Читать книгу Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet - Holger Dr. phil. Wohlfahrt - Страница 16

Der Wunsch nach Eingebundenheit als Chance

Оглавление

Statt gegen ein tief sitzendes menschliches Bedürfnis anzukämpfen, empfiehlt es sich wohl eher, seine Vorzüge auszunutzen. Dem Wunsch des Eingebunden-Seins entwächst beispielsweise auch ein Phänomen, das die Psychologin und Sinnforscherin Tatjana Schnell in ihrem Werk „Psychologie des Lebenssinns“ sogar als besonders sinnstiftend bezeichnet. Schnell nennt dieses Phänomen „Generativität“. Damit ist gemeint, dass der Einzelne sich auch in einen über Generationen hinausgehenden Zusammenhang einordnen kann. Er begreift sich als Teil des Menschengeschlechts, für das es sich einzusetzen lohnt. Er stellt das Bindeglied zwischen vergangenen und künftigen Generationen dar. Der gegenwärtige Einsatz für andere kann dabei als Grundlage einer besseren Zukunft begriffen werden.

Die „Generativität“ fördert unter anderem auch den menschlichen Altruismus, die Bereitschaft sich selbst für andere aufzuopfern, bedingungslos zu helfen und den Mitmenschen zuliebe auf eigene Vorteile zu verzichten. Gerade aus dem Verzicht auf eigene Vorteile kann daher Freude erwachsen. Bei manchen droht dieser Sachverhalt freilich ins Extreme zu kippen. Sie empfinden am eigenen Elend und Leid große Freude. Die wirkmächtigste Metapher hierfür kann in der biblischen Figur des Jesus Christus gesehen werden, der alles Leid der Welt auf sich nahm, um künftige Generationen zu erlösen.

Am stärksten wird das Phänomen der „Generativität“ wohl bei der Geburt und der frühkindlichen Betreuung der eigenen Kinder erlebbar. Selbst die größten Egoisten werden im Angesicht ihres eigenen Nachwuchses in der Regel zu opferbereiten Menschen, die genau im Moment ihrer Opferbringung ein diffuses Glück empfinden. Und so verwundert es nicht, dass Eltern trotz aller Schwierigkeiten, die sich immer auch einstellen – von anfänglichem Schlafmangel über die Auseinandersetzung mit den ständigen Kinderkrankheiten bis hin zu ersten schulischen Problemen – gerade ihre Elternschaft insgesamt als sinnvoll und glücksstiftend bezeichnen. Umso bedenklicher erscheint es, dass in jüngster Zeit Kinder immer früher und immer länger in fremde Betreuungseinrichtungen abgeschoben werden. Oft wird zu spät erkannt, dass falsche Prioritäten gesetzt wurden, indem das Familienleben der Arbeit geopfert wurde. Gerade sogenannte Karrieristen bereuen später die Vernachlässigung der wahrhaft sinnstiftenden Beziehung zu ihren Kindern auffallend oft.

Im Gegenzug werden alte und gebrechliche Eltern von ihren Kindern immer öfter in Heime abgeschoben. Die kurzfristigen negativen Impulse, die den natürlichen Härten eines familiären Zusammenlebens entwachsen, scheinen heute insgesamt das Handeln zu motivieren. Die zutiefst sinnstiftende und damit auf nachhaltige Weise wohltuende Wirkung eines bewussten Familienlebens wird demgegenüber vernachlässigt.

Doch es gibt auch Geburten jenseits der Familiengründung. Auch diese Alternativgeburten können Anlass eines tieferen Glücksempfindens werden.

Der Mensch selbst ist schließlich kein definitiv festgelegtes, statisches Wesen. Die Gene seiner Vorfahren geben ihm zwar einen äußeren Rahmen für seine geistige und körperliche Konstitution. Sozialisation, Erziehung sowie andere Einflüsse bilden das Innere dieses Rahmens dann aus. Dennoch kann jeder Mensch sich zu einem gewissen Grad neu entwerfen und den einengenden Rahmen etwas erweitern oder neu füllen. Der Mensch kann sich in gewissem Sinne selbst neu gebären.

