Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach - Страница 11

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Anno 956 – Drogos Ankunft

Abt Degenar hatte gehofft, die Mitbrüder über den bevorstehenden Besuch noch rechtzeitig informieren zu können, doch es war ihm nicht vergönnt. Er selbst hatte erst heute Morgen davon erfahren, nachdem ihn Prior Walram in den Arkaden des Kreuzganges abgefangen hatte. Degenar hatte instinktiv gewusst, dass dies kein gutes Zeichen war. Nahezu beiläufig teilte ihm der Prior dann mit, dass heute ein neuer Novize in der Abtei aufgenommen werde. Alle Abmachungen mit der Herrschaft seien bereits getroffen und die Urkunde besiegelt worden. Einzig der Vollzug stand noch aus.

Degenar hatte damit keine Möglichkeit gehabt, etwas gegen dieses Arrangement zu unternehmen. Die Beigaben zur Aufnahme des neuen Novizen waren derart großzügig, dass man sie nicht ablehnen konnte. Ertragreiche Ländereien und die Nutzungsrechte des Waldes wurden der Abtei zugesprochen. Ressourcen von großem Wert, die nur ein Narr zurückgewiesen hätte.

Der Prior hatte alles so geschickt eingefädelt, dass Degenar noch nicht einmal die Möglichkeit sah, ihn ob seines eigenmächtigen Handelns zu tadeln. Walram wusste sehr wohl um die Überschreitung seiner Zuständigkeit und bat daher übertrieben, ja beinahe spöttisch unterwürfig, um Verzeihung. Er beteuerte dabei, jede gerechte Strafe hierfür reuevoll auf sich zu nehmen. Degenar wusste natürlich, dass diese Reue nur geheuchelt war.

Die Bruderschaft war im Presbyterium der Klosterkirche versammelt und in stiller Andacht vertieft. Einzig Walrams Stimme war zu hören, der murmelnd monoton Psalmen aus der Heiligen Schrift rezitierte.

Dann brach ein Getöse los. Zu Beginn waren Reiter zu hören, die in schnellem Galopp in den Klosterhof einritten. Das Wiehern der Tiere und das respektlose Rufen der Männer war selbst durch die dicken Kirchenmauern so lärmend, dass sich der eine oder andere Kopf der Brüder fragend erhob. Nur der strenge Blick des Abtes brachte die Neugierigen dazu, sich wieder ehrfürchtig dem Gebet zu widmen.

Degenar war klar, dass die Andacht durch diese Störung so gut wie beendet war. Nicht einmal er konnte mit gutem Beispiel vorangehen und sich darauf konzentrieren. Natürlich erachteten einige Mönche diesen Besuch als willkommene Abwechslung vom sonst so eintönigen Tagesablauf, Degenar jedoch nicht!

Jegliche Missachtung oder Unterbrechung eines Gottesdienstes war dem Abt zutiefst zuwider. Die Mitbrüder kannten diese Ansicht ihres Abtes und wussten auch, meist aus eigener Erfahrung, dass Störungen stets bestraft wurden. Daher sprach in der Kirche auch niemand außer dem Prior, der, scheinbar völlig unbeeindruckt, weiterhin die anstehenden Psalmen dahin murmelte. Für einen Augenblick beobachtete der Abt den Prior, der seinen Blick starr auf das Buch gerichtet hielt: Nichts an Walram verriet auch nur die kleinste Erregung oder Anspannung.

Außerhalb der Kirche herrschte Unruhe. Einige Karren und Wagen kamen hinzu und das Knirschen der Räder auf dem steinigen Klosterhof drang gedämpft bis in das Chorgestühl und verhallte dort. Noch immer zeigte Walrams Antlitz keine Regung. Selbst als plötzlich die schweren Flügel des Kirchenportals aufgestoßen wurden und krachend an der Wand anschlugen, blieb der Klang seiner Stimme gleichmäßig und nahezu einschläfernd.

Mehrere Männer mit festen, ledernen Stiefeln marschierten langen Schrittes durch das Hauptschiff bis zum Chorgestühl. Degenar hatte sein Haupt längst wieder gesenkt und da die Mitbrüder seinem Beispiel folgten, gab es für die Störenfriede niemanden, dessen Blick sie auf sich ziehen konnten.

Nachdem Prior Walram den letzten Psalm gelesen und zum Abschluss das schwere Buch überflüssig laut geschlossen hatte, musste Degenar die Andacht beenden. So lange er es vermochte, verharrte er dennoch weiter in demütiger Haltung. Er wollte den Eindringlingen zeigen, dass sie nicht so ohne weiteres den Gottesdienst stören durften.

Als ihn die Neugier allerdings zu quälen begann und jeder weitere Augenblick zu einer kleinen Ewigkeit wurde, hob Degenar schließlich sein Haupt und richtete sein Augenmerk auf die Männer.

Sie waren rau und zum Teil in recht unordentliche und schmutzige Gewandung gekleidet. Die Mehrzahl von ihnen wirkte unsicher. Offensichtlich wussten sie nicht, wie sie sich in dieser ungewohnt großen Kirche verhalten sollten. Sie schauten immer wieder auf einen Mann, der das Sagen unter ihnen zu haben schien und der zwei Schritte näher am Chorgestühl stand als die anderen.

Degenar kannte diesen Mann zwar nicht, doch es gab keinen Zweifel, um wen es sich dabei handelte. Groß und breit gebaut, mit kantigem Gesicht, strengen Augen und einer Selbstsicherheit, die ihresgleichen suchte, konnte dies nur Rurik sein, der neue Sachwalter der Grafschaft.

Fordernd stand der mächtige Krieger vor der andächtigen Bruderschaft. Mit versteinerter Miene und eisernem Blick wartete er darauf, angesprochen zu werden. Degenar erwiderte diesen Blick. Beide Männer beobachteten sich lange und ruhig, ohne auch nur eine Regung zu zeigen.

Schon nach kurzer Zeit ärgerte sich Degenar, sich auf das Spielchen dieses Mannes eingelassen zu haben. Er hatte es nicht nötig, sich mit einem weltlichen Herrn auf diese Weise zu messen. Dennoch weigerte sich der Abt gerade jetzt als erster den Blick zu lösen. Rurik hatte es begonnen, also sollte er es auch zu Ende führen.

Ruriks Männer warteten angespannt im Kirchenschiff. Je länger das Ringen zwischen Degenar und dem Sachwalter andauerte, desto nervöser wurden die Recken. Der Abt genoss die Unsicherheit der Männer, die wie Hühner unruhig mit den Füßen scharrten.

Nach einiger Zeit schritt Rurik zur Tat. Leise vor sich hinfluchend, machte er unerwartet kehrt, um die Kirche zu verlassen. Seine Getreuen folgten ihm unaufgefordert, wenn auch mit fragenden Blicken.

Das war Degenars Gelegenheit! Er griff nach seinem Stab und stieß ihn drei Mal fest auf den Steinboden des Chors. Die Schläge donnerten und hallten lautstark von den Mauern wider. Nicht nur die Köpfe der Mönche hoben sich unversehens, sondern Degenar erhielt auch die Aufmerksamkeit der im Abzug begriffenen Recken. Sie hielten inne, als habe man ihnen den Befehl erteilt, augenblicklich zu erstarren. Einzig Rurik schritt völlig unbeeindruckt weiter.

„Wer wagt es, im Hause und im Angesicht des Herrn auf gotteslästerliche Art zu fluchen und dem Kreuze Christi respektlos den Rücken zu kehren?“

Die zornigen Worte des Abtes galten Rurik und sie brachten ihn tatsächlich zum Stehen. Er verharrte und überlegte kurz, wandte sich schließlich um und ging den Weg zum Presbyterium zurück. Degenar kam ihm sogar ein paar Schritte entgegen, den Stab fest in beiden Händen wie zum Schutz vor seinen Körper haltend.

Rurik baute sich groß vor Degenar auf, wirkte aber trotzdem kleiner als der Abt auf dem leicht erhöhten Podest des Chors. Mit fester und selbstsicherer Stimme antwortete der Krieger: „Ich, Rurik, Sachwalter der Grafschaft und Sprecher über Recht und Ordnung in diesen Ländereien. Ich wage es!“

„Nicht innerhalb dieser Mauern“, wies Degenar ihn sofort zurecht. „Hier seid Ihr nicht der Sprecher über Recht und Ordnung. Dies obliegt einzig dem Herrn, dem wir dienen! Zu Eurem Bedauern muss ich Euch mitteilen, dass Ihr dieser Herr nicht seid. In unserem Kloster seid Ihr als Gast willkommen und als solcher solltet Ihr Euch auch zu benehmen wissen.“

Rurik ließ sich durch die Zurechtweisung nicht einschüchtern. „Ich bin keiner der namenlosen und zahllosen Gäste, denen Ihr schon Obdach und Speisen gewährt habt. Ihr solltet inzwischen wissen, welche Position ich innehabe. Dies ist das Kloster meiner Familie und es befindet sich auf dem Gebiet der Grafschaft. Ich komme nicht als Bittsteller!“

„Ist dem tatsächlich so?“ Degenar blieb äußerlich gelassen, auch wenn er seinen rasenden Herzschlag im Halse spürte. „Und doch steht Ihr hier und wartet, gerade wie ein solcher.“

„Ich warte nicht …“

„Fürwahr nicht“, unterbrach ihn Degenar rasch. Mutig machte er noch einen Schritt auf den Krieger zu und seine Stimme klang eisig und trocken, als er fortfuhr: „Vielmehr betretet Ihr das Haus Gottes, als wolltet Ihr einer Hure beiliegen. Verächtlich und wild, mit ein paar Silbermünzen in Eurer Geldkatze.

