Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach - Страница 12

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Anno 956 – Freundschaften

Es dauerte nicht lange und der Klosteralltag vereinnahmte Faolán voll und ganz. Zu Beginn hatte er einige Schwierigkeiten, sich an das zeitige Aufstehen und den kurzen, ständig unterbrochenen Schlaf zu gewöhnen. Doch nach einigen Wochen war ihm beides zur Selbstverständlichkeit geworden, wie so vieles in seinem neuen Leben bei den Benediktinern.

Für Faolán war der strikt geordnete Tagesablauf ein willkommener Halt. In der Bruderschaft fand er die Geborgenheit, die er dringend benötigte, auch wenn ihm das selbst nicht bewusst war. Dennoch fühlte er sich manchmal verloren und verlassen. Diese merkwürdige Einsamkeit fühlte sich an, als habe man ihn jemandem entrissen, als befände er sich jetzt in einem anderen, fremden Leben. Doch so sehr er sich auch zu erinnern versuchte, ihm kam kein anderes Leben in den Sinn als das in dieser Abtei.

Die Nächte im Kloster wurden ständig unterbrochen. Nicht nur durch die Andachten, an denen auch die jüngeren Novizen teilnehmen mussten, sondern auch durch Albträume, die ihn heimsuchten. Und ein besonderer Traum kehrte immer wieder.

In diesem Traum war Faolán von hohen Mauern eingekesselt. Hinter sich spürte er eine bedrohliche Hitze. Das hungrige Grollen eines lodernden Brandes dröhnte in seinen Ohren. Stets drehte er sich um und sah dann ein weit geöffnetes Tor in einem großen Gebäude, das von Flammen verzehrt wurde. Trotz des Feuers stand eine Gestalt regungslos in diesem Tor. Faolán wusste nicht, ob er die Person kannte, denn er sah nur ihre Silhouette. Er fürchtete sich vor den Flammen und wäre am liebsten davongelaufen, doch seine Beine weigerten sich, waren bleischwer. Zu seiner Verwunderung versuchte die Gestalt im Tor nie, dem Feuer zu entkommen. Sie blieb stehen und starrte in seine Richtung, als wolle sie ihm etwas mitteilen.

Dann begann sich das brennende Gebäude jedes Mal auf merkwürdige Weise von ihm zu entfernen. Er konnte nichts dagegen tun. Immer schneller verschmolzen Gebäude, Gestalt und Feuer zu einem rotglühenden Punkt, der schließlich im fernen Dunkel verschwand. Er selbst befand sich dann in vollkommener Schwärze und Stille, haltlos und allein.

Stets erwachte Faolán schweißgebadet aus diesem Traum. Tränen liefen dann über sein Gesicht, als könnten sie das bedrohliche Feuer in seiner Erinnerung löschen. In diesen Momenten war er froh, nicht allein zu sein, froh über die vielen Jungen im Schlafsaal des Noviziats, ihren gleichmäßigen Atem und das leise Schnarchen. Dies gab ihm Halt und tröstete ihn.

Wenn er wach lag und über seine schrecklichen Traumbilder nachdachte, sah er immer die schwarze Gestalt inmitten der Flammen. Immer öfter überlegte Faolán, ob es sich bei dem brennenden Tor vielleicht um die Pforte der Hölle handeln könnte. Ob in dem Tor der Leibhaftige selbst stand und auf ihn wartete. Er brauchte nur seine flammende Hand nach ihm auszustrecken, um ihn zu packen und zu sich zu holen. Bei dieser Vorstellung ergriff Faolán eine große Furcht, so dass er erleichtert war, wenn zur nächsten Andacht gerufen wurde.

Die Rituale der Gemeinschaft halfen Faolán, unangenehme Dinge zu verdrängen und unliebsamen Personen aus dem Weg zu gehen. Zu diesen gehörte auch der neue Novize Drogo. Seit ihrer ersten Begegnung auf dem Klosterhof blieb dessen Hass gegen Faolán unverändert.

Inzwischen hatte Faolán es aufgegeben, einen Grund für diese Feindschaft zu finden. Er konnte nur darauf bedacht sein, Drogo keinen Anlass zum Ausbruch seines Hasses zu geben. Er war freundlich und zuvorkommend, doch sogar das reizte Drogo. Der Sohn des Grafen, wie Drogo sich selbst betitelte, schlug die angebotene Freundschaft aus.

In seiner Ratlosigkeit blieb Faolán nur eins: Drogo zu meiden. Da es nicht möglich war, den selbst ernannten Grafensohn zur Vernunft zu bringen, war dies die einzige Möglichkeit, seinen täglich angedrohten Hieben zu entgehen. Faolán zog sich zurück. Er hoffte auf diese Weise sich keine weiteren Feinde zu machen. Freunde schaffte er sich dadurch allerdings auch keine und so wurde er ein Außenseiter, der stets die schützende Nähe eines älteren Novizen oder eines Mönches suchte.

Die Kunst, Drogo aus dem Weg zu gehen, beherrschte Faolán mit der Zeit immer besser. Drogo hingegen verstand es, in seinem neuen Umfeld immer einflussreicher zu werden. Er fand schnell Anhänger, die ihn wie getreue Hunde als ihren Herrn ansahen. Mit ihrer Hilfe begann Drogo Faolán das Leben schwer zu machen. Dem gelang es nicht immer, ihnen zu entkommen. Die Blessuren, die er bei solchen Zwischenfällen davontrug, waren so klein, dass sie von den Mönchen nicht bemerkt wurden. Anfangs konnte Faolán das noch ertragen. Doch schon nach wenigen Monaten hatte Drogo viele Verbündete, die Faolán stets im Auge behielten, ihm auflauerten und bei jeder Gelegenheit traktierten.

Statt sich geschlagen zu geben oder Hilfe bei den Mönchen zu suchen, nahm Faolán die Herausforderung an. Innerhalb kürzester Zeit lernte er die Möglichkeiten des Klosters zu seinem Vorteil zu nutzen. Er entdeckte zahlreiche Schleichwege, Abkürzungen und versteckte Löcher, die sonst nur Katzen und Ratten aufzusuchen schienen. In sie kroch er, wenn Drogos Anhänger nach ihm suchten.

Jedes Entkommen seines Opfers empfand Drogo natürlich als Schmach und persönliche Niederlage, die es bei der nächsten Gelegenheit unbedingt auszugleichen galt. Wie eine Scharte auf einer sonst makellosen Klinge wollte er sie um jeden Preis auswetzen. Entsprechend wurde Faolán malträtiert, wenn er seinen Häschern das nächste Mal in die Hände fiel.

Inzwischen war es Herbst geworden, und Faolán kam mit diesem Katz- und Mausspiel gut zurecht. Es ging ohnehin meist zu seinen Gunsten aus. Die Verfolgungen hatten aber auch Grenzen, denn schließlich mussten die Novizen vielen Pflichten und Aufgaben nachkommen.