Oft sind es äußere Krisen, die den Ausgangspunkt für eine Wandlungsbereitschaft darstellen. So beschreibt der Reiseschriftsteller Andreas Altmann (geb. 1949), wie er im Jahr 2004 nach der Tsunami-Katastrophe in Thailand auf der Suche nach einem verschollenen Freund zahlreichen Überlebenden in thailändischen Krankenhäusern begegnete. Sie alle waren voller Dankbarkeit, noch einmal davon gekommen zu sein. Im Angesicht des Todes hatten sie das Leben plötzlich als großes Geschenk begriffen, das sie nun auch freudig annehmen wollten. Sie sahen die Zeit für einen neuen Beginn gekommen. Das glückliche Überleben wurde für sie zu einer zweiten Geburt. Sie wollten ihr Leben ändern, es von nun an bewusster und selbstbestimmter gestalten.

Fast immer sind es psychische oder auch physische Krisen, die dazu führen, Dinge zu hinterfragen und oft genug den Wunsch aufkommen lassen, konkrete Veränderungen im eigenen Leben vorzunehmen. Jede Art von Krankheit kann daher auch als Chance begriffen werden. Der selbst leidgeprüfte Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) sah in der Krankheit daher ein „Stimulans des Lebens“, da sie immer die Chance zur Veränderung und damit immer eine Weiterentwicklung und Reifung des Menschen mit sich bringe.

Bisweilen ist eine Krankheit womöglich ohnehin nichts anderes als ein verzweifelter Schrei des unterdrückten Willens, der endlich Gehör finden will. Aus der Not heraus gelingt es manchem, sich und sein Leben zu hinterfragen und dann neu auszurichten. Eine neue Lebensphase wird geboren. Oder wie Siegmund Freud (1856-1939) sagte: „Leiden macht Sinn.“

Doch es muss nicht immer zur Katastrophe kommen. Auch ein imaginierter Rückblick auf das eigene Leben, also die Vorstellung, vom Ende des Lebens aus einen Blick zurück zu werfen, kann hilfreich sein und die Sinne für das Wesentliche schärfen. Eine „Be-Sinnung“ kann dann bereits prophylaktisch vollzogen werden.

Die Einbettung in einen größeren Zusammenhang muss dabei gar nicht künstlich vollzogen, sondern in ihrer stets vorhandenen Existenz nur erkannt werden.

Jeder Mensch wirkt durch sein Tun schließlich unmittelbar auf seine Umgebung ein. So wie er selbst ein Produkt der Handlungen seiner Vorfahren ist, so bedingt er ein Stück weit die Handlungspotentiale seiner Nachfahren. In besonderem Maße gilt das für die eigenen Kinder, die natürlich direkt von den Eltern geprägt werden. Das Bewusstsein dafür, als einzelner Mensch das Mitglied einer über Jahrtausende zurückreichenden Familienbande zu sein, kann jedes Gefühl von Isolation aufheben. Schließlich sind in jedem einzelnen Menschen Elemente reichhaltiger Lebenserfahrungen von zig Vorfahren angelegt. Diese leben und wirken auf subtile Weise in dem einzelnen Individuum fort. Zugleich kann aus dem intensiven Bewusstsein dieses Zusammenhangs ein sinnstiftendes Verantwortungsgefühl entwachsen, das darin besteht, eigene Werte zu dieser reichen Geschichte beizutragen und an direkte oder auch nicht-verwandte Nachkommen weiterzugeben. Um das wohlige Gefühl einer zwangsläufigen Eingebundenheit vollauf spüren zu können, empfahl der antike Weise Konfuzius daher, Ahnenforschung zu betreiben. Wer der eigenen Familiengeschichte bis weit in vergangene Jahrhunderte nachgeht und bestenfalls verschriftlicht, wird zunehmend ein Gefühl dafür entwickeln, dass er sich in einem dichten Gewebe des Zusammenhangs befindet.