Statt Respekt zu zollen und Ehrfurcht zu zeigen, besudelt Ihr diese heilige Stätte mit schändlichem Maul, einem Ochsentreiber gleich. Und das als ein Mann, der für alle Menschen in der Grafschaft ein Vorbild sein sollte und zudem wissen müsste, wie er sich in einem Gotteshaus zu benehmen hat. Was steht Ihr noch da? Kniet endlich nieder und bittet den Herrn um Vergebung!“

Degenar war trotz der deutlichen Worte äußerlich ruhig geblieben. Innerlich jedoch schlug sein Herz vor Aufregung immer schneller. Er vernahm eine leise, innere Stimme, die ihn davor warnte, nicht zu weit zu gehen. Immerhin war die Abtei als Eigenkloster des Grafen von den irdischen Mächten abhängig.

Rurik bewegte sich nicht. Er stand herausfordernd vor dem Presbyterium, als wolle er ein erneutes Kräftemessen beginnen. Degenar wagte sich deshalb noch weiter vor, seine innere Warnung ignorierend. Flüsternd, dass seine Worte einzig von Rurik gehört wurden, sprach er weiter: „Auf die Knie! Oder legt Ihr es etwa darauf an, die Strafe und den Groll des Herrn auf Euch zu ziehen, vor all Euren Männern?“

Zornesröte färbte Ruriks Gesicht dunkel. Degenar erwartete, dass er jeden Moment einen Wutausbruch erleben würde. Einige Augenblicke tat sich nichts, dann rührte sich der Gotteslästerer schließlich. Doch statt auf die Knie zu sinken, befahl er seine Männer allesamt hinaus. Erst als der letzte von ihnen das Portal hinter sich geschlossen hatte, widmete Rurik sich wieder dem Abt.

In diesem Augenblick schien es, als gäbe es nur die beiden Männer in der Kirche. Die Mönche in ihrer dunklen Gewandung schienen gänzlich mit dem dunklen Chorgestühl zu einem bewegungslosen Relief verschmolzen zu sein.

Rurik kam zwei Schritte auf den Abt zu. Demonstrativ legte der Krieger seine Hand auf den Schwertknauf. Er war sich seines Rechts durchaus bewusst, als Adeliger eine Waffe in der Kirche tragen zu dürfen. Degenar hoffte, dass man ihm seine aufkeimende Angst nicht ansehen konnte.

Ruriks gesenkte Stimme polterte los wie das ferne Donnern eines Steinschlages im Gebirge. „Dass Ihr nur nicht zu viel wagt, Mönch.“

„Ehrwürdiger Abt!“, korrigierte Degenar ihn sofort.

„Wie meint Ihr?“

„Ehrwürdiger Abt heißt es. Oder hat man vergessen, Euch als Knabe die Anreden der Gottesdiener beizubringen?“

Ruriks rotes Gesicht wurde noch dunkler. Seine Worte stießen hart zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Dass Ihr nur nicht zu viel wagt, ehrwürdiger Abt!“

Degenar wusste, dass er eine Grenze überschritten hatte. Doch er konnte nicht mehr umkehren. „Sorgt Euch nicht um mich, sorgt Euch lieber um Euch und Euer Seelenheil! Kniet nieder und bittet um Vergebung!“

Widerwillig kniete der Krieger nieder. Er war es offensichtlich nicht gewohnt, sich vor einem anderen Menschen zu beugen. In demütiger Haltung sprach er den von Degenar vorgegebenen Wortlaut nach und seine Stimme war klar und deutlich im gesamten Chor zu vernehmen.

„Vergebt mir, allmächtiger Herr. Vergebt mir, ehrwürdiger Abt“, lauteten Ruriks letzte Worte und es war nicht zu überhören, dass er Degenars Betitelung mit einem gewissen Spott über die Lippen brachte. Dennoch lösten die Worte in Degenar eine große Erleichterung aus. Er überwand den letzten Schritt zu Rurik und hielt die Hand über dessen Haupt, wobei er hoffte, sie möge nicht zu sehr zittern.

Um die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen, lenkte Degenar ein. Die auferlegte Buße fiel gering aus im Vergleich zu dem, was er einem Mitbruder auferlegt hätte. Zudem glaubte der Abt ohnehin nicht, dass Rurik diese Strafe ernst nehmen würde. Degenar war das gleich, denn es genügte ihm vollkommen, aus diesem Ringen als Sieger hervorgegangen zu sein.

Nach gezeigter Reue erhob sich Rurik wieder, strafte den vor ihm stehenden Abt mit einem finsteren Blick und verließ das Gotteshaus, ohne eine weitere Silbe zu verlieren. Mit ein paar zeremoniellen Worten entließ Degenar seine Mitbrüder aus ihrer andächtigen Starre, die das Presbyterium über eine Nebentür in den Kreuzgang schweigend verließen. Nur der Abt und der Cellerar blieben zurück. Ivo trat an Degenar heran und riss seinen Freund mit einem Raunen aus seinen Gedanken. „Verrate mir nur eines: Welcher Teufel hat dich zu diesem irrsinnigen Wagnis getrieben?“

„Um ehrlich zu sein: Ich weiß es selbst nicht!“ Degenar schien, als würde er aus einem Traum erwachen und blickte Ivo ruhig an. „Doch eines weiß ich ganz gewiss. Wenn Rurik glaubt, in diesen Mauern in gleicher Weise auftreten zu können, wie vor seinen dreckverschmierten Männern in seinem eigenen Verschlag, dann hat er sich mächtig getäuscht.“

„Nun, der Verschlag ist eine gewaltige Burg aus massivem Fels und Stein, mit festen Mauern und hohen Türmen“, gab Ivo zu bedenken. „Und seine Männer mögen vielleicht dreckverschmiert sein, sind aber dennoch kampferprobte Krieger, die schon manche Schlacht geschlagen haben. Rurik ist Sachwalter der Grafschaft und somit untersteht ihm auch unser Kloster. Wir müssen vorsichtig sein, er ist ein gefährlicher, unberechenbarer Mann!“

„Das ist mir klar, Ivo. Und leider stimmt es, dass er als Sachwalter diese Privilegien genießt. Wir werden einige seiner Wünsche erfüllen müssen. Hast du die Unterkünfte vorbereiten lassen?“

Ivo nickte nur kurz und Degenar fuhr fort. „Doch eines geht mir nicht aus dem Kopf: Das von Walram ausgehandelte Abkommen. Am liebsten würde ich es für nichtig erklären. Doch es ist derart zum Vorteil für die Abtei, dass es ohne Einmischung von höherer Stelle nicht abgelehnt werden kann. Auch aus diesem Grunde wollte ich Rurik Grenzen aufzeigen. Er glaubt, sich mit ein paar Münzen erkaufen zu können, was ihm beliebt. Auch mich. Doch da irrt er!“

Ivo griff Walrams Abkommen noch einmal auf. „Was die Aufnahme dieses Drogo angeht, so haben wir tatsächlich keine andere Wahl. Die Abtei benötigt die großzügigen Beigaben dringend. Außer der Art, wie Walram die Vereinbarung in die Wege geleitet hat, spricht nichts gegen die Aufnahme. Solltest du sie dennoch verweigern, könnte Rurik dir das Leben schwer machen und dich in deinem Amte als Abt ins Wanken bringen. Er wäre nicht der erste weltliche Fürst, der hinter dem Sturz eines Kirchenmannes stünde.“

„Ach Ivo, ich weiß ja, dass du Recht hast. Doch es sind auch nicht die Belange des neuen Novizen, die mich bekümmern. Ich sorge mich vielmehr um Faolán. Wenn Rurik und seine Frau ihn zu Gesicht bekommen, könnten sie ihn wiedererkennen. Schließlich ist er ihr Neffe. Und dann sind da noch die Mägde und Knechte der Gefolgschaft, die ebenfalls das Gesicht des Erben kennen. Wir müssen deshalb Faolán unbedingt von ihnen fernhalten!“

„Du hast Recht. Eines ist dabei noch zu bedenken. Faolán wird fortan mit Drogo zusammenleben. Ich frage mich ernsthaft, wie lange das gut gehen kann, ohne dass die Wahrheit zu Tage kommt.“

„Wir werden dieses Risiko eingehen müssen. Zum einen hoffe ich, dass sich Drogo nicht an Rogar erinnern kann. Sie haben sich nicht so häufig gesehen, dass er trotz Ähnlichkeit bei einem Novizen mit anderem Namen auf seinen vermissten Vetter schließen wird. Zum anderen kann sich Faolán noch immer nicht an seine Geschichte erinnern. Ich hoffe, dass es auch in Zukunft so bleiben wird. Es könnte also auch wesentlich einfacher werden, als wir im Augenblick befürchten.“

„Oder schlimmer“, gab Ivo zu bedenken. „Wie auch immer, lass uns jetzt besser gehen. Schließlich musst du als Abt noch eine offizielle Begrüßung aussprechen. Solltest du das unterlassen, würde sich Rurik hart vor den Kopf gestoßen fühlen.“

Degenar rollte entnervt mit den Augen. „Ja, lass uns gehen. Der Herr hat Faolán in unsere Obhut gegeben. Er wird auch dafür sorgen, dass der Junge bei uns seinen Weg sicher gehen wird. Das Vertrauen in Gott ist die größte Kraft auf Erden. Mit seiner Hilfe werden wir es schaffen.“

Ivo pflichtete Degenar mit einem Kopfnicken bei. Rurik würde es nicht zustande bringen, sie mit seinem Auftreten einzuschüchtern oder gar in ihrem Gottvertrauen zu erschüttern.