Faolán hatte das unsägliche Glück, dem Kellermeister zur Hand gehen zu dürfen. Bruder Ivo zählte zu den liebenswerteren Mönchen der Abtei, und Faolán mochte ihn sehr. Soweit er es zu beurteilen vermochte, beruhte dies auf Gegenseitigkeit. Da Faolán noch immer so gut wie kein Wort sprach, wurde er von vielen der Mönche und älteren Novizen als einfältig und zurückgeblieben angesehen. Nicht so von Bruder Ivo. Der Cellerar wusste ihn zu schätzen und behandelte ihn wie jeden anderen Novizen.

Die Verschwiegenheit des Jungen glich Bruder Ivo mit einer für Mönche ungewöhnlichen Redseligkeit aus, obwohl er damit gegen das Schweigegebot verstieß. Faolán mochte die sonore Stimme des Mannes. Sie beruhigte ihn, ähnlich wie das Lesen der Psalmen oder die Gesänge der Mönche. Nicht zuletzt aus diesem Grund fühlte er sich in der Gegenwart des Cellerars wohl.

Schweigen war im Kloster die meiste Zeit geboten. Nur während des Unterrichts oder wenn gefragt, durften die Novizen sprechen. Dieser Unterricht wurde täglich abgehalten. Die Jungen wurden von den Mönchen zwischen den Andachten in allen Bereichen des Wissens und des Glaubens unterwiesen. Dabei galt es hauptsächlich, den Worten der Älteren zu lauschen und von ihrer Weisheit zu lernen. Nur wenn ein Novize gefragt wurde, durfte er eine möglichst kluge und knappe Antwort geben. Es war verboten, die kostbare Zeit mit ahnungslosem Gestammel zu vergeuden oder mit Dummheit und Unwissen den Lehrenden zu beleidigen. Wer sich erlaubte, mit Scherzen die Aufmerksamkeit und das Gelächter der anderen auf sich zu ziehen, wurde unverzüglich und hart bestraft.

Auf diese Weise wurden die Novizen zu größerer Vorsicht im Umgang mit ihrem Mundwerk erzogen. Prior Walram predigte seinen Schülern immerzu, dass Gott nichts mit größerer Abscheu betrachte, als sinnlose Geschwätzigkeit. Sie wäre eine Vergeudung des Tages. Ein Diener des Herrn solle seine Zeit sinnvoll in Demut und Andacht verbringen. Faolán hatte mit dieser Klosterregel keinerlei Schwierigkeiten, stumm wie er die meiste Zeit war.

Doch gerade aus diesem Grund wurde für ihn der tägliche Unterricht eine schwere Prüfung, denn auch hier hüllte er sich in Schweigen. Er beantwortete nicht einmal die einfachsten Fragen. Obwohl ihm die Antworten meist korrekt auf der Zunge lagen, konnte er sie schlicht nicht aussprechen. Das förderte zusätzlich die Meinung, Faolán sei mit Dummheit geschlagen. Einige der Mönche hielten ihn bereits nach kürzester Zeit für einen hoffnungslosen Fall und ignorierten ihn in ihrem Unterricht.

Der Novize wusste nicht, weshalb er schwieg. Er hatte keinerlei Schwierigkeiten, die Tiefen der Arithmetik, der Sprachen und der Theologie zu begreifen. Und doch öffneten sich seine Lippen nicht, wenn man ihn darauf ansprach. Natürlich nutzte Drogo Faoláns Schweigen jedes Mal, um ihn als Beschränkten lauthals zu verspotten, auch wenn er selbst dafür bestraft wurde.

Das Schweigegebot hatte dazu geführt, dass die Mönche eine andere Form der Verständigung ausübten. Im Laufe vieler Dekaden hatten die Brüder eine ausgeklügelte Zeichensprache entwickelt, die es jedem erlaubte, tägliche Belange zu äußern, ohne auch nur ein Wort zu sprechen.

Auch Faolán erlernte die Zeichen und Gesten schnell, wandte diese Form der Mitteilung aber nicht an. Deshalb trauten die Mönche ihm auch nicht zu, sie auf diese Weise zu verstehen, und bedienten sich gerade deshalb in seiner Gegenwart unverhohlen dieser Art der Mitteilung. So entwickelte Faolán ein geschultes Auge für Hände, die aus den weiten Ärmeln der Habite kurz hervorschauten und ein „Gespräch“ begannen. Sofort suchte er das antwortende Händepaar und wurde auf diese Weise oftmals unbemerkter Zeuge einer stummen Unterredung, bei der er vieles über die Mönche und Novizen erfuhr: Eigenarten und Vorlieben, welche Verhältnisse und Kräfte im Kloster herrschten und dass es auch Rivalitäten gab.

Faolán fühlte sich nur in Gegenwart zweier Mönche wohl: Der eine war der Kellermeister und der andere Abt Degenar selbst. Und in die Nähe des Abtes gelangte der Novize öfter, als er zunächst geglaubt hatte. Das Klosteroberhaupt hatte es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, die Novizen einzeln in seine Räumlichkeiten zu beordern und Gespräche mit ihnen zu führen. Er glaubte, auf diesem Wege die Beschaffenheit ihrer Seelen und ihres Geistes ergründen, sie auf ihre Gläubigkeit prüfen und sie dadurch zu guten Mitgliedern der Gemeinschaft heranziehen zu können. Ein wichtiger Aspekt für Degenar, dessen Novizen zum Großteil einmal das Mönchsgelübde ablegen und weiter in seiner Abtei leben würden.

Viele der jüngeren Novizen hatten großen Respekt oder gar Angst vor diesen Gesprächen. Ältere Novizen nutzten diese Unsicherheit oft und schürten die Angst noch zusätzlich mit den schlimmsten Lügengeschichten darüber, was sich in den Gemächern des Abtes alles zutragen würde.

Faolán hingegen hatte man darüber niemals etwas erzählt. Er galt als zu beschränkt, als dass man sich mit ihm einen Spaß hätte machen können. ‚Wer nicht einmal unter Drogos Pein weint oder bei einem Scherz nicht lacht, dem kann man auch keine Furcht vor dem Abt einflößen, sagten sie sich und ließen Faolán in Ruhe.

Als er dann das erste Mal zum Abt gerufen wurde, begab er sich völlig unbedarft auf den Weg zum Klosteroberhaupt. Er war von diesem ersten Gespräch sehr angetan, denn es war wie ein interessanter Einzelunterricht. Faolán verstand nicht, weshalb die anderen Novizen ein solches Aufsehen um diese Gespräche machten, denn er genoss sie regelrecht.