Die verstärkte Ausrichtung des Lebens an dieser Tatsache kann also bereits eine selbstbestimmte Neu-Geburt darstellen. Eine Lebensform, die den großen Errungenschaften und bewährten Werten früherer Generationen bewusst begegnet und zum Anlass nimmt, selbst vorbildhaft für die nachfolgenden Generationen zu handeln, lässt den Einzelnen zum sinnvollen Teil eines großen Ganzen werden. Einzelne Facetten jedes Lebens überdauern. Ein Teil jedes Menschen lebt somit fort, solange es Menschen gibt.

Laut Seneca ist es daher dringend zu empfehlen, das Leben als Kunstwerk zu begreifen, das in seiner Pracht über den eigenen Tod hinaus fortbesteht. Es sei dies „die einzige Möglichkeit, die Grenzen [der] Sterblichkeit zu erweitern, ja, sogar in Unsterblichkeit zu verwandeln.“

Auch wenn das einzelne Individuum nicht unsterblich wird und schon bald nach dem Tod vergessen sein mag – zumindest einzelne Eigenheiten, Aussprüche, Handlungsweisen oder Gesinnungen werden oft unbewusst über Generationen tradiert, unreflektiert übernommen oder auch irgendwann als vorbildhaft oder verwerflich eingestuft.

Inwieweit eine einzelne Handlung sich in einen generativen Sinnzusammenhang einweben kann, verdeutlicht eines der beliebtesten Gedichte der deutschen Literaturgeschichte: Theodor Fontanes (1819-1898) Ballade vom Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

Der großherzige und großzügige Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland verschenkt darin die Birnen einen Baumes in seinem Garten an vorbeikommende Kinder. Er stiftet damit viel Freude. Als er seinen Tod kommen spürt, bittet er „vorahnend schon und voll Misstraun [sic] gegen den eigenen Sohn“, eine Birne mit ihm ins Grab zu legen. Wie er es vorhersah, entwächst dem Grab einige Jahre nach seinem Tod ein neuer Birnbaum. Die Kinder des Havellandes können sich somit auch nach dem Tod des Herrn von Ribbeck an dessen Güte erfreuen. Abschließend heißt es: „Und so spendet Segen noch immer die Hand, des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“

Herr von Ribbeck auf Ribbeck hat sich durch seine gutherzige Tat unsterblich gemacht. Noch aus seinem Grab heraus wirkt er weiter. Er spendet über den Tod hinaus Segen. Die anhaltende Beliebtheit des Gedichts verdankt sich zweifelsohne auch jener Metapher für das ur-menschliche Verlangen, generativ zu überdauern und sich und sein Leben somit in einem wohltuenden größeren Zusammenhang zu verorten.

Doch es ist nicht nur die literarische Figur des Herrn Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, die unsterblich zu sein scheint. Auch sein Verfasser lebt in der literarischen Figur auf ewig weiter. Selbst weniger einflussreiche Werke als Fontanes Meisterballade schaffen es oft, zumindest in kleinerem Kreise, zu überdauern. Ein Poet, also jemand der dem Wortsinn nach (vom Griechischen „poietes“, Hersteller, Brückenbauer) etwas baut oder zusammensetzt, fügt immer erlebte Erfahrung und tradiertes Wissen zu einem Werk für sich und seine Umwelt zusammen.

Wer also beispielsweise Literatur verfasst, aber auch Musik komponiert, Bilder malt oder Skulpturen meißelt, wird dies wahrscheinlich auch tun, um sich selbst auszudrücken und damit eine Brücke zu seinen Mitmenschen der Gegenwart und Zukunft zu bauen. Er übersteigert die eigenen Gefühle und bringt sie in transzendierter Form seinen Mitmenschen bereitwillig dar.

