, weil es an Dairs Werkzeugkasten wollte, um mit den dreckigen Schraubschlüsseln zu spielen. Vorsichtig schob er den Kasten etwas weiter weg, bevor er sich aufrichtete.

»Was war denn kaputt?«, fragte die Mom über den Lärm hinweg, den Dairs Kollegen in der Werkstatt verursachten. Die unterhielten sich lautstark und ihre Werkzeuge schlugen gegen das Blech der Autos, an denen sie arbeiteten. Dair verzog das Gesicht, fing sich aber wieder, bevor er sich zu seiner Kundin umdrehte.

»Ein Schlauch hat sich gelöst – vielleicht, als sie durch ein Schlagloch oder über eine Schwelle gefahren sind. Dadurch ist Kühlflüssigkeit ausgelaufen, der Motor hat sich überhitzt und die Flüssigkeit ist verdampft. Deshalb hat es ausgesehen, als würde der Motor brennen.«

»Du meine Güte!« Die Mom sah ihn erschrocken an. »Das ist mir nicht aufgefallen.«

»Es gibt ein Warnlicht«, erklärte ihr Dair, ging mit ihr auf die Fahrerseite und öffnete die Tür, um es ihr zu zeigen. »Für den Fall, dass es wieder passieren sollte. Jetzt wissen Sie, was Ihnen das kleine Lämpchen sagen will.«

»Das bedeutet das Licht also.« Die Frau schüttelte bestürzt den Kopf. »Ich dachte, es… Nun, mir war nicht klar, dass es dringend ist. Ich komme mir so dumm vor.«

»Schon gut«, sagte Dair beruhigend. »Das kann jedem passieren.«

»Aber ich musste den Wagen abschleppen lassen. Und jetzt die Reparatur. Was wird das alles kosten? Mein Mann wird so wütend werden. Oh Gott, was soll ich nur tun? Ich bin so dumm.«

Dann ist dein Mann ein Arschloch, dachte Dair bei sich. Warum sollte ein Mann seiner Frau Vorwürfe machen für eine Sache, über die sie nichts wusste? Nicht jeder war ein Autonarr.

Dairs geschulte Beobachtungsgabe setzte ein, bevor er sich dessen recht bewusst wurde. Das Handy der Mom war mindestens vier Jahre alt. Ihre Sneakers waren abgelaufen, ihre Jeans ausgefranst und ihr Pulli hatte einige kleine Löcher. Das Auto war auch schon einige Jahre alt und nicht in bestem Zustand. Das Kind lief erst in die eine Richtung, dann in die andere. Die Laufleine zog und zerrte am Arm der Frau, die sie fest umklammert hielt. Sie war so besorgt, dass sie es kaum zu merken schien.

Dair sah sich in der Werkstatt um. Als er seinen Chef nicht finden konnte, stand sein Entschluss fest. »Machen Sie sich keine Sorgen. Für die Kleinigkeit müssen Sie nichts bezahlen. Ich musste nur den Schlauch wieder anbringen und das Abschleppen gehört zum Kundendienst. Ich erledige nur schnell die Formalitäten.«

Die Freude in ihrem Gesicht war unbeschreiblich. »Sind Sie sicher? Oh, ich… vielen Dank. Vielen herzlichen Dank. Ich schwöre, ich werde das kleine Lämpchen nie wieder ignorieren. Ich werde das Auto rechtzeitig warten lassen.«

Dair lächelte. Er wusste noch nicht, wie er die Sache abrechnen sollte, aber die Tränen der Erleichterung in ihren Augen waren es wert. »Ich habe auch Öl und Wasser nachgefüllt. Jetzt können Sie unbesorgt losfahren.«

Das ließ sich die Mom nicht zweimal sagen. »Ich muss wirklich nach Hause und mich um das Abendessen kümmern. Vielen, vielen Dank. Sie sind der Beste. Ich wette, Ihre Frau hat diese dummen kleinen Probleme nicht.«

Dair lächelte trotz der Melancholie, die ihn bei ihren Worten erfasste. »Fahren Sie vorsichtig, Ma'am«, sagte er, während sie das Kind auf den Rücksitz packte. »Kommen Sie rückwärts raus oder soll ich Ihnen helfen?«

Nachdem sie das zappelnde Kind in seinem Kindersitz festgeschnallt hatte, drehte die Frau sich zu Dair um. Die Schlüssel hielt sie mit beiden Händen umklammert. »Nein«, sagte sie entschlossen. »Das kann ich selbst. Nochmals danke. Sie haben diesen Tag für mich gerettet.«

Dair winkte ihr lächelnd nach. Dann machte er sich auf den Weg ins Büro, um eine Lösung für die Abrechnung zu finden. Wenn er seine Zeit nicht in Rechnung stellte (was sowieso nicht viel war), konnte er den Abschleppwagen als Betriebskosten abrechnen und die Kosten selbst übernehmen und…

»Hey, Double Dair!«

Der Ruf wurde von Gelächter begleitet und Dair verdrehte die Augen. Wenn die Jungs in seiner Einheit ihn so gerufen hatten, dann aus Freundschaft und Respekt. Die Idioten, mit denen er hier zusammenarbeiten musste, benutzten den Spitznamen – nachdem sie ihn herausgefunden hatten – mit unverkennbarem Spott in der Stimme.