Abt und Kellermeister verließen das Gotteshaus durch die Seitentür. Sie schritten unter den aus rotem Sandstein gemauerten und mit schlichten Verzierungen versehenen Arkaden des Kreuzganges einher. Über ein Vorgebäude gelangten sie direkt auf den großen Klosterhof. Degenar wurde von dem sich ihm darbietenden Anblick beinahe überwältigt. Noch nie hatte er eine so große Menschenmenge im Hof versammelt gesehen. Mehrere große Wagen und zahlreiche Pferde waren zusammen mit unzähligen Menschen eingetroffen. Das war also Ruriks Gefolge. Darunter befanden sich zahlreiche Mägde und Kammerfrauen, ein Pferdemeister und Knechte, Spielleute und persönliche Berater. Die Menge ordnete sich selbst, und es hatte den Anschein, als würde ein jeder seinen Platz kennen oder wüsste, wo es anzupacken galt.

Bei dem dichten Treiben auf dem Hof war es kaum aufgefallen, dass Abt und Cellerar den Platz betreten hatten und nach Rurik Ausschau hielten. Als sie ihn schließlich erblickten, war es für sie keine große Überraschung, den Prior bei ihm anzutreffen. Walram schien einen vertrauten Umgang mit dem großen Mann zu haben. Stets trat er respektvoll, ja beinahe schon ehrfürchtig einen Schritt zur Seite, sobald sich Rurik bewegte, um ja nicht im Wege zu stehen.

Rurik hingegen hatte offensichtlich Wichtigeres zu tun, als dem Prior seine volle Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Während er sich mit Walram unterhielt, würdigte er ihn keines Blickes. Selbst sein Pferd war ihm wichtiger als der Geistliche, und während er sein Tier tätschelte, hatte Walram anscheinend Mühe, Ruriks Ausführungen zu folgen.

Gerade als Degenar und Ivo unbemerkt in Hörweite gekommen waren, lenkte Rurik sein Augenmerk auf den Prior und sprach ihn an: „Ich brauche Beweise und keine vagen Vermutungen! Was soll ich damit anfangen, wenn Ihr etwas glaubt? Denkt Ihr etwa, ich handele auf reinen Verdacht hin? Ihr solltet mich inzwischen besser kennen und wissen, dass ich nichts dem Zufall überlasse.“

„Aber wenn ich es Euch doch versichere, solch einen Zufall kann es nicht geben. Er muss es sein!“

„Liefert mir einen sicheren Beweis. Nur einen, mehr bedarf es nicht. Mit Eurer Schönrederei allein kann ich beim König nichts bewirken.“

Der Prior hatte darauf nichts zu erwidern und senkte sein Haupt. Er wirkte gedemütigt und besiegt. Er bot einen Anblick, den Degenar, soweit er sich erinnern konnte, noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Als der Prior die Nähe seines Abtes bemerkte, richtete er sich augenblicklich wieder auf und täuschte seine gewohnte Sicherheit vor. Dabei trat er einen Schritt zurück, als wolle er gehen. Degenar hielt ihn jedoch mit einer einladenden Geste auf.

Rurik wandte sich nun ebenfalls den beiden eintreffenden Mönchen zu. Degenar verlor keine Zeit und ergriff sogleich das Wort: „Wie ich sehe, hat sich unser ehrwürdiger Prior um Eure dringlichsten Belange bereits gekümmert. Hoffentlich ganz zu Eurer Zufriedenheit.“

Degenar hielt es für angebracht, freundlich und zuvorkommend aufzutreten. Ein erneuter Konflikt würde die Fronten nur verhärten.

Noch im Kreuzgang hatte er sich Zurückhaltung und Geduld geschworen, denn zusätzliche Spannungen zu all der Unruhe, die der Tross in der Abtei schon verbreitete, wären für ihn unerträglich.

Rurik vernahm Degenars Worte aufmerksam. Hier, unter all seinen Männern, wirkte er gänzlich anders als allein im Gotteshaus. Hier draußen, in seinem gewohnten Umfeld, war er der unangefochtene Führer. Für einen Moment beeindruckte diese Verkörperung von Macht, Führung und Autorität den Abt, jedoch streifte er diese Bewunderung schnell wieder ab und führte das Gespräch fort:

„Seid willkommen in unserem bescheidenen Kloster. Das Gästequartier wurde bereits hergerichtet und ein Mahl zu späterer Stunde ist in Vorbereitung. Es soll Euch während des Aufenthaltes an nichts mangeln. Sollte dies wider Erwarten dennoch der Fall sein, so wendet Euch bitte an unseren ehrwürdigen Kellermeister.“ Dabei wies er auf Ivo, der sich ehrfürchtig verbeugte. „Er steht Euch jederzeit zur Verfügung, es sei denn, er befindet sich gerade im Gebet.“

Rurik war nicht entgangen, dass die Einschränkung in Degenars Angebot eine klare Anspielung auf den jüngsten Vorfall in der Klosterkirche war. Er nickte kurz, doch in seiner höflichen Antwort schwang ein sarkastischer Unterton mit: „Habt aufrichtigen Dank. Doch seid unbesorgt, ehrwürdiger Abt, wir werden die Gastfreundschaft Eurer – bescheidenen – Mauern nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Noch vor dem morgigen Mittag werden wir unsere Reise fortsetzen. Sollte nichts Außergewöhnliches in dieser kurzen Zeit vorfallen, so wird Eure Abtei schon bald nicht mehr ganz so bescheiden sein …“

Degenar verstand die Zwischentöne ebenso gut wie Rurik zuvor und er antwortete: „Seid uns für diese kurze Zeit als Gäste willkommen. Wir stehen Euch zu Diensten, ganz wie es unsere Ordensregeln vorschreiben und erlauben. Doch jetzt muss ich mich anderen Aufgaben widmen.“

Nach diesem kurzen Wortwechsel zur Begrüßung gab es nichts mehr zu sagen. Degenar gab Ivo noch einige Anweisungen, bevor er ansetzte, den Hof wieder zu verlassen. Er benötigte jetzt die Abgeschiedenheit seiner Räumlichkeiten, um in Ruhe nachdenken zu können. So lenkte er seine Schritte über den Hof, scheinbar in Gedanken versunken. Tatsächlich aber schaute er sich sorgfältig um, denn insgeheim hoffte er, jenes Kind zu Gesicht zu bekommen, welches er für viele Jahre aufnehmen musste.

Degenar schritt durch die geschäftige Gefolgschaft. Der Abt fühlte sich in dieser Umtriebigkeit in keiner Weise wohl. Die ungewöhnliche Dichte an Bewaffneten, bestätigte Degenars ersten Eindruck: Rurik nutzte den Besuch als Machtdemonstration.

Plötzlich lenkte eine äußerst laute Kinderstimme die Aufmerksamkeit des Abtes auf sich. Das musste Drogo sein! Breitbeinig stand der Junge mit einem gezogenen Holzschwert neben einer Frau, deren Statur der eines kräftigen Mannes gleichkam. Das musste die Mutter des Jungen und Ruriks Gemahlin sein.

Degenar wusste nur Vages über Ruriks Familie. Er hatte bisher nicht so recht glauben können, was man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunte: Rurik sei eigentlich mit einem Mann vermählt. Doch bei dem Anblick dieses Weibes verstand Degenar, was mit dieser Behauptung gemeint war. Wulfhild war ein Mannsweib, wie der Abt noch niemals zuvor eines gesehen hatte.

Mutter wie Sohn herrschten die Leute mit beißendem Tonfall an. Das Gesinde vermied es, ihnen in die Augen zu blicken und suchte sich schnellstmöglich Arbeit, bevor ihnen eine zugeteilt wurde. Während Wulfhild ihre Macht durch Auftreten und Worte ausübte, verlieh der Junge seinen Befehlen mit seinem Holzschwert Nachdruck. So manche Magd erhielt von ihm einen Hieb auf das Hinterteil und sie achteten allesamt darauf, möglichst außerhalb Drogos Reichweite zu sein.

Degenar wollte gerade in dieses Geschehen eingreifen und den Jungen maßregeln, als ein kleiner, schmächtiger Mönch mit wild fuchtelnden Armen auf ihn zugeeilt kam. Bereits von Weitem rief der Fremde Degenar immer wieder mit „ehrwürdiger Abt“ an, unterbrochen von schwerem Atmen, als wäre der Bruder den gesamten Weg von der Greifburg bis zum Kloster gelaufen.

„Ehrwürdiger Abt, Ihr könnt Euch nicht im Entferntesten vorstellen, welcher Gottlosigkeit ich Zeuge werden musste!“, begann der Mönch unversehens und heftig schnaufend. „Es war mitten in finsterster Nacht. Nichts und niemand war vor ihnen sicher. Selbst die hohen Mauern und die schweren Tore boten keinen Schutz. Hier muss wahrlich der Leibhaftige seine Finger im Spiel gehabt haben. Eine andere Erklärung gibt es einfach nicht. Was nutzen schon all die scharfen Klingen, wenn das Böse selbst einfällt? Glaubt mir, die schwachen Mauern Eures Klosters sind mir um einiges lieber.“

Milde lächelnd legte Degenar beruhigend seine Hände auf die Schultern des Fremden. „Vielleicht habt Ihr die Güte und helft meinem Verstand auf die Sprünge, indem Ihr mir zunächst Euren Namen mitteilt. Zudem wäre mir sehr geholfen, wenn Ihr über diese Begebenheit von Beginn an berichtet.“

„Natürlich, ehrwürdiger Abt, verzeiht mir. Ich bin Bruder Eberhardt, ein Pilger auf der Reise nach Santiago de Compostela. Vor einigen Tagen fand ich dank des gütigen Herrn Farold Unterkunft in der hiesigen Grafenburg.“ Plötzlich wurde der Blick des Mönches starr, als er sich an Farolds Schicksal erinnerte. „Der Herr möge seiner Seele gnädig sein. Man hat ihn und seine Gemahlin brutal gemeuchelt. Hätte ich nur geahnt, was sich in dieser Nacht zutragen würde, so hätte ich ein anderes Refugium für die Nacht gesucht.“

„Hättet Ihr diesen Überfall erahnt“, erwiderte Degenar beruhigend, „und wäret gegangen, statt ihnen beizustehen, so hättet Ihr eine schwere Sünde begangen. Durch Euer Bleiben hingegen wart Ihr in schwerster Stunde als Gottes Gesandter vor Ort.“

Der Pilger stutzte kurz und überlegte.