Das Bedürfnis des Weiterlebens, des Überdauerns in nachfolgenden Generationen, wird also nicht nur in der Geburt der eigenen Kinder oder der Geburt eines selbstentworfen, vorbildhaften Lebens ein Stück weit erfüllt, sondern auch in der Erzeugung von Werken, die dereinst tradiert werden. Es fällt auf, dass oft gerade künstlerisch und geistig aktive Menschen keine eigenen Kinder haben. Die Zahl der kinderlosen Geistesgrößen und Kreativmenschen erscheint tatsächlich fast endlos lang und reicht von Philosophen wie Roger Bacon, René Descartes, John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Jean- Paul Sartre, Simone de Beauvoir über Komponisten wie Georg Friedrich Händel oder Ludwig van Beethoven und Musiker wie Maria Callas oder Louis Armstrong bis hin zu Wissenschaftlern wie Isaac Newton oder John Maynard Keynes.7 Ihre Geburten waren ausschließlich geistiger Natur.

In extremen Fällen kann die oft überaus mühsame, vielleicht auch schmerzhafte Geburt eines eigenen Werkes in der Wahrnehmung des Urhebers sogar die menschliche Geburt übertreffen. So schrieb der Naturphilosoph, Mathematiker und Astronom Johannes Kepler (1571-1630) anlässlich der Geburt eines seiner Kinder: „Gerade als ich mich mit der Quadratur meines Ovals beschäftigte, kam mir ein ungelegener Gast durch eine Geheimtür ins Haus, um mich zu stören.“ Und Albert Camus bezeichnet die eigenen Kinder in seinen Tagebüchern als seine „Nebenwerke“. Die Hauptwerke blieben seine Bücher.

Der französische Philosoph Denis Diderot (1713-1784) schrieb im 18. Jahrhundert: „Die Nachwelt ist dasselbe für den Philosophen, wie das Jenseits für einen Gläubigen.“ Im Verständnis Diderots will der Philosoph ebenso wie der Künstler bleibende Werke erschaffen. Wie Gläubige tradieren Philosophen und Künstler dabei ihr eigenes Ich. Während Eltern in ihren Kindern ein Stück weit überdauern und Gläubige darauf spekulieren, im Jenseits in Form einer göttlich-transzendenten Wandlung fortzubestehen, hoffen tugendhafte Menschen darauf, mit ihrem „Lebenskunstwerk“ im Sinne Senecas als Vorbilder fortzuleben. Künstler und Philosophen streben hingegen danach, in ihren erschaffenen Werken unsterblich zu werden.

In der technisch und wissenschaftlich hoch entwickelten Welt des aufgeklärten und industrialisierten Westens sind es immer öfter aber auch wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfindungen und Entdeckungen sowie technische Errungenschaften, die einen Moment der Transzendenz ganz im Sinne Diderots schaffen können. Einer der einflussreichsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Albert Einstein (1879-1955), meinte denn auch, dass ihm seine wissenschaftlichen Studien einen tiefen Lebenssinn gaben. Sie verliehen ihm „innere Freiheit und Sicherheit“ und vermittelten einen „Gefühlszustand, der […] dem eines religiösen oder verliebten Menschen ähnlich ist“. Einstein empfand das Glück, das „geistige Generativität“ spendet. Er fühlte sich tief eingebunden in die Zusammenhänge der Welt.

Die sinnstiftende Wirkung „geistiger Generativität“ tritt aber nicht nur ein, wenn man selbst gestaltend tätig ist, sondern bisweilen auch dann, wenn man sich mit den überwältigenden Werken menschlicher Vorfahren auseinandersetzt. Man kann Sinn also auch durch den bewussten Einsatz seiner Sinne empfinden. Die Sinne schaffen dabei eine Verbindung zur Vergangenheit, die in einer Ballade Fontanes genauso zum Ausdruck kommen kann wie beispielsweise in der Musik eines Mozart, dem Gemälde eines Caravaggio oder der Skulptur eines Donatello. Anhand jener unsterblicher Momente, die als Ausdruck einer überpersönlichen Wahrheit einer tiefen Weltenseele entsprungen zu sein scheinen, kann der Einzelne eine Verschmelzung mit einem größeren Ganzen spüren und so etwas wie wahrhaftes inneres Glück empfinden.

Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet

Подняться наверх