Jedes Mal, wenn Abt Degenar nach ihm verlangt hatte, wurde Faolán nach einem zaghaften Klopfen an die Türe der Abtsgemächer sogleich hereingebeten. Respektvoll betrat er dann die schlichte Kammer, die Degenar als Schreib- und Lehrstube diente. Geduldig wartete er, angesprochen zu werden. Es kam öfter vor, dass er recht lange warten musste, denn der Abt war immer beschäftigt und blieb in seine Gedanken und Aufgaben vertieft, bis er sie abgeschlossen hatte.

Danach aber widmete sich der Abt ganz seinem Novizen, und es begann ein Gespräch über ein beliebiges Thema. Es war immer ein anderes, und niemals baute eine Lehrstunde auf einer vorherige auf. Das eine Mal sprachen sie über die Heilige Schrift, ein anderes Mal über Viehzucht und ein drittes Mal erkundigte sich der Abt einfach nur nach dem Wohlbefinden des Novizen. Nach jedem dieser Gespräche hatte Faolán das Gefühl, von Abt Degenar in Kürze mehr gelernt zu haben als von jedem anderen Mönch der Abtei. So konnte er es kaum erwarten, bis er wieder zu ihm gerufen wurde, denn all das neue Wissen sog Faolán durstig auf, wie trockene Erde einen Regenguss.

Drogo hingegen war das genaue Gegenteil von Faolán. Er war im Unterricht selten aufmerksam, brach oft das Schweigegebot und zeigte keinen Respekt gegenüber Älteren. Wenn er im Unterricht gefragt wurde, antwortete er entweder falsch oder gar nicht. In dieser Hinsicht war er keine Ausnahme. Die meisten Novizen hatten Schwierigkeiten, das Gelehrte zu behalten oder gar anzuwenden. Auch dabei erwies sich Drogo als eine Art Anführer, denn im Unwissen überbot er alle Novizen um ein gutes Maß. Allein das Lesen einer Bibelstelle war ein Graus für jedermanns Ohren und Geist, so stockend und falsch kam ihm das Griechisch oder Latein über die Lippen. Faolán konnte an Drogos ratloser Miene erkennen, dass der nichts von dem begriff, was er da las.

Die Leichtigkeit, mit der Faolán die Lehren verstand, entging auch Bruder Ivo und Abt Degenar nicht. Aus diesem Grund ernannten sie ihn schon nach kurzer Zeit offiziell zum Gehilfen des Cellerars. Zunächst bedeutete dies jede Menge neuer Pflichten, die alle ein hohes Maß an Konzentration von ihm abverlangten.

Faolán fühlte sich anfangs den neuen Anforderungen des Kellermeisters nicht gewachsen. Die Furcht, den Erwartungen des Mönches nicht gerecht zu werden, bereitete ihm sogar viele unruhige Nächte. Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten entwickelte er zunehmend Geschick für diese Aufgabe. Bruder Ivo war stets an seiner Seite und erklärte Abläufe mehrfach, wenn Faolán die komplexen Zusammenhänge nicht gleich begriffen hatte.

Nachdem er seine Begabung unter Beweis gestellt, und die Anerkennung des Cellerars hatte, wurde er immer selbstbewusster in seinem Amt. Bruder Ivo registrierte es zufrieden und weitete das Tätigkeitsfeld seines Gehilfen langsam aus. Somit befand Faolán sich viele Stunden am Tag in der Gegenwart des Kellermeisters. Obwohl das für ihn viel Arbeit bedeutete, bot es doch zugleich Sicherheit vor Drogo. Nun begann für Faolán eine Zeit der Ruhe, in der er aufatmen konnte, statt immer um sich schauen zu müssen, ob Drogo ihm auflauerte.

Einzig an den Markttagen war es anders. Faoláns Ansicht nach gab es derer viel zu viele. Das Kloster stellte zwar viele Dinge des täglichen Bedarfs selbst her und die umliegenden Bauern entrichteten regelmäßig ihre Abgaben, dennoch mussten einige Waren außerhalb erworben werden. Das eigentliche Problem an diesen Tagen war natürlich nicht der Markt selbst, sondern vielmehr die Abwesenheit des Cellerars. Sein Gehilfe durfte nicht mit ihm fahren, sondern blieb ohne den Schutz des Meisters im Kloster. An diesen Tagen fand Drogo verstärkt Gelegenheiten, Faolán abzupassen. Der konnte sich dann nicht mehr, wie Drogo es gehässig ausdrückte, unter dem Habit des dicken Mönches verstecken.

Die Markttage schienen für Faolán daher ungewöhnlich lang zu sein und in Drogos derbem Spiel war er weniger erfolgreich als an gewöhnlichen Tagen. Faolán musste ständig auf der Hut und seinen Häschern immer einen oder zwei Schritte voraus sein, um ihnen entgehen zu können.

Es war an einem dieser langen Markttage, als Faolán über das Klostergelände streifte. Die Mönche waren zu einer außerordentlichen Kapitelsitzung einberufen worden und es schien, als hätten sie die Novizen darüber völlig vergessen. Niemand war mit ihrer Beaufsichtigung oder Unterrichtung betraut worden. Niemand hatte ihnen Arbeit auferlegt, weshalb die meisten der Knaben müßig gingen. Da kein Mönch in der Nähe war, musste sich Faolán bis zur nächsten Andacht in Sicherheit bringen und für Drogo unauffindbar sein.

Trotz der unübersichtlichen Größe der Klosteranlage, kannte Faolán sich inzwischen sehr gut aus. Als Neuling lief man Gefahr, sich zu verirren. Er hatte sich allerdings schnell einen Überblick verschaffen können und sich den systematischen Aufbau des Klosters schon nach wenigen Wochen eingeprägt. Die Gebäudeanordnung war ihm klar wie ein gemaltes Bild aus der Sicht eines Vogels.

Das Kloster glich einer kleinen Stadt, die von einer mannshohen Mauer und abgrenzenden Gebäuden umgeben und nur durch ein Tor erreichbar war. Wie eine urbare Insel lag es mitten im dichten Wald. Die Mauer war in dieser Einsamkeit nicht nur ein Schutz gegen räuberische Übergriffe, sondern vor allem gegen die weltlichen Versuchungen außerhalb des heiligen Bezirks.

In der Mitte der Anlage erhob sich das größte Bauwerk, die Klosterkirche, die sogar die Baumwipfel des Waldes überragte. Zugang erhielt man vom Klosterhof durch die sogenannte große Himmelspforte, oder durch eine Seitentür, die vom Kreuzgang aus erreicht werden konnte. Dieser grenzte an die nördliche Fassade, war allerdings den Mönchen vorbehalten. Mit dem Hauptportal im Westen, erstreckte sich die dreischiffige Kirche nach Osten, wo der Altarraum und die Apsis lagen. Der Haupteingang der Kirche wurde von zwei hohen, im Grundriss quadratischen Türmen flankiert, die Erhabenheit und Macht ausstrahlten.