„Womöglich habt Ihr Recht.“

Nach einer kurzen Pause wurde er geradezu euphorisch. „Ja, ganz sicher habt Ihr Recht. Doch warum hat mir Gott keine Eingebung gesandt? Weshalb war es mir nicht vergönnt, die Menschen zu warnen und zu retten? Wo bin ich fehlgegangen, dass ich dieses Unheil erleben musste?“

Nur mit Mühe konnte Degenar seine Ungeduld gegenüber dem unsteten Mönch verbergen. Er versuchte noch einmal das Gemüt des Mannes zu beruhigen und sprach beschwichtigend auf ihn ein: „Quält Euch nicht mit solch schweren Gedanken, Bruder Eberhardt. Gottes Wege bleiben uns oftmals verschlossen. Und es wäre eine Sünde, an ihnen zu zweifeln. Doch soweit mir bekannt ist, wurde die Burg letztlich nicht eingenommen, sondern vom Bruder des Grafen gerettet. Der Herr hat also für die Seinen gesorgt. Leider wurde mir bisher über den Hergang der Dinge nichts berichtet. Vielleicht habt Ihr die Güte, mir die Geschehnisse genauer zu erläutern. Wollt Ihr mir nicht Gesellschaft leisten?“

Erneut weiteten sich die Augen des Pilgers, so sehr fühlte er sich geehrt. „Allzu gerne, ehrwürdiger Abt. Wenn Ihr Eure kostbare Zeit für einen einfachen Wallfahrer wie mich opfern könnt, so werde ich Euch gerne alle Einzelheiten schildern.“

Bruder Eberhardt folgte Degenars einladender Geste. Während die beiden der Menge den Rücken kehrten, begann der Pilger augenblicklich mit seinem detailreichen Bericht über den grausamen Einfall der Nordmänner auf der Greifburg.

An vielen Stellen war die Erzählung nach Degenars Geschmack zu ausführlich, denn sie dauerte beinahe bis zur Vesperandacht. Doch der Abt lauschte den Worten geduldig. Er hoffte, einige aufschlussreiche Hinweise zu erhalten. Ärgerlich für Degenar war lediglich, dass ihm jetzt nur noch wenig Zeit vor dem unangenehmsten Teil des Tages blieb: der Speisung der Gäste im Refektorium.

Der Cellerar war wegen dieses Mahls bereits den ganzen Tag beschäftigt gewesen, denn den Sachwalter der Grafschaft mit Gefolge zu verköstigen, war sehr aufwendig. Deshalb hatte der Abt seinen Freund nicht mehr zu Gesicht bekommen, obwohl er ihn von dem Pilgerbericht unbedingt noch vor dem Essen in Kenntnis setzen wollte.

Erst kurz vor dem Mahl, nachdem Degenar es längst aufgegeben hatte, Ivo ausfindig zu machen, stieß er nahe dem Refektorium zufällig auf ihn. Die übrigen Mönche der Gemeinschaft fanden sich bereits im Speisesaal ein. Degenar zog seinen Freund beiseite und ergriff flüsternd das Wort:

„Wenn man den Ausführungen dieses Pilgers Glauben schenken mag, und das tue ich zum größten Teil, dann haben tatsächlich wilde Männer die Burg überfallen. Allerdings gibt es ein paar Unstimmigkeiten und ich hege einige Zweifel, zumindest was die Identität der Angreifer angeht.“

Ivo war überrascht. „Weshalb? Vielleicht denkt sich dieser Eberhardt etwas aus, um sich interessant zu machen. Oder er erhofft dadurch, länger als üblich bei uns beherbergt zu werden.“

„Nein, das denke ich nicht. Richtige Widersprüche gibt es ja nicht. Eher ein paar außergewöhnliche Zufälle, die nicht so ganz in das Bild eines Überfalls passen, zumindest soweit ich es beurteilen kann. Am meisten stört mich die Tatsache, dass Nordmänner so tief im Landesinneren einen Überfall auf eine hochgelegene Burg durchgeführt haben sollen. Das entspricht nicht den Angriffen, die sie üblicherweise durchführen. In der Regel suchen sie sich ein einfaches Ziel in Flussnähe aus, fallen ein, brandschatzen und ziehen sich dann schnell wieder zurück. Aber die Burg des Grafen? Der nächste große Fluss ist zwei Tagesmärsche von der Burg entfernt, und die Feste ist alles andere als leicht einzunehmen. Zudem ist Bruder Eberhardt fest davon überzeugt, dass der Überfall nur durch die Hand des Leibhaftigen hatte ausgeführt werden können.“

„Wie kommt er denn zu dieser Annahme?“, fragte Ivo überrascht.

„Du kennst doch die Burg des Grafen, nicht wahr?“

„Ja, ich habe sie schon einmal gesehen, jedoch nur aus der Ferne.“

„Dennoch, welchen Eindruck hattest du von dieser Festung?“

„Mein Eindruck entsprach dem, was man sich landläufig über diese Burg erzählt. Starke und hohe Mauern mit einem gut befestigten Tor, erbaut auf einem alles überragenden, beinahe uneinnehmbaren Felsen.“

„Dein Eindruck ist richtig. Gerade deshalb wundert es mich, dass eine Handvoll Barbaren es geschafft haben soll, diese Feste zu erstürmen!“

Ivo dachte nach und stellte schließlich die Frage, auf die Degenar hingearbeitet hatte: „Glaubst du an einen Verrat? Eine List, die die Angreifer unterstützt hat?“

Degenar nickte. „Zumindest besteht die Möglichkeit. Allerdings gibt es dafür noch keine Beweise. Doch ebenso verwunderlich wie der Überfall selbst, ist die unverhoffte Errettung der Burg durch Rurik. Bruder Eberhardt hat auch über diese Umstände ausführlich berichtet. Nach meinem Verständnis spielen dabei zu viele glückliche Zufälle eine Rolle. Irgendetwas stimmt hier nicht und dass Rurik in jener Nacht gottgesandt war, wage ich zu bezweifeln!“

Ivo antwortete mit unterdrückter Stimme. „Glaubst du etwa, dass Rurik …?“ Als der Cellerar begriff, welche Vermutung er da aussprach, hielt er vorsichtshalber den Atem an und schaute sich um. Als er sicher war, dass ihn außer Degenar niemand hören konnte, fuhr er flüsternd fort. „Das ist eine gewagte Theorie ohne Beweise. Zudem sind das weltliche Belange, aus denen wir uns besser raushalten sollten. Gäbe es denn für Rurik überhaupt ein Motiv?“

„Du als Cellerar solltest wissen, dass uns die Änderung der irdischen Verhältnisse durchaus betreffen wird. Und ein Motiv gibt es für Rurik auch: Er strebt nach Höherem. Es ist äußerst fraglich, ob er mit dem Gut, welches er als Allod erhalten hat, zufrieden war. Ich kann mir gut vorstellen, dass er seinen älteren Bruder stets mit Neid und Missgunst betrachtet hat. Es wäre nicht der erste Brudermord in der Geschichte der Menschheit …“

Entsetzen zeichnete sich in Ivos Gesicht ab, als er die Tragweite der Überlegung begriff. „Meinst du, wir beherbergen die leibhaftige Kainssünde in unserer Abtei?“

Degenar nickte und sprach weiter. „Umso heikler ist unsere Lage. Bruder Eberhardts Erzählung hat mir vor allem eines klar gemacht: Faolán ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der rechtmäßige Erbe der Grafschaft. Rogar gilt noch immer als verschollen, und Rurik sucht ihn mit allen Mitteln. Ich bezweifle stark, dass er ihm die Grafschaft nach der Schwertleite übergeben würde, sollte er ihn finden. Daher ist es jetzt wichtig, dass uns kein Fehler unterläuft!“

Ivos fragender Blick ließ Degenar fortfahren: „Wir müssen sicherstellen, dass Faolán auf keinen Fall am Mahl teilnimmt. Am besten wäre es, wenn wir ihn bis nach der Abreise unserer Gäste in einer Kammer verwahren.“

Der Cellerar wurde zusehends unruhiger. „Gütiger Herr, steh uns bei. Ich gehe besser sofort, wenn ich Faolán noch abfangen will. Er ist wahrscheinlich schon auf dem Weg hierher.“ Sogleich machte der Cellerar kehrt und eilte in Richtung Noviziat davon. Degenar war angespannt. Hoffentlich konnte Ivo den Jungen rechtzeitig aufhalten.

Kurz darauf erschienen die hohen Gäste, zu deren Ehren das außergewöhnliche Mahl heute gegeben wurde. Allen voran schritt Rurik. Beinahe gleichauf folgte seine Gemahlin, und hinter ihnen, mal rechts oder links ausscherend, lief Drogo einher, ohne Disziplin oder Respekt. Degenars Stirn zog sich in Missfallen zusammen. Schnell rügte sich der Abt im Stillen, rang um mehr Toleranz und Nachsicht gegenüber seinen Gästen und ignorierte schließlich die Ungezogenheit des Knaben. Er würde Jahre haben, um dieses Kind zu disziplinieren.