Dair wusste, dass er sich damit abfinden musste, auch wenn er es kindisch und ärgerlich fand. Andernfalls würde sie ihn Sissy nennen oder sich irgendeinen anderen erbärmlichen Mist ausdenken.

Der Typ, der nach ihm gerufen hatte, spielte mit seinem Handy, obwohl er keine Pause hatte. »Hast du vor, den Gratisservice, den du gerade verschleudert hast, von deinem Lohn abziehen zu lassen?«

Dair biss die Zähne zusammen. Er hatte gehofft, er würde damit durchkommen, auf seinen Lohn zu verzichten und die Abschleppkosten zu übernehmen. Jetzt musste er der Werkstatt auch noch den Verdienstausfall ersetzen. »Natürlich«, rief er zurück. Gute Taten blieben eben nie ungesühnt.

»Du bist ein solcher Schlappschwanz, Mann. Hast du dir wenigstens ihre Nummer geben lassen? Sie war auf ihre hilflose Art recht heiß. Ich wette, die lässt dich allen möglichen Scheißkram machen.« Damit brachte er die anderen wieder zum Lachen.

Dair verzog das Gesicht. »Es war nur eine einfache Reparatur. Ich wollte ihr helfen.«

»Oh, der würde ich auch jederzeit helfen!« Einige der anderen fingen zu johlen an und machten obszöne Gesten, während sie mit den Hüften nach vorne stießen. Dair verdrehte die Augen und überließ sie ihrem Spaß.

Während seiner Zeit in Afghanistan war auch viel Scheiße geredet worden, aber das hier war anders. Wenn man jeden Tag dem Tod ins Auge sah, war es in Ordnung, sich gegenseitig mit geschmacklosen Bemerkungen zu überbieten, um Dampf abzulassen.

Aber die Kerle hier? Waren einfach nur Idioten.

Dair machte sich seufzend an die Arbeit und stellte sich den gesamten verdammten Auftrag in Rechnung. Mist. Damit wurde das Geld in diesem Monat etwas knapp. Egal. Er würde einen Weg finden, um damit auszukommen. Davon war er überzeugt. Er hätte nie das Geld der Werkstatt genommen, sondern nur auf sein eigenes verzichtet. Die gesamten Kosten zu übernehmen, machte vermutlich keinen großen Unterschied mehr. Es zeigte lediglich die Geschäftsmoral dieser Werkstatt in klarem Licht.

Profit geht vor Menschlichkeit.

Dair wünschte, seine Kollegen wären nicht solche unreifen Idioten. Zumal er freitags und samstags oft für sie einsprang und länger arbeitete, damit sie ausgehen oder früher bei ihren Familien sein konnten. Er hatte gehofft, ihnen damit ein Vorbild sein zu können und einen guten Einfluss auszuüben. Aber nach zwei Jahren hatte sich immer noch nichts zum Besseren geändert.

Er bedauerte nicht, die Marines verlassen zu haben. Es war der richtige Zeitpunkt für ihn gewesen, ein neues Leben zu beginnen. Dachte er damals. Nachdem er nach Seattle zurückgekehrt war, hatten er und seine Freundin sich ausgesprochen. Solange er oft für lange Zeit auf Auslandseinsätzen war, war in ihrer Beziehung immer alles gut gelaufen. Nach seiner Rückkehr hatte sich das jedoch geändert. Er wollte Kinder. Sie nicht. Für dieses Problem gab es keine Kompromisslösung. Wenigstens hatten sie sich als Freunde getrennt.

Dair war naiv gewesen. Er hatte gedacht, seine Kollegen in der Werkstatt könnten die Lücke füllen, die entstanden war, als er die Marines verließ. Da er keine eigene Familie hatte und zum ersten Mal seit seiner Schulzeit Single war, hatte er gehofft, hier seinen Platz zu finden.

Wieder schallte derbes Gelächter durch die Werkstatt und erinnerte ihn daran, dass seine Hoffnungen vergebens gewesen waren.

Und dann dachte er an zu Hause.

Dair lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. Er hatte seine Mitbewohner, nicht wahr? Es war nicht das Gleiche wie eine Freundin oder eine Frau, aber es war schon so eine Art Familie. Peyton war echt cool, aber Robin mochte er besonders gut leiden. Vielleicht, weil er ruhiger war und es zu einer größeren Herausforderung machte, ihn besser kennenzulernen.