Die Himmelspforte wurde nur an Sonn- und Feiertagen genutzt, wenn zu besonderen Anlässen Prozessionen einen imposanten Einzug erforderlich machten. Sonst verwendete die Gemeinschaft die Tür vom Kreuzgang her. Mit seinen umlaufenden Arkaden und dem Brunnen in der Mitte des kleinen Gartens, war diese offene Halle ein Ort der Stille und der Besinnung.

Vom Kreuzgang aus erschlossen sich viele weitere Bereiche des Klosters, unter anderem das großzügige Refektorium, die Küche der Mönche und das Skriptorium mit der darüber liegenden Bibliothek. Zu der blieb Faolán der Zutritt noch verwehrt, denn die Bücher und alle Schreibmaterialien waren viel zu kostbar, als dass man sie in Kinderhände geben durfte. Es gab noch viele weitere Gebäude im Zentrum des Klosters: der Schlafsaal der Mönche, die Räumlichkeiten des Abtes, das Noviziat mit seinen Lehrräumen und einige Wirtschaftsgebäude.

Über Flure und verwinkelte Gassen zwischen den Bauten konnte man die restlichen Gebäude des Klosters erreichen, die zum Teil frei und fernab der Kirche standen. Lager und Tierställe befanden im Osten, in unmittelbarer Nähe der meisten Wirtschaftsgebäude. Selbst hier kannte Faolán einige Ecken und Löcher, wo er sich vor seinen Widersachern verstecken konnte. Der Gestank in den Ställen war zwar widerlich, doch dafür suchten Drogos Anhänger hier nicht so eifrig nach ihm.

An jenem Markttag lief Faolán am Mönchsfriedhof mit den Obstbäumen vorbei, weiter zu den Gemüsegärten, die sich im Nordosten befanden, in Richtung Kräutergarten, der direkt an das Hospital anschloss. Gedankenversunken folgte er den weniger frequentierten Wegen, um sich vor Drogo zu verstecken.

Ungesehen gelangte er auf einen kleinen Hügel hinter dem Hospital, wo er sich niederließ. Zufrieden schaute er in die herbstlich bunten Kronen der Laubbäume, die sich jenseits der Klostermauer sanft im Wind wiegten. Faolán war allein. Weit und breit war niemand zu sehen. Das Rauschen des Windes trug seine Gedanken davon und er vergaß seine Umgebung. Ohne dass er es bemerkte, nahm er einen dünnen Ast und begann damit Linien in den sandigen Erdboden zu ritzen.

Nach einer Weile registrierte er, was er tat und erblickte ein scheinbar wirres Bild aus unregelmäßigen Strichen. Faolán betrachtete es genauer und erkannte mit Freude ein Abbild der Klosterkirche im sandigen Boden. Erst vor kurzem hatte er seine Begabung für das Zeichnen entdeckt. Nachdem er die Illustratoren in der Schreibstube lange beobachtet hatte, begann er mit seinen ersten Versuchen. Da er weder Pergament noch Feder zur Hand hatte, waren seine ersten Bilder, wie auch jetzt, Zeichnungen im Sand gewesen. Schnell vergänglich und überall möglich. Erstaunt darüber, wie leicht es ihm selbst unbewusst von der Hand ging, wollte Faolán dieses Talent als sein Geheimnis hüten.

Weshalb er das wollte, wusste er nicht. Vielleicht wollte er die besondere Befriedigung, die er bei einem gelungenen Bild empfand, mit niemand teilen. Die Freude darüber war nur seine eigene. Er wollte sie sich von keinem Menschen nehmen lassen, der es womöglich kritisieren könnte.

Gerade als Faolán das Abbild mit ein paar schnellen Bewegungen verwischen wollte, traf ihn etwas mit Wucht an der Stirn. Schmerz durchfuhr seinen Schädel und Flüssigkeit rann ihm in die Augen. Sogleich wischte er die klebrige Nässe weg, um sehen zu können, wer dafür verantwortlich war. Doch das war nicht notwenig, denn unmittelbar nach dem Treffer folgte jenes unverwechselbare, gehässige Lachen, das Faolán wohl vertraut war und nur eines bedeutete: Drogo hatte ihn aufgespürt!

Leise verfluchte Faolán seine Nachlässigkeit und wischte sich die Reste des Geschosses aus dem Gesicht. Es war ein halb verfaulter Apfel, dessen süßer Saft ihm nun im Gesicht und an den Händen klebte. Faolán erhob sich, um sich dem zu stellen, was jetzt folgen würde. Angespannt blieb er an Ort und Stelle stehen, und beobachtete Drogo, der langsam den kleinen Hügel heraufkam. Ein schadenfrohes Grinsen zeigte sich auf dessen Gesicht und Drogos Hände spielten mit einem weiteren Apfel. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Faolán auch diesen zu spüren bekäme.

Oben angelangt, baute sich Drogo vor seinem Opfer auf, jederzeit bereit zuzuschlagen. Faolán versuchte die aufsteigende Angst zu unterdrücken. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was Drogo als nächstes tun würde. Weit und breit war kein Mönch oder älterer Novize zu sehen, der ihn hätte schützen können. Faolán war verloren!

Angsterfüllt suchte er nach einem Ausweg. Während er langsam zurückwich, erkannte er ein weiteres Unheil: Zwei von Drogos Handlangern! Sie warteten am Fuße des Hügels, versperrten den Abhang und verhinderten so jede Flucht. Nur wenige Schritte hinter Faolán befand sich die Klostermauer. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Wie in seinem Albtraum war er eingekesselt.

„Die kleine Ratte hat endlich mal eines ihrer Löcher verlassen! Oder hast du etwa geglaubt, ich hätte aufgehört, nach dir Ausschau zu halten? Du bist wohl etwas übermütig geworden, was? Oder warst du einfach nur gutgläubig und dumm, wie immer?“, höhnte Drogo.

Faolán ließ sich zu keiner Antwort hinreißen.

„Willst du mir nicht antworten oder hast du meine Fragen nicht verstanden? Dumm und stumm wie immer, nicht wahr?“

Drogo schaute den Hang hinab, zu seinen Mitläufern, um sich ihrer Zustimmung zu versichern. Wie auf ein vereinbartes Zeichen hin begannen sie kurz und laut aufzulachen. Es war ein einstudiertes Lachen, dem jede Heiterkeit fehlte und nur Drogo zufrieden stellen sollte. Selbstgefällig widmete der sich wieder seinem Opfer: „Du solltest inzwischen wissen, wen du vor dir hast. Wenn ich dich etwas frage, so hast du mir Rede und Antwort zu stehen! Andernfalls muss ich es als Missachtung der Obrigkeit deuten. Du hast zu tun, was ich dir befehle! Schließlich bin ich der Sohn des Grafen.“

„Bist du nicht!“, protestierte Faolán überraschend. Dem selbst ernannten Grafensohn stand der Mund offen. Ungläubig starrte er den schwächlichen Knaben vor sich an. Mit einer Widerrede hatte er nicht gerechnet.