Im Anschluss an die Adelsfamilie folgten einige der vertrautesten Krieger und engsten Berater. Der Rest des Gefolges wurde im Gästehaus verköstigt. Degenar war nach wie vor angespannt, als die kleine Gruppe vor ihm zum Stehen kam. Noch immer hoffte er auf Ivos Rückkehr mit einer guten Nachricht über Faoláns Verbleib. Der Abt schluckte nervös und fand ein paar einfache Worte, um die Wartenden zum Mahl einzuladen. Rurik nahm die Einladung ebenso förmlich wie herzlos an. Er nahm sich sogar das Recht heraus, das Refektorium noch vor dem Abt zu betreten.

Degenar ließ ihn gewähren. Der Vortritt hatte keine Bedeutung für ihn, und deshalb ließ er sogar das gesamte Gefolge vor ihm einziehen. Gerade als der letzte Bewaffnete den Speisesaal betreten hatte und Degenar sich hinter ihm einreihen wollte, kam Ivo um die Ecke gelaufen. Schwer atmend nickte der seinem Freund kurz zu und bekundete damit, dass alles zum Besten erledigt war.

Erleichtert betrat Degenar nun mit dem Cellerar das Refektorium. Der Saal bot einen ungewohnten Anblick. Statt einer langen Tafel, an der üblicherweise alle Brüder des Klosters gleichermaßen Platz nahmen und einem kleinen Tisch, an dem der Abt mit wechselnden Brüdern saß, waren heute zwei nahezu gleichgroße Tafeln aufgebaut worden.

Der Abt nahm den für ihn bestimmten Platz an der Mitte der vorderen Tafel ein, genau gegenüber von Rurik. Das war Degenar nicht gewohnt und er verspürte einen Anflug von Unsicherheit.

Mit einem aufgesetzten Lächeln versuchte er, Gelassenheit auszustrahlen und hoffte, dass es nicht allzu gezwungen aussehen mochte. Insgeheim sehnte er schon das Ende des Mahls herbei, bedeutete es doch auch das Ende seiner Verpflichtungen gegenüber den Gästen.

Nachdem alle ihre Plätze eingenommen hatten, wurden Speisen und Trank von mehreren Mönchen aufgetragen. Statt stark gewässerten Weines gab es heute puren Rebensaft. Auch das Essen war üppiger als sonst. Als Hauptgang wurde zu Ehren der Gäste ein frisch geschlachtetes und seit Stunden bratendes Schwein serviert. Die Mehrzahl der Brüder war über die außergewöhnliche Fülle sichtlich erfreut und sie konnten es nur schwer vor ihrem Abt verbergen. Degenar ließ sie gewähren, waren Fleischspeisen doch ohnehin selten. Er selbst aß lustlos und beteiligte sich lediglich mit kargen Höflichkeiten und Floskeln an den Tischgesprächen.

Dafür beobachtete Degenar aufmerksam, aber unauffällig sein Umfeld. Immer wieder blieb sein Blick auf der massigen Frau am unteren Ende der Tafel haften. Hätte sie ein Messer in der Hand gehabt und kurzes Haar getragen, hätte sie sich mühelos als Mann ausgeben können. Sie benahm sich zwar standesgemäß, jedoch fehlte ihren Bewegungen jegliche Grazie. Ihr Kleid wirkte merkwürdig fehl an ihrem fülligen Körper. Ihre Haltung war alles andere als erhaben, wie man es von einer Dame ihres Standes erwartete. Selbst die Art und Weise, wie sie den Löffel zum Munde führte, erinnerte mehr an einen Bauern als an eine Adelsfrau.

Trotz ihrer fehlenden Eleganz ließ Wulfhild keinen Zweifel daran aufkommen, welche Position sie innehatte. Obwohl nur am Tischende platziert, strahlte sie eine Präsenz aus, die auf besondere Weise den Saal für sich einnahm, trotz der Anwesenheit ihres Mannes.

Als Degenar das erkannte, zollte er Rurik einen gewissen Respekt. Einer derart dominanten Frau täglich gewachsen zu sein, war sicherlich keine leichte Aufgabe. So mancher Mann wäre schon längst an ihr zerbrochen. Diese Erkenntnis brachte ein leichtes Schmunzeln auf Degenars Lippen und es schien, als wolle sich doch noch ein Hauch guter Laune in seinem Herzen ausbreiten.

Just in diesem Augenblick sprach ihn Wulfhild an: „Erheitert Euch die Aussicht, meinen Sohn in Eure Verantwortung zu nehmen – ehrwürdiger Abt? Ich hoffe nicht!“

Die Gespräche der Gefolgschaft verstummten schlagartig und alle Augen richteten sich auf Degenar. Der Abt war sichtlich überrascht, antwortete Wulfhild jedoch nach kurzem Zögern höflich: „Verzeiht mir, Verehrteste, dies ist keineswegs der Fall. Mein Lächeln wurde durch einen fröhlichen, plötzlich auftauchenden anderen Gedanken hervorgerufen, und ich kann Euch versichern, dass er nicht im Zusammenhang mit Eurem Sohn stand.“

„Gut für Euch! Denn solltet Ihr die Euch gestellte Aufgabe nicht mit aller Ernsthaftigkeit annehmen, würde ich mich gezwungen sehen, unsere Übereinkunft wieder rückgängig zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass dies nicht in Eurem Interesse wäre, auch wenn Ihr Euch bevorzugt enthaltsam gebt.“

Degenars Blick richtete sich auf den schweigenden Rurik. Lediglich das Verharren seines Löffels auf dem Weg zum Mund ließ erkennen, dass Wulfhild kurz davor stand, ihre Grenzen zu überschreiten. Dass sie am gleichen Tisch saß wie er, war schon ein Privileg. Dass sie aber darüber hinaus in dieser Weise das Wort ergriff, war eine Unverfrorenheit. Doch statt seiner Gemahlin Einhalt zu gebieten, ließ Rurik sie zunächst gewähren.

Schnell erkannte Degenar den Grund, weshalb Wulfhild ihn angesprochen hatte. Es ging nicht um ihn und seine Ansichten, sondern um das ständige eheliche Kräftemessen, in das er hineingezogen wurde. Seine Erwiderung fiel entsprechend geschickt aus.

„Da es Euch sehr am Herzen zu liegen scheint, kann ich Euch nur versichern, dass es der Bruderschaft an Ernsthaftigkeit in keiner Weise mangelt. Ich persönlich bin der Auffassung, dass jeder Mensch seinen vom Herrn gestellten Lebensaufgaben mit absoluter Ehrfurcht entgegentreten muss. Dies gilt auch für die schwersten Prüfungen. Erst dann, wenn der Mensch an seine Grenzen gelangt und ihm nur noch das Vertrauen in den Herrn bleibt, wird Gott sich ihm offenbaren. Und mit Gottes Hilfe kann jede Aufgabe gemeistert werden. Doch um seiner Aufgabe gewachsen zu sein, gibt es neben dem Gottvertrauen noch eine weitere, wichtige Voraussetzung.“

Degenar legte eine Pause ein, um zu sehen, ob Wulfhild ihm folgen konnte. Doch ihre Geduld war von kurzer Dauer. Leicht genervt fragte sie schließlich nach: „Und welche Voraussetzung sollte das Eurer Ansicht nach sein?“

„Dass die Aufgabe klar gestellt ist. Denn ein Unwissender wird das Wesentliche einer Aufgabe niemals als solches erkennen und schon gar nicht meistern können. Ebenso verhält es sich mit einem Novizen. Wir können ihn viel lehren, doch eines können wir dem Kinde niemals geben: Die Erkenntnis, weshalb er unter uns weilt.“

„Ihr verkennt die Lage, ehrwürdiger Abt. Hier geht es nicht um Erkenntnis!“

Die Worte kamen schnell und hart aus Wulfhilds Mund, als fühle sie sich bedrängt. Degenar hatte diese Aussage erwartet und ging darauf ein: „Möglicherweise verkenne ich tatsächlich die Situation und Ihr müsst einem armen Mönch auf die Sprünge helfen. Um was geht es Euch? Weshalb gebt Ihr Euren einzigen Sohn ausgerechnet in unsere Obhut?“

Wulfhild legte wütend den Löffel beiseite. Der Abt vermochte nicht zu sagen, ob es seine Forschheit oder die Frage selbst war, die sie so in Rage brachte. Es war ihm auch gleich. Ihn interessierte nur der Grund für ihren Entschluss. Sollte Wulfhild klare Pläne mit ihrem Sprössling haben, so zögerte sie jetzt, diese preiszugeben und starrte stattdessen wortlos auf ihren Teller. Endlich schien sie die passenden Worte gefunden zu haben:

„Es gibt mehrere Ziele für die Erziehung meines Kindes, die Euch am Herzen liegen sollten. Wenn Ihr sie beachtet, lauft Ihr keine Gefahr, meine Erwartungen zu enttäuschen. Allem voran sind es Schreiben, Lesen und die Arithmetik. Ihr wisst selbst allzu gut, welche Macht die Schrift ausüben kann. Oder liege ich hier falsch, ehrwürdiger Abt?“

„Gewiss nicht. Doch für die Lehre der Schrift und die Grundzüge der Arithmetik hätte Euch jeder andere Priester ausreichende Dienste leisten können. Er hätte Drogo auf der Burg herangezogen und die Aufwendungen hierfür wären erheblich geringer gewesen als das, was Ihr jetzt aufbringt.“

„Möglicherweise habt Ihr Recht. Doch hier geht es um mehr.“

„Um was geht es Euch denn?“, wollte Degenar sofort wissen.