Nach seinem Einzug hatte Dair einen ganzen Monat lang gedacht, Robin würde ihn nicht mögen. Er war sich immer noch nicht ganz sicher. Sie hatten sich gut verstanden, als Dair sich ihm und Peyton vorstellte. Doch dann schien Robin sich in eine Maus verwandelt zu haben, die erschrocken quiekte und davonrannte, wann immer Dair zu Hause war.

Langsam, aber sicher hatte Dair ihn aus der Deckung gelockt. Zuerst mit den Spezialrezepten seiner Mutter – Käsenudeln und Hühnerbrust Kiew. Dann hatte er Robin gefragt, ob er mit ihm auf der PlayStation Black Ops 4 spielen wollte. Dair hatte sich gedacht, dass ein Softwareentwickler wie Robin bestimmt auch gerne Computerspiele mochte. Er hatte sich nicht getäuscht.

Robin war immer noch extrem schüchtern, aber wenn er sich vergaß und aus sich herausging, öffneten sich die Schleusentore und er legte los. Dair fand ihn lustig und verdammt liebenswert. War es zu viel verlangt, wenn er hoffte, sie könnten mit der Zeit gute Freunde werden? Dair war überzeugt, dass Robins Arbeitskollegen wesentlich klüger sein mussten als er selbst. Doch obwohl sie wenig gemeinsam hatten, konnte er das Gefühl nicht loswerden, dass sie hervorragend zusammenpassen würden.

Fing heute Abend nicht Robins Urlaub an? Ja, so musste es sein. Dair hatte sich nämlich vorgenommen, nach der Arbeit noch einkaufen zu gehen und etwas Besonderes zu kochen. Vermutlich ein thailändisches Gericht. Das liebten sie alle drei am meisten. Doch dann – es war mal wieder typisch – kam genau im richtigen Moment noch ein Kunde mit einem Notfall in die Werkstatt gerollt. Seine Stoßstange und der Kofferraum waren bei einem kleineren Unfall verbeult worden.

Wie nicht anders zu erwarten, verdünnisierten sich Dairs Kollegen nach hinten. Schließlich war bald Feierabend.

Dair störte sich nicht daran. Der alte Mann, der den Wagen fuhr, war ziemlich durcheinander. Er war von einem jungen Mann gerammt worden, der vermutlich betrunken gewesen war. Dair befürchtete, dass seine Kollegen sich über den alten Mann lustig machen würden. Er nahm sich Zeit und versicherte ihm, dass sie sich um alles kümmern würden und er sein Auto morgen wieder abholen könnte. Dann wartete er noch, bis der Sohn des alten Mannes kam und ihn abholte, bevor er sich an die Arbeit machte.

Als er das verbeulte Auto endlich repariert hatte, war außer ihm niemand mehr in der Werkstatt. Er hatte nicht mehr genügend Zeit, um sowohl einkaufen zu gehen, als auch zu kochen. Aber es war Robins besonderer Urlaub. Peyton hatte erzählt, er wollte nach Hause fahren, wo seine Abschlussklasse aus der Oberschule ihr zehnjähriges Jubiläum feierte. Ein solches Jubiläum feierte man nicht jeden Tag.

Nachdem er die Werkstatt abgeschlossen hatte, loggte er sich mit dem Handy bei seiner Bank ein, um seinen Kontostand zu überprüfen. Es sah nicht allzu gut aus, zumal die Reparaturrechnung von heute noch nicht abgebucht war. Egal. Er konnte das Essen im Restaurant bestellen, mit seiner Kreditkarte bezahlen und sie im nächsten Monat ausgleichen. So viel kostete es schließlich nicht.

Heute hatte er die Chance, Robin zu beweisen, dass er gar nicht so einschüchternd war. Dass sie richtige Freunde werden konnten. Dair wusste, dass Robin – aus welchem Grund auch immer – ein Problem damit hatte, dass er nicht schwul war. Dair waren solche Sachen egal. Seine Kollegen waren demonstrativ nicht schwul und trotzdem Arschlöcher.

Außerdem arbeitete Robin viel zu hart. Dair nahm zwar auch nie Urlaub, hatte dazu aber auch keinen Grund. Robin dagegen musste man gewaltsam von seinem Laptop wegziehen, selbst wenn er schon vor Monaten beschlossen hatte, eine Veranstaltung zu besuchen. Dair hatte in der kurzen Zeit seit seinem Einzug festgestellt, dass man das am einfachsten mit einem guten Essen schaffte. Und mit Bier.

Dair fühlte sich schon etwas besser, als er zu seinem Truck ging. Er schwenkte den Schlüsselbund und beschloss, sich nicht zurückzuhalten. Wenn schon, denn schon. Schließlich musste er morgen nicht arbeiten.

Er mochte weder Familie noch Freundin haben und seine Kollegen mochten Idioten sein, aber dafür hatte er zwei höchst ungewöhnliche Freunde. Dair wollte Robin endlich beweisen, dass er immer für ihn da war und dass Robin auf ihn zählen konnte.

Und Liebe ging – wie das alte Sprichwort besagte – durch den Magen.

Safe Harbor

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