„Was hast du da eben gesagt?“, fragte Drogo wütend, obwohl er und sein Gefolge nur zu gut verstanden hatten. Die beiden Getreuen waren ebenfalls überrascht und wussten nicht, was sie von Faoláns Ausspruch halten sollten.

Drogo berappelte sich schnell wieder. „Das nennt man Aufsässigkeit gegen den Dienstherrn. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Bestrafung!“

Faolán wich einen Schritt zurück, als Drogo auf ihn zukam und dabei mit seinem Fuß auf die Zeichnung im Sand trat. Er entdeckte sie erst jetzt. Schnell hob er sein Bein, als sei er in einen Haufen Dung getreten.

Verwundert beugte er sich nach vorne und starrte auf die Linien, die für ihn keinen Sinn zu ergeben schienen. Erst als er seinen Kopf drehte, erkannte er das Abbild der Klosterkirche. Für einen kurzen Augenblick gab sein Gesichtsausdruck Überraschung und auch Bewunderung preis, doch dann zeigte es wieder Hass und Hohn. „Ich wusste gar nicht, dass wir einen neuen Illustrator in unserer Abtei haben!“

Drogo stimmte ein sicheres Lachen an, als habe er soeben die humorvollste Bemerkung seit Anbeginn des Klosters von sich gegeben. Da seine Anhänger das Abbild im Sand jedoch nicht sehen konnten, wussten sie nicht, was Drogo meinte. Statt johlender Zustimmung erntete Drogo diesmal nur fragende Blicke. Sein eigenes Lachen erstarb daraufhin wieder. Schlagartig zogen sich seine Mundwinkel wütend nach unten.

„Ein Illustrator willst du also sein, ja? Ich muss dich enttäuschen. Daraus wird wohl nichts. Wer will schon einen kleinen, schwächlichen Aufsässigen in kostbare Bücher schmieren lassen? Nein. Dein Platz ist in den Rattenlöchern des Kellers und dort wirst du auch bleiben.“

Dann trat Drogo immer wieder nach der Zeichnung, als würde er den Urheber selbst treten. Sand stob nach allen Seiten, und bald befand sich statt des Abbilds nur noch ein Loch in der weichen Erde.

„Soviel zu deinen Träumen, kleine Ratte!“ Drogo spuckte verächtlich aus und schritt über das Loch hinweg auf Faolán zu. „Und jetzt wieder zu dir!“

Wütend ließ er den zweiten Apfel fallen, ballte seine Fäuste und holte zum Schlag aus. Faolán konnte nicht weiter zurück. Er stand bereits direkt vor der Mauer. Nur noch wenige Herzschläge und er würde die harten Fäuste in seiner Magengrube spüren. Er machte sich auf alles gefasst. Jeder einzelne seiner Muskeln spannte sich an. Seine Arme hatte er schützend vor Brustkorb und Gesicht erhoben, um wenigstens den ersten Schlag abfangen zu können.

Doch bevor Drogo seinen ersten Treffer landen konnte, vernahm Faolán einen merkwürdig dumpfen Laut und ein Stöhnen. Er traute seinen Augen nicht: Drogo lag vor ihm auf der Erde und wälzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Was war geschehen? Verwirrt blickte Faolán sich um, ob Drogo über eine Wurzel oder einen Stein gestolpert war, doch nichts war zu sehen. Hatte Gott ihn am Ende gar selbst niedergestreckt?

Drogo schüttelte benommen seinen Kopf. Er rieb sich die eine Seite, wo ihn etwas getroffen hatte. Faolán suchte danach, und da bemerkte er einen Apfel, der hüpfend den Hügel hinunterkullerte. Im Vergleich zu Drogos Geschoss war dieser größer und härter. Noch bevor Drogos Wachhunde begriffen, weshalb ihr Anführer zu Boden gegangen war, wurden auch sie zu Zielscheiben. In schneller Abfolge prasselten Äpfel auf sie nieder. Durch Drogos Sturz und die anhaltende Attacke verunsichert, zogen sich die beiden Novizen schnell zurück, statt ihrem Anführer zur Hilfe zu eilen. Feige suchten sie das Weite.

Verblüfft sah Faolán zu. Er konnte es kaum glauben, aber Drogo lag tatsächlich zu seinen Füßen und dessen Hörige wurden in die Flucht geschlagen. Ruriks Sohn war zum ersten Mal auf sich allein gestellt, und Faolán schien zum ersten Mal einen Verbündeten zu haben.

Als Drogos Hunde verschwunden waren, tauchte aus dem Buschwerk zwischen den Apfelbäumen ein unbekannter Novize auf. Der Größe nach zu urteilen, musste er etwa in Faoláns Alter sein. Es war nicht zu erkennen, wer dieser Novize war, denn er trug die Kapuze seiner Kukulle tief ins Gesicht gezogen. Mit festen Schritten erklomm er den Hügel. In einer Hand trug er einen Stab, den er wie einen Wanderstab nutzte. Wäre er nicht ein Knabe gewesen, so hätte man glauben können, ein Pilger käme daher. Der Unbekannte erreichte die Kuppe und blieb dort selbstbewusst stehen, als gehöre ihm dieser Flecken Erde.

Inzwischen war Drogo wieder Herr seiner Sinne und hatte sich erhoben. Es irritierte ihn sichtlich, so einen selbstsicheren Novizen vor sich zu haben. Ihm wurde klar, dass er erst diesem unbekannten Aufsässigen eine Lehre erteilen musste, bevor er sich um Faolán kümmern konnte. Seine Stirn legte sich zornig in Falten und sein ganzer Körper spannte sich an. Er sah aus, als wolle er seine ganze Kraft an diesem Novizen auslassen. Seine Hände ballten sich langsam und sein Atem ging schnell und stoßweise.

Doch das beeindruckte den Fremden nicht im Geringsten. Er hielt sein verhülltes Haupt gesenkt, als wolle er seine Identität nicht preisgeben. Er stützte sich gelangweilt auf seinen Stab, was Drogo als eine Provokation empfand.

„Was glaubst du eigentlich, wer du …“, schrie er los. Weiter kam er nicht. Eine blitzschnelle Bewegung des Fremden hinderte Drogo, seine Frage zu beenden. Mit flinker Hand schwang der unbekannte Novize seinen Stab so schnell, dass Faolán ihm kaum folgen konnte. Überraschung stand auch Drogo ins Gesicht geschrieben, als ihn der erste Hieb in die Magengrube traf und er nach vorne zusammensackte. Der zweite landete auf seinem Rücken. Leise stöhnend krümmte sich Drogo im Sand.