„Disziplin, Respekt und Ehrfurcht! Und die Fähigkeit, seinen Verstand an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass er letzteres in seinem bisherigen Umfeld erlernen würde.“

Diese Bemerkung fiel in einem Ton unverkennbarer Verachtung. Rurik blickte seine Gemahlin erzürnt an, und Degenar wurde klar, dass dieser Disput nicht zum ersten Mal geführt wurde. Schnell versuchte er einzuschreiten.

„Für die ersten drei Punkte kann ich Euch versichern, dass gerade dies im Interesse unserer Gemeinschaft liegt. Doch der Einsatz des Verstandes liegt nicht in unserer Hand. Seinen eigenen Verstand einzusetzen bedeutet vor allem, dass man dazu auch bereit ist und, was viel entscheidender ist, dass der Verstand auch vorhanden ist!“

Die Klarstellung hatte ihr Ziel präzise getroffen und Wulfhild errötete vor Zorn. Alle Anwesenden schwiegen, und für einen Augenblick herrschte absolute Stille. Wulfhild brachte offensichtlich all ihre Kräfte auf, um Haltung zu wahren. Es schien ihr zu gelingen, denn trotz ihrer Wut klang ihre Stimme ruhig, wenn auch tonlos und unterkühlt. „Ihr werdet genügend Zeit haben, ehrwürdiger Abt, seine Fähigkeiten zu erkennen, auch über die Zeit in Eurem kleinen Kloster hinaus! Vergesst nicht, wessen Erbe er ist!“

Degenar blickte auf den angehenden Novizen neben seiner Mutter, über den hier so offen debattiert wurde. Offensichtlich schien Drogo nicht zu begreifen, um was oder wen es hier ging. Das war alles andere als ein Zeichen von wachem Verstand. Im Gegenteil, Drogo saß gelangweilt da und spielte lustlos mit seinem Löffel in den Essensresten auf seinem Teller.

Plötzlich verspürte Degenar Mitleid mit dem Knaben. Seine Worte kamen bitter und zynisch über die Lippen. „Ist dem Jungen klar gemacht worden, was ihn hier erwartet? Ist ihm bewusst, dass er über viele Jahre in diesem Kloster leben wird, in Demut, Armut und Enthaltsamkeit?“

An Wulfhilds Mimik konnte Degenar erkennen, dass er einen weiteren Treffer erzielt hatte. Offen bekannte sie: „Ich habe Euch bereits erklärt, dass es hier nicht um Erkenntnisse geht!“

„Um was geht es Euch dann? Wollt Ihr den Knaben nur von Eurer Seite wissen? Oder steckt noch etwas anderes dahinter?“

Rage stand deutlich in Wulfhilds Gesicht geschrieben. Nur mit größter Mühe behielt sie die Kontrolle über ihre Stimme. In ihrem Zorn erhob sie sich und stützte sich mit den Fäusten auf der Tafel ab. „Glaubt Ihr etwa, dass ich noch Zeit für ein Kind haben werde, wenn ich eine Burg und ein Gut mitsamt Gesinde zu leiten habe? Das bedeutet eine Unmenge an Aufgaben, die erledigt werden müssen, Tag für Tag. Wie stellt Ihr Euch das vor? Wie soll man eine Grafschaft verwalten, wenn einem ständig ein Balg am Rockzipfel hängt?“

Wulfhild verstummte schlagartig und es herrschte wieder Stille im Saal. Ob Mönch oder Krieger, die meisten Anwesenden hielten die Köpfe eingezogen. Degenar hielt Wulfhilds Blick stand. Der Satz, der ihm auf der Zunge lag, dass doch für diese Pflichten ihr Gatte zuständig sei, wurde überflüssig. Rurik erhob sich nämlich gerade und sein Blick drückte genau diese Zuständigkeit aus. Beschämt senkte Wulfhild ihr Antlitz und wurde sich ihres Fehlers gewahr. Der mächtige Krieger musste gegen diese Kritik an seiner Person etwas unternehmen, wollte er sein Gesicht wahren! Doch statt laut zu werden und seine Gattin anzufahren, war nur dieser scharfe Blick notwendig, um sie in ihre Grenzen zu verweisen. Wulfhild zeigte sich reumütig und verhielt sich ruhig, doch Degenar bezweifelte, dass diese Haltung ehrlich war. Um Schlimmeres zu verhindern, richtete sie sich auf und verließ mit einer gemurmelten Entschuldigung die Tafel.

Erst jetzt, als seine gewaltige Mutter von seiner Seite wich, bemerkte Drogo, dass etwas Außergewöhnliches im Gange war. Man hätte den Eindruck gewinnen können, der Junge sei diese Art von Auseinandersetzung gewohnt. Mit aufgerissenen Augen sah der Junge seiner Mutter nach.

Dann ließ er den hölzernen Löffel fallen und lief ihr schreiend nach.

Degenar hielt derweil seinen Blick fest auf Rurik gerichtet. Das Gesicht des Kriegers sprach Bände, und es hätte den Abt nicht verwundert, wenn Rurik ein leises Grollen aus seiner Kehle hätte ertönen lassen. Der Verwalter der Grafschaft glich einem Wolf, der soeben sein Revier erfolgreich behauptet, und dessen Rivale, seltsamerweise die eigene Gemahlin, das Feld geräumt hatte.

Es dauerte eine ganze Weile bis die Normalität ins Refektorium zurückkehrte. Als das Klosteroberhaupt wieder zu speisen begann, folgten die Brüder seinem Vorbild und die Lage entspannte sich. Doch der Abend blieb von diesem Zwischenfall geprägt.

Wulfhilds Entgleisung hinterließ bei Degenar einen nachhaltigen Eindruck. Dieser Frau ging es um Macht, um nichts anderes! Im Bemühen, als Gemahlin die vor kurzem erhaltene Macht des Sachwalters zu festigen, war Drogo, ihr eigen Fleisch und Blut, nur noch Ballast. Drogo hatte nicht die leiseste Ahnung von dem, was ihn am morgigen Tage erwartete, geschweige denn, wie sehr sich sein bisheriges Leben ändern sollte.

* * *

In der folgenden Nacht verbreiteten die Gäste Unruhe in dem sonst so streng geregelten Leben der Bruderschaft. Während das ungewöhnlich üppige Mahl manchem Mönch Schlaflosigkeit bereitete, respektierten Ruriks Männer in keiner Weise die Regeln ihrer Gastgeber. Im Gegenteil, nach dem gemeinsamen Mahl begann im Gästehaus ein zügelloses Gelage, als sei der Völlerei nicht schon genug gewesen.

Degenar hatte es bereits befürchtet, denn Bruder Ivo informierte ihn noch im Refektorium darüber, welche Speisen und Getränke er auf Wunsch der Herrschaft ins Gästehaus hatte bringen lassen. Hinzu kam noch all das, was von Ruriks Karren abgeladen worden war. Als in den Nachtstunden die Matutin abgehalten wurde, war die lautstarke Geselligkeit sogar durch die dicken Mauern der Kirche zu hören. Gleiches wiederholte sich zur Laudes. Allein das Wissen um die baldige Abreise des Gefolges half Degenar, all die Ärgernisse durchzustehen. Spätestens zur Mittagsstunde würde wieder Ruhe in der Abtei herrschen.

Eine neue Geschäftigkeit im Klosterhof begann bereits mit dem Morgengrauen, kurz nachdem das letzte Licht im Gästehaus erloschen war. Die Bediensteten hatten der Feier natürlich nicht beigewohnt und begannen früh, die Karren zu beladen.

Trotz des frühen Trubels wurde es später Vormittag, bis die Pferde im Stall gesattelt und auf den Hof geführt wurden. Drogos Pony war ebenfalls dabei. Es war dem Jungen nicht gestattet, das Tier im Kloster zu halten, und für Außenstehende sah es so aus, als würde der Knabe die Abtei ebenfalls verlassen.

Plötzlich stürmte Drogo völlig unbekümmert mit seinem Holzschwert in der Hand aus dem Gästequartier und rannte aufgeregt schreiend zwischen Menschen und Pferden einher. Offensichtlich hatte noch niemand dem Jungen mitgeteilt, dass seine Zukunft im Kloster lag. In Drogos Augen war das Spektakel der Abreise ein großes Spiel und er hegte keinen Zweifel, dass er daran teilhaben durfte.

Ratlos schaute Degenar dem Treiben zu. Er würde dem Kinde bei dem kurz bevorstehenden Eklat nicht helfen können. Ivo und Walram standen zwar hinter ihm, doch auch sie gedachten nicht einzugreifen.

Die Mönche hatten ohnehin noch nicht das Recht, sich um den Jungen zu kümmern. Drogos Aufnahme als Novize war zwar auf Pergament besiegelt, doch die offizielle Handlung, die Übergabe des Kindes in die Obhut des Klosters, verbunden mit der Überreichung der Urkunde, war noch nicht vollzogen worden. Erst ab der Übergabe war es die Aufgabe der Gemeinschaft, sich des Schützlings anzunehmen. So suchte Degenar nach den Personen, die sich noch um den Knaben kümmern mussten. Er fand Rurik in einiger Entfernung, der seinen Männern gerade Befehle erteilte, um die Abreise zu beschleunigen.

Kurz darauf ging er auf seinen Sohn zu, nahm ihn bei den Schultern und führte ihn bis auf wenige Schritte vor die drei Mönche. Fast alle Männer des Gefolges hatten ihre Reittiere oder Karren bestiegen und das Fußvolk stand ebenfalls bereit. Eine merkwürdige Stille trat ein.