Sein Bezwinger beugte sich zu dem nach Atem ringenden Novizen hinunter und sprach mit leisen, eindringlichen Worten: „Glauben sollten wir in erster Linie an den Herrn! Und ich weiß ganz genau, wer ich bin. Außerdem weiß ich auch, wer du bist, Drogo, Ruriks Sohn. Spare dir also deine überflüssigen Worte über Herkunft, Stand oder angeblichen Einfluss. Es hat keinerlei Bedeutung in diesem Kloster, denn hier bist auch du nur ein kleiner Novize. Wichtiger für dich ist zu wissen, dass ich zwei gute Augen besitze. Eines davon wird in Zukunft auf dich und das andere auf den Novizen gerichtet sein, dem du dich gerade widmen wolltest. Solltest du dich wieder einmal in seiner Nähe befinden, so erinnere dich an das, was dir eben widerfahren ist!“

Mit einer Handbewegung schlug der fremde Novize seine Kapuze zurück und entblößte sein Haupt mit kurzem blonden Haar und einem hageren Gesicht. „Überlege dir also in Zukunft genau, wem du Schläge verabreichen willst. Sollte es dieser Novize hier sein, so rechne stets mit mir! Hast du mich verstanden?“

Immer noch damit beschäftigt, wieder zu Atem zu kommen, gab Drogo keine Antwort. Der fremde Novize gab sich damit nicht zufrieden. Das Stabende drückte auf Drogos Schultern, dass der noch einmal ganz zu Boden gepresst wurde. Der Atem entfuhr ihm und blies Staub und Dreck in seine Augen. Verzweifelt wand sich Drogo unter dem Holz, um sich zu befreien, doch sein Bezwinger war stärker.

„Ob du mich verstanden hast?“, wiederholte der Fremde seine Frage.

Faolán sah Tränen in Drogos Augen, doch er wusste nicht ob sie vom Schmerz, vom Staub oder seiner Wut herrührten. Als der Druck des Stabes noch einmal stärker wurde, war von Drogo ein zaghaftes „Ja“ zu vernehmen. Dabei bekam er auch noch Dreck in den Mund. Um ihn auszuspucken, versuchte er sich etwas vom Boden zu stemmen. Damit war der fremde Novize allerdings nicht einverstanden und drückte ihn wieder nach unten.

„Kannst du nicht etwas lauter sprechen, damit wir dich alle verstehen?“

„Ja“, rief Drogo schließlich wütend die gewünschte Antwort.

„Schön, dann wäre alles geklärt. Du darfst jetzt gehen.“

Drogo wurde freigegeben. Er kniete sich mühselig hin, schnappte nach Luft und rieb sich die Augen. Danach spuckte er den Dreck aus seinem Mund. Er wollte dabei die Füße seines Peinigers treffen, was dieser jedoch mit einem flinken Schritt zur Seite zu verhindern wusste. Sofort brachte der Fremde seinen Stab vor Drogos Gesicht. Das reichte aus um klar zu machen, dass er solche Versuche in Zukunft unterlassen sollte.

Zorn wallte in Drogo auf. In diesem Zustand war der bullige Novize am gefährlichsten und Faoláns innere Stimme ermahnte ihn, endlich davonzulaufen. Doch er blieb. Im Augenblick war Drogo der Unterlegene. Trotzdem ließ der sich nicht davon abhalten, dem Fremden provokant ins Gesicht zu starren, als wolle er ihn zu einer Revanche herausfordern.

Der blonde Junge war nach wie vor unbeeindruckt. „Ich sagte, du darfst jetzt gehen. Muss man dir alles zweimal sagen, bevor du es begreifst? Oder bist du nur zu schwach, um selbst zu gehen? Warte, ich werde dir behilflich sein …“

Unerwartet sanft fuhr der Stab unter eine von Drogos Achselhöhlen und half ihm, sich aufzurichten. Der kräftige Novize sah dabei aus wie eine hilflose Puppe. Als er aufrecht dastand, vollzog der Stab eine kleine Drehung und versetzte ihm einen leichten Stoß. Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Mit rudernden Armen versuchte er sich auf den Beinen zu halten, als er den Hügel hinab stolperte.

Von der Kuppe aus schauten die beiden Novizen zu, wie der sonst so aufrechte und selbstbewusste Drogo nur mit Mühe einen Sturz verhindern konnte. Es war ein komischer Anblick und Faolán konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Unten angekommen wischte sich Drogo erst den Staub von Gesicht und Habit, dann richtete er seinen zornigen Blick nach oben. Aus sicherer Entfernung wagte er noch eine Drohung:

„Das werdet ihr noch bereuen! Dafür werde ich euch beide bluten lassen. Das verspreche ich euch!“

Der Fremde rief selbstbewusst seine Antwort. „Gut! Ich werde freudig auf diesen Tag warten. Doch versprich nichts, was du nicht einhalten kannst. Sei ab heute besser auf der Hut, denn wir werden uns in Zukunft öfter begegnen.“

Drogo wagte keine weitere Bemerkung mehr. Er kehrte den beiden Novizen auf dem Hügel den Rücken und zog mit erhobenem Haupt und beschmutztem Habit in gleicher Richtung davon wie schon seine, heute etwas weniger treuen, Hunde zuvor.

Als er nicht mehr zu sehen war, drehte sich der fremde Novize mit einem zufriedenen Grinsen Faolán zu.

„Das ging ja leichter als ich gedacht hatte. Ich bin Konrad und seit heute Novize dieser Abtei.“

Faolán fragte sich, warum einem neuen Novizen erlaubt wurde, frei über das Gelände zu streifen und sogar einen Stab zu tragen, der ihm als Waffe diente. Aber er war froh um diesen Umstand und freudig sah er Konrad in die Augen.

„Ich danke dir für deine Hilfe. Man nennt mich Faolán.“

Konrads Lächeln wurde noch breiter. „Ich hasse Großmäuler wie Drogo. Allein sind sie feige und harmlos. Deshalb schicken sie andere vor, die sich die Hände schmutzig machen. Wahrscheinlich muss er jetzt erst einmal seine Brueche waschen, so wie er davongezogen ist.“

„Da könntest du Recht haben! Wahrscheinlich war sie randvoll!“

Die beiden schauten sich an und brachen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Faolán spürte, wie seine Anspannung wich. Und er bemerkte noch etwas: Zum ersten Mal konnte er sich eine Freundschaft zu einem anderen Novizen vorstellen.

* * *

Die ersten Blätter fielen von den Bäumen und schwebten auf den Waldboden nieder. Ab und an wirbelte ein Luftzug sie wieder auf, und Svea versuchte, sie fröhlich lachend einzufangen. Sie liebte es, allein durch den Wald zu streifen. Ihr Vater hatte ihr diesen Sommer endlich erlaubt, das Dorf ohne ihre Brüder zu verlassen. Natürlich nicht zu ihrem Vergnügen, sondern um die beiden Schweine durch den Wald zu treiben. Jetzt, da die Eicheln zuhauf auf der Erde lagen, war es die einfachste Art, die Tiere zu mästen.

Sveas Vater, Ulf, war ein armer Bauer, der selten ausreichend zu essen für seine Kinder im Haus hatte. Stets klagte er über die hohen Abgaben an den Grafen aber auch über die fahrenden Händler auf dem Markt, die ihm mit ihren Preisen den Handel verpatzten. Wenn er im Sommer und Herbst seine Geschäfte abwickelte und seine überschüssigen Erträge getauscht oder verkauft hatte, sahen seine Kinder nicht viel vom Erlös. Weder gab es dann mehr zu essen, noch Schuhwerk oder Kleidung.

Svea bezweifelte allerdings, dass ihr Vater bei seinen Geschäften schlecht davonkam. Sie hatte schon einmal heimlich beobachtet, dass Ulf ein paar Münzen in einem Säckchen bei sich trug, sorgfältig in ein Tuch gewickelt, damit sie beim Gehen nicht klimperten. Svea wusste nicht, was er damit vorhatte. Sie vermutete aber, dass er sie für diese Gertha benötigte, die er umwarb. Wenn auch nicht reich, so war er doch immerhin ein freier Bauer, der sich mit Fug und Recht nach dem Tode seiner Gemahlin ein zweites Eheweib nehmen durfte. Gertha schien auf seine Bemühungen anzusprechen. Das war der Grund, weshalb sie und Ulf seit dem letzten Pfingstfest immer wieder miteinander gesehen worden waren.

Gertha war, wenn auch keine hübsche, zumindest eine junge Frau und Ulf schien sie sehr zu begehren. Svea mochte sie nicht, denn in ihr sah sie einen der Gründe, weshalb sie meist hungrig zu Bett gehen musste. Würde ihr Vater sich mehr um seine Kinder kümmern statt um diese Frau, die ihm noch weitere gebären würde, so könnte es ihnen allen besser gehen. Zumindest glaubte Svea das.

Seit Georg den kleinen Hof verlassen hatte, um mit Elisabeth seine eigene Familie zu gründen, hatte sich viel geändert. Eigentlich hegte Svea keinen Groll gegen das Weib ihres Bruders. Doch allein die Tatsache, dass sie ihr Georg weggenommen hatte, war Grund genug sie nicht zu mögen. Obwohl Elisabeth immer freundlich zu ihr war, besuchte Svea ihren Bruder nur, wenn sie nicht anwesend war. Nur dann, so glaubte sie, würde Georg sich ihr voll und ganz widmen, so wie er es früher immer getan hatte.

Georg war es auch, der Svea am häufigsten von ihrer Mutter erzählte. An Freya konnte sie sich natürlich nicht erinnern. Aber Georg hatte schon oft von ihrer Geburt berichtet: wie schwer sie war und dass ihre Mutter kurz darauf gestorben war. Sie hatten für Svea im Dorf eine Amme gefunden, und eine wilde Frau aus den Wäldern war oft bei ihnen gewesen. Diese Wilde kümmerte sich um Svea, bis in ihren zweiten Sommer hinein. Das Mädchen hatte allerdings keine Erinnerungen mehr an diese Frau, deren Name auszusprechen Ulf verboten hatte.

In Sveas Erinnerung waren es vor allem ihre drei Brüder, Georg, Thorben und Brun, die sie umsorgt hatten. Weil die beiden älteren sich mehr um den Hof und die Felder kümmern mussten, hatte Brun oft mit ihr gespielt, sobald es seine Pflichten auf dem Hof erlaubten.

Georg hatte sie eher wie eine Tochter behandelt. Wenn Svea ihn jetzt in seinem kleinen Häuschen besuchte und ihn mit seinen eigenen Kindern sah, dachte sie oft an die Zeit, als sie noch auf seinem Schoß sitzen durfte. Manchmal nahm er sie auch heute noch auf den Arm und warf sie in die Luft, obwohl sie inzwischen bereits sieben Jahre zählte. Für solche Albereien seien kein Platz mehr, schimpfte ihr Vater stets, wenn er es sah. Das hielt Georg aber nicht davon ab, es dennoch zu tun und bevor er Svea nach Hause schickte, steckte er ihr meist noch einen Kanten Brot zu, den sie heimlich aufaß, bevor Ulf es ihr wegnehmen konnte.

Ihr Vater gönnte ihr nichts. Zwar gab er Svea zu essen, doch nie soviel, dass es sie sättigte. Sie arbeite nicht hart genug auf dem Hof, meinte er immer, da bräuchte sie auch nicht so viel zu essen wie seine Söhne. Die wurden zwar auch nicht satt, bekamen aber hin und wieder ein Lob, wenn sie ihre Arbeit nach Ulfs Vorstellungen verrichteten.

Immer wieder fragte sich Svea, weshalb ihr Vater sie mit Missachtung strafte. Eines Tages kam sie zu dem Schluss, dass er sie für den Tod seines Weibes verantwortlich machte. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, doch an der Art und Weise, wie er Svea manchmal anschaute, spürte sie, was er über sie dachte: Sie war eine Last auf dem Hof. Ein weiteres Maul zu stopfen, das bei der Arbeit nicht helfen konnte. Sein Weib hatte wenigstens noch bei der Feldarbeit mit angepackt, doch Svea war nicht einmal in der Lage gewesen, die Schweine in den Wald zu treiben. Ihre Beine seien zu kurz und zu langsam, neckte Brun sie immer.

Bisher! Denn seit diesem Sommer hatte sich Ulf auf Georgs Anraten dazu durchgerungen, Svea endlich die beiden Schweine anzuvertrauen. Wenn auch widerwillig. Unter Androhung von Hieben, sollte sie die Schweine im Wald verlieren, überließ er ihr schließlich die Rute. Brun, der das Privileg der Mast bisher innehatte, brachte ihr dann alles bei, was man als Schweinehirt wissen musste. Svea begriff schnell und so fühlte sie sich schon nach kurzer Zeit in der Lage, die beiden Tiere allein in den Wald zu treiben.

Inzwischen war sie mit dieser Aufgabe so vertraut, dass sie keine Angst mehr hatte, die Sauen könnten ihr durchgehen. Sie hatte die Schweine nämlich gehorsam gemacht: mit Leckerbissen. Die hielt sie in ihrem eingeschlagenen Ärmelsaum bereit, um die Tiere bei sich zu halten. Mit der Zeit wussten sie genau, dass sie von ihrer Hirtin immer eine kleine Abwechslung zu den Eicheln erwarten konnten.

Svea liebte es, den Wald zu erkunden. Seit sie das Borstenvieh beaufsichtigen durfte, hatte sie dazu viel Zeit. Immer wieder entdeckte sie Neues: merkwürdige Felsen, Lichtungen mit schönen Blumen oder verborgene Bachläufe. Einmal hatte sie einen kleinen Weiher entdeckt, der direkt bei einer Quelle mitten im Wald lag. Niemand schien ihn zu kennen, denn sooft sie ihn auch aufsuchte, nie war ihr dort eine Menschenseele begegnet.