Drogo stand zwischen Degenar und Rurik, dessen eine Hand schwer auf der Schulter des Jungen ruhte. In der anderen Hand hielt er ein gefaltetes und mit Wachs versiegeltes Pergament: die Schenkungsurkunde.

Erwartungsvoll blickte Drogo in die Augen des Abtes. Er hatte keine Ahnung, weshalb er hier stand und wirkte unsicher. Dann ergriff Rurik das Wort, über den Kopf des Kindes hinweg, und richtete es an das Klosteroberhaupt: „Ehrwürdiger Abt, es ist an der Zeit, Euch des Jungen anzunehmen, wie es vereinbart und besiegelt wurde.“

„Nichts anderes liegt in meiner Absicht“, bestätigte Degenar mit sanfter Stimme. „Schließlich war dies doch das einzige Bestreben Eures Aufenthaltes.“

Rurik brummte etwas vor sich hin, als überlege er, ob die Antwort des Abtes wieder als Stichelei zu werten war, hielt sich jedoch zurück. Seine Stimme blieb beherrscht und höflich.

„Dann nehmt ihn jetzt in Eure Obhut und sorgt für ihn, wie es Eure Ordensregeln vorschreiben.“

Seine große Hand löste sich von der Schulter des Sohnes und gab ihn mit einem kleinen Schubs nach vorne frei. Rurik folgte ihm, überreichte dem Abt die Urkunde und trat dann einige Schritte zurück. Der Knabe blieb allein vor dem Abt stehen, verstand aber nicht recht, weshalb sein Vater nicht mehr hinter ihm stand. Er hatte Ruriks Worten keine Beachtung geschenkt und schaute nun fragend und hilflos drein.

Sofort schritt Prior Walram ein. Er ging an Degenar vorbei und mit ausgestreckter Hand dem Kind entgegen. Die plötzliche Bewegung des dunkel gekleideten Mönches verwirrte Drogo allerdings und er suchte mit einem verzweifelten Blick über die Schultern nach einer Erklärung im Gesicht seines Vaters. Was er dort sah, gefiel ihm ganz und gar nicht: Ruriks Miene war versteinert und teilnahmslos.

Der Knabe drehte sich deshalb nach seiner Mutter um. Wulfhild, die auf ihrem Pferd saß und in einiger Entfernung auf die Abreise wartete, erwiderte zwar den Blick ihres Sohnes, doch in ihren Augen gab es außer Kälte nichts für ihn zu lesen. Verwirrt suchte Drogo weiter nach einer Antwort und erblickte sein gesatteltes Pony. Langsam fügten sich ihm die Bilder zusammen und sein Gesichtsausdruck wandelte sich allmählich von überrascht zu angsterfüllt. Er hatte begriffen! Langsam begann er den Kopf zu schütteln, als wolle er der Trennung mit Ungläubigkeit und Leugnen begegnen.

Ein Funke Hoffnung blitzte noch einmal in Drogos Gesicht auf, als Rurik dem Prior zuvorkam und sich zu seinem Sohn beugte. Doch statt ihn, wie erhofft, zu sich zu nehmen, entwendeten die mächtigen Vaterhände das Holzschwert des Sohnes. Rurik mied dabei jeglichen Blickkontakt und sah die Tränen des Jungen nicht, die langsam die Wangen herabliefen.

Das erste „Nein“ kam nur geflüstert über Drogos Lippen, von Tränen erstickt. Das zweite „NEIN!“ schrie er mit Protest in den stillen Hof, dass es von den Wänden der Klostergebäude widerhallte. In einem letzten Aufbäumen versuchte Drogo in all seiner Verzweiflung davonzulaufen. Doch sein Vater war darauf vorbereitet. Zwei starke Arme verhinderten jegliches Entkommen, so sehr sich der zukünftige Novize auch dagegen wehrte.

Von diesem Augenblick an ließ Drogo seinen Gefühlen freien Lauf. Sein flehender Blick wanderte von Vater zu Mutter und wieder zurück. Als ihn die Arme seines Vaters dennoch nicht freigeben wollten, begann er noch verzweifelter dagegen anzukämpfen, doch die Hiebe seiner kleinen Fäuste waren für den in Leder gehüllten Krieger ohne Wirkung.

Jetzt trat Prior Walram an den Jungen heran. Er versuchte, eine der wild schlagenden Hände zu fassen, doch sie entwischten ihm immer wieder. Drogo hatte nicht die Absicht, sich freiwillig in die Obhut der Mönche zu begeben. Mit großem Aufwand gelang es Walram schließlich, beide Handgelenke des Jungen zu fassen und festzuhalten. Er hatte sichtlich Mühe, sie nicht wieder zu verlieren. Mit all seiner Kraft richtete Drogo jetzt seine Wut gegen den fremden Ordensbruder.

Für Rurik war die Angelegenheit, sein Kind dem Kloster zu übergeben, damit beendet. Er öffnete seine Arme, ließ den Jungen los und entfernte sich ein paar Schritte. Für Drogo hingegen war noch nichts entschieden. Sein Zorn wurde durch den Rückzug des Vaters zusätzlich geschürt. Er begann, noch wilder zu zerren und zu schreien, versuchte Walram mit Tritten zu traktieren und landete dabei so manchen schmerzhaften Treffer. Der Prior festigte seinen Griff um die Handgelenke nachhaltig, weshalb sich Drogo aus Leibeskräften hin und her zu werfen begann. Er wollte dem Mönch um keinen Preis gehorchen.

Degenar bemerkte, dass er den Anblick des ringenden Priors genoss. Wie sehr sich Walram doch abmühen musste, sein heimliches Abkommen in die Tat umzusetzen.

Drogo erkannte schließlich die Ausweglosigkeit seiner verzweifelten Versuche und ließ sich auf einmal wie ein nasser Sack auf den staubigen Erdboden fallen, schluchzend und flehend. Seine Worte, von Tränen und Rotz erstickt, waren kaum zu verstehen, doch es schien, als verhandle er um sein Leben wie ein Verurteilter.

Degenar wollte nicht länger untätig bleiben. Er drehte sich zur Seite und suchte nach einem Ausweg aus dieser unmöglichen Situation, als er im gleichen Moment einen älteren Novizen mit einem kleinen Jungen an der Hand das entfernte Ende des Hofes betreten sah. Sofort erkannte er, dass der kleine Junge Faolán war.

Dem Abt blieb beinahe das Herz stehen. All die Anstrengungen, den Jungen von Rurik fernzuhalten, wurden durch das leichtfertige Handeln eines Novizen zunichte gemacht. Degenar schalt sich leise einen Narren. Wieso war er nur ein solches Risiko eingegangen und hatte den Jungen nicht bis nach der Abreise Ruriks eingesperrt?

Sein gesamter Körper spannte sich an. Ein leises Aufstöhnen zu seiner Rechten verriet ihm, dass Ivo die Novizen ebenfalls bemerkt hatte. Beide hofften, dass Walram sich weiter mit Drogo beschäftigte, so dass er Faolán nicht bemerken würde. Vielleicht würde der ältere Novize mit Faolán den Platz unbemerkt wieder verlassen. Doch statt eines der nächsten Gebäude zu betreten, schlugen die beiden Novizen genau den Weg quer über den Hof ein, der sie unmittelbar an der kleinen Gruppe um den ringenden Drogo vorbeiführen würde.

Degenar schloss die Augen und richtete ein Stoßgebet gen Himmel. Ihm blieb jetzt nur noch die Hoffnung, dass Rurik den jungen Novizen nicht als seinen Neffen erkennen würde. Seine weitere Sorge galt Walram, der Rurik darauf aufmerksam machen könnte, wer dieser Junge seiner Vermutung nach war.

Degenars Herz schlug rasend bis zum Halse und es wollte ihm beinahe stehen bleiben, als Faolán sogar für einen kurzen Moment direkt in das Gesicht des mächtigen Kriegers schaute. Doch obwohl sich ihre Blicke trafen und Rurik einen Augenblick zögerte, schien er den Sohn seines Bruders nicht zu erkennen. Er widmete sich ohne Regung wieder seinem eigenen Jungen und dessen Ringen mit Prior Walram.

Der Abt konnte sein Glück kaum fassen. Erleichtert dankte er still dem Herrn, dass er den Krieger mit Blindheit geschlagen hatte. Sogleich begann Degenar sich ebenfalls um Drogo zu bemühen, damit seine Untätigkeit und seine Blicke auf Faolán ihn nicht verraten würden.

Als sich die beiden Novizen in unmittelbarer Nähe befanden, nur wenige Ellen von Degenar entfernt, hielt Drogo plötzlich inne. Im Dreck liegend blickte er überrascht zu Faolán auf. Schweigen legte sich über den Platz. Vielleicht hegte Drogo die Hoffnung, der gleichaltrige Junge sei gekommen, um ihm zu helfen.

Faolán blieb tatsächlich auch stehen und betrachtete den Knaben. Der ältere Novize ließ ihn gewähren, wohl weil er nicht sicher war, ober er den jüngeren vor dem Abt mit harschen Worten vorantreiben sollte oder nicht.

Walram gewann wieder an Fassung, richtete sich auf und begann sachte den Staub von seiner Robe zu klopfen. Degenar biss sich beinahe auf die Zunge, um ja nicht den älteren Novizen mit strengen Worten fort zu schicken. Wie lange würde es noch dauern, bis Walram begriff, dass Faolán vor Rurik stand?