Heute streifte Svea wieder durch einen unbekannten Teil des Waldes. Hier gab es mächtige, alte Eichen, und die Schweine mussten nicht lange suchen, um sich sattfressen zu können. Während sie mit ihren Schnauzen den Waldboden durchwühlten, hielt Svea ihren Blick in die Baumkronen gerichtet. Unterholz war kaum vorhanden und die Strahlen der Sonne drangen spielerisch durch das Blattwerk.

In Gedanken versunken, folgte sie den Schweinen, bis sie plötzlich auf ein Dickicht stieß. Es war wie eine Barriere und Svea wunderte sich über das abrupte Auftauchen im sonst so lichten Wald. Sie wollte es umgehen, doch das Strauchwerk wollte nicht enden. Es schien, als umschließe es einen Ort.

Svea wurde neugierig. Sie forschte genauer und fand an einer Stelle schließlich den Anfang eines schmalen Pfades, der sich wie eine Passage durch die hohen Büsche und an den jungen Bäumen des Dickichts vorbei wand. Aufgeregt trieb sie die Schweine dorthin, um das Geheimnis des Dickichts zu erkunden. Ihr Herz pochte schnell. Sie wusste nicht, was sie jenseits erwartete, und hoffte, die Tiere würden sie mit ihrem Quicken vor einer unangenehmen Überraschung warnen.

Es dauerte nicht lange und Svea trat aus dem Gestrüpp. Grelles Sonnenlicht blendete sie. Blinzelnd schaute sie sich kurz um. Sie befand sich am Rande einer Lichtung, auf der sie eine kleine, windschiefe Hütte neben zwei alten Eibenbäumen erblickte. Svea wagte sich zaghaft ein paar Schritte weiter. Neben dem kleinen Häuschen befand sich ein Kräutergarten, der gut gepflegt aussah. Sofort war ihr klar, dass hier jemand lebte. Sie fragte sich, ob der Bewohner im Augenblick in der Hütte wäre. Aber niemand war zu sehen oder zu hören. Vorsichtig ging Svea weiter. An einer Stelle der Lichtung entdeckte sie ein paar mächtige, schwarze Felsblöcke, die merkwürdig aussahen. Ihrem ersten Impuls, zu ihnen zu gehen, gab sie jedoch nicht nach. Ein Instinkt warnte sie davor, und sie hielt sich von ihnen fern.

Gerade als sie wieder nach ihren Schweinen schauen wollte, um sie von dem gepflegten Garten fernzuhalten, öffnete sich die Tür der Hütte. Svea erstarrte. Wer auch immer aus dem Haus treten mochte, sie war bereit, mit einem Spurt durch das Dickicht zu fliehen, auch wenn sie dafür die Schweine zurücklassen musste.

Als Svea eine alte Frau aus der Hütte treten sah, verwarf sie diesen Gedanken jedoch wieder. Die Alte lächelte, als sie Svea erblickte. Sie kam auf das Mädchen zu und sprach es mit freundlicher Stimme an:

„Willkommen auf meiner Lichtung. Wer bist du?“

„Svea“, antwortete das Mädchen schüchtern.

„Ich bin Alveradis. Was führt dich zu mir, Svea?“

„Ich … ähm, die Schweine … also, sie sind … ähm … sie sind mir durchgegangen, ja, und ich … ähm … ich wollte sie wieder einfangen. Wenn ich sie nicht nach Hause bringe, bekomme ich nämlich Schläge. Ich bin ihnen nachgelaufen und … sie haben mich auf diese Lichtung geführt.“

Die Frau lächelte nun auf eine Art, als könne sie hinter die Worte des Mädchens blicken. Svea wurde unsicher. Die Augen der Alten schienen sie zu durchdringen. Aber ihre Worte beruhigten sie.

„Ich freue mich, dass du zu mir gefunden hast. Willst du mir beim Ernten meiner Kräuter helfen?“

Svea blickte verdutzt zu dem Garten. „Darf ich denn?“, fragte sie ungläubig. Ihr Vater hatte ihr noch nie viel Geschick bei irgendeiner Tätigkeit zugetraut.

„Weshalb nicht? Je früher du damit beginnst, umso leichter wird es dir später von der Hand gehen. Komm’, ich zeige es dir.“

Noch immer etwas skeptisch folgte Svea der alten Frau in den kleinen Kräutergarten. Nachdem sie zunächst nur Alveradis’ Erklärung gelauscht hatte, fand sie Vertauen zu der Alten und begann schon bald selbst in den Beeten zu arbeiten. Sie schnitt die Pflanzen, wie sie es gezeigt bekam, und legte sie in einen Korb. Die vielen Kräuternamen konnte sie allerdings nicht behalten, doch das war ihr auch nicht so wichtig. Sie genoss vielmehr das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wurde, und vergaß darüber ganz ihre Schweine, wie auch die Zeit.

Als die Schatten lang geworden waren, schrak sie auf.

„Oje, es ist schon spät. Ich muss nach Hause. Wahrscheinlich bekomme ich Schläge von meinem Vater.“

„Keine Sorge, ich werde dir etwas mitgeben, das Ulf für deine Verspätung entschädigen wird.“

„Du kennst meinen Vater?“

„Nicht nur ihn. Ich kenne auch deine Brüder. Und ich kannte deine Mutter.“

Plötzlich ahnte Svea, wem sie die ganze Zeit geholfen hatte. Unsicher, ob sie darüber tatsächlich Gewissheit haben wollte, versuchte sie die Frage zu stellen: „Bist … bist du etwa … diese Frau, die …?“

„Wenn du wissen willst, ob ich bei deiner Geburt geholfen habe: Ja, das habe ich. Ich bin eine Heilerin, und manche bezeichnen mich auch als weise Frau.“

„Eine Heilerin …“, staunte Svea mit offenem Mund und betrachtete die Frau mit neuen Augen von Kopf bis Fuß. „Aber wenn du eine Heilerin bist, weshalb …?“

Sie wagte diese Frage nicht zu Ende zu stellen. Doch Alveradis wusste, was Svea wissen wollte. „Meine Kräuterkunde hat zwar schon so manchen Kranken wieder auf die Beine geholfen, bei deiner Mutter war ich jedoch machtlos. Sie war zu schwach und die Blutungen waren zu stark. Deine Mutter konnte ihren letzten Kampf nicht gewinnen.“

„Dann ist es also wahr?“, fragte Svea betrübt.

„Was soll wahr sein?“

„Dass ich am Tode meiner Mutter schuld bin?“

„Wer hat dir denn das erzählt?“

Svea antwortete nicht, sondern starrte nur traurig auf den Erdboden. Alveradis ahnte, an wen Svea dachte und wurde zornig. „Dieser Ochsenkopf von einem Mann! Wenn ich Ulf das nächste Mal sehe, werde ich ihm verbieten, dir solche Lügen zu erzählen.“

Nachdem sie ihrem Unmut Luft gemacht hatte, kniete sich