Inzwischen hatte Drogo sich aufgerappelt, machte ein paar Schritte auf Faolán zu und blieb vor ihm stehen, staubig von Kopf bis Fuß. Mit verächtlichem Blick musterte er den fremden Jungen.

Prior Walram war noch immer damit beschäftigt, sein Habit wieder in einen einigermaßen sauberen Zustand zu bringen. Erst jetzt, als Drogo direkt vor Faolán stand, begriff er, was sich vor seinen Augen abspielte. Wie vom Blitz getroffen hielt er in seiner Bewegung inne und sein Blick suchte Rurik, als müsse er ihm etwas Dringendes mitteilen. Der Krieger hatte jedoch nur Augen für seinen Sohn.

Obwohl Drogo und Faolán nahezu gleichaltrig waren, unterschieden sie sich gänzlich in ihrer Statur. Wie sein Vater, besaß Drogo deutlich breitere Schultern als sein Gegenüber und überragte Faolán um einen halben Kopf.

Ein zaghaftes Lächeln zeigte sich auf Faoláns Lippen, als freue er sich, diesen Jungen zu sehen.

Degenar blieb beinahe das Herz stehen. Er wusste nicht, ob das Lächeln bedeutete, dass Faolán seinen Vetter erkannt hatte.

Es gab keine Worte des Grußes, die Kinder schauten einander nur an. Drogos Augen wurden schmal. Er schien das Lächeln falsch zu interpretieren. Vielleicht suchte er auch nur einen Grund, um seine Wut an jemanden auslassen zu können. Deshalb klangen seine Worte herausfordernd und verächtlich zugleich: „Lachst du mich aus oder grinst du immer wie ein Dämlack?“

Augenblicklich erstarb Faoláns Lächeln und ein unsicherer, fragender Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.

„Willst du mir nicht antworten oder bist du zu dumm dazu?“, provozierte Drogo erneut.

Wiederum gab Faolán keine Antwort. Degenar beobachtete ihn genau. Der Junge hatte während seiner wenigen Tage im Kloster noch kein einziges Wort gesprochen! Zu tief saß wohl der Schrecken der jüngsten Geschehnisse in seinem Herzen. Hoffentlich würde Faolán sein Schweigen nicht ausgerechnet jetzt wegen eines simplen Streites mit einem fremden Jungen brechen.

„Wen glaubst du denn vor dir zu haben, du Dämlack?“, reizte Drogo sein Gegenüber weiter. „Warte nur, ich werde dir das Grinsen schon noch austreiben!“

Blitzschnell fuhr Drogos rechte Faust mit voller Wucht in Faoláns Magengrube. Der sackte zusammen und fiel nach Luft ringend zu Boden. Drogo setzte mit dem Fuß nach und traf die gleiche Stelle erneut. Der Schmerz war zu groß, als dass Faolán hätte weinen oder einen Schrei von sich geben können. Lediglich ein leises Stöhnen war zu hören, als er sich schützend zusammenrollte.

„Hat es dir etwa die Sprache verschlagen? Wo ist denn dein dämliches Grinsen?“, höhnte Drogo, der jetzt selbst ein breites Lächeln zeigte.

Die Mönche blickten entsetzt auf die beiden Jungen. Sie waren derartige Handgreiflichkeiten nicht gewohnt. Nach einem Augenblick der Starre reagierte Ivo als Erster. Trotz seiner Massigkeit sprang er behänd nach vorne, ergriff mit einer ihm nicht zuzutrauenden Schnelligkeit Drogos Arm und verhinderte dadurch ein erneutes Zutreten. Kräftig zog er den Jungen zur Seite, der dabei beinahe zu Boden ging. Drogo versuchte zwar erneut auf Faolán loszugehen, doch Bruder Ivo war kräftiger als Prior Walram. Für ihn war es kein Problem, dem wütenden Knaben Einhalt zu gebieten. Der Mönch musste seinen Griff um Drogos Handgelenk lediglich etwas verstärken, um den Jungen zur Besinnung zu bringen. Mit einem Fingerzeig wies er Drogo die Richtung ins Noviziat. Wortlos folgte der Knabe dem Kellermeister. Ohne weiteren Widerstand ergab er sich stillschweigend seinem Schicksal.

Die Unruhe auf dem Hof hatte sich endlich gelegt. Der ältere Novize hatte sich über Faolán gebeugt und kümmerte sich um ihn. Mit Erleichterung stellte Degenar fest, dass der Junge schnell wieder auf die Beine kam und gehen konnte, wenn auch von Schmerzen gekrümmt.

Beruhigt wandte sich der Abt jetzt Rurik zu, der sich inzwischen sein Pferd hatte bringen lassen. Auf seinem Gesicht war Zufriedenheit abzulesen, als sei er mit dem Auftreten seines Sohnes einverstanden.

Entschlossen schritt Degenar auf den Sachwalter zu, bevor das muskulöse Schlachtross davontraben konnte, und hielt es an den lose herabhängenden Zügeln fest. Er wusste, dass er Rurik gegenüber erneut viel zu waghalsig auftrat und einiges riskierte. Doch er konnte ihn unmöglich ohne ein abschließendes Wort davonreiten lassen.

Rurik blickte den Abt streng an, der sein Pferd nicht freigeben wollte. Obwohl Degenar den Krieger ansprach, so waren seine Worte auch an dessen entfernt wartende Gemahlin gerichtet: „Disziplin, Respekt und Ehrfurcht! Ihr könnt Euch sicher sein, dass wir dies Drogo beibringen werden. Doch ob er es jemals begreifen wird, liegt nicht in unserer Hand. Es gibt Dinge im Blut eines Menschen, die sich nicht von außen beeinflussen lassen, so sehr sich einer auch dazu berufen fühlt. In manch anderen Menschen hingegen schlummert eine Wahrheit, die von außen nicht erkennbar ist. Und dann gibt es Tage, da rächt sich das eigene Blut der verwerflichen Taten vergangener Zeiten! Möge der Herr jenen beistehen, die übel gehandelt haben!“

Degenar wusste nicht, was in ihn gefahren war, diese waghalsige Anspielung auszusprechen. Er konnte an Walrams Anspannung spüren, dass der die Bedeutung seiner Worte verstanden hatte. Ruriks Blick hingegen ließ Degenar in völliger Ungewissheit, ob er begriffen hatte. Bevor der Abt noch ein Unheil durch weitere unüberlegte Drohungen anrichten konnte, ließ er die Zügel los, schlug dem Pferd kräftig auf den Hals, dass es seitlich auswich und die ersten Schritte auf das Tor zu machte. Der Sachwalter ließ sein Pferd laufen und ignorierte Degenars Worte. Auf sein Zeichen setzte sich der Tross in Bewegung und Rurik führte sein Gefolge aus dem Klosterhof.

Mit schwelender Wut schritt Degenar jetzt auf Walram zu, der Rurik entgeistert nachschaute, als wolle er ihm noch etwas Wichtiges mitteilen. Der Abt konnte sich denken, um was es sich handelte. Unter dem Lärm des ausziehenden Gefolges sprach er so zu Walram, dass nur der seine Worte vernehmen konnte.

„Das alles habt allein Ihr zu verantworten, ehrwürdiger Prior. Ihr dürft Euch deshalb ganz besonders um Drogo kümmern. Schließlich wart Ihr doch so darauf aus, dieses Abkommen zu besiegeln. Hoffentlich wurde das Kloster dabei nicht übervorteilt!“ Beinahe verächtlich drückte er Walram die Urkunde in die Hand und fuhr fort: „Ich erwarte, dass dieser Junge sich zu beherrschen lernt. Falls nicht, so wird Drogo das gleiche Strafmaß wie jeder andere Novize erfahren, ganz gleich wessen Sohn er ist. Solltet Ihr dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so werde ich auch Euch gegenüber keine Nachsicht walten lassen. Habt Ihr mich verstanden?“

Walram starrte noch immer dem Staub aufwirbelnden Tross nach und wirkte, als habe er den Abt nicht vernommen.

„Habt Ihr mich verstanden, Prior?“ fragte Degenar erneut, aber mit mehr Nachdruck.

Erst jetzt reagierte Walram, wie einem Traum entrissen. „Ja … ja, gewiss doch.“

„Dann wisst Ihr auch, was zu tun ist!“

Degenars letzte Worte klangen, als wolle er dem Prior eine schwere Last vor die Füße werfen, die man ihm selbst auferlegt hatte. Er hatte den grobschlächtigen Jungen nicht in das Kloster aufnehmen wollen. Sollte sich doch Walram darum kümmern, in all seinem Eifer.

Der Abt machte kehrt, um sich in seine Räumlichkeiten zurückzuziehen. Dabei schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihm bis dahin fremd gewesen war: Wenn der Sohn des Sachwalters, des möglicherweise bald neuen Grafen, in seinem Kloster untergebracht war, würde dies sicherlich Ruriks verstärkte Aufmerksamkeit zur Folge haben! Erneut überkam ihn eine Welle der Wut. Um ihren Ausbruch zu verhindern, eilte er in seine Gemächer, um dort die notwendige Ruhe im Gebet zu finden.

Walram befand sich als einziger noch auf dem Hof, nachdem der Tross ihn längst verlassen hatte. Er wirkte verloren und unsicher, als stelle er seine Bestrebungen in Frage, den jungen Drogo als Novizen aufzunehmen. War es tatsächlich so klug gewesen und wird es so vorteilhaft sein, wie er es sich erhoffte? Doch die Zweifel waren nur von kurzer Dauer, dann schüttelte er den Kopf, um einen klaren Verstand zu bekommen. Es gab einiges zu tun, schließlich bedurften zwei neue Novizen seiner ganz besonderen Aufmerksamkeit!

Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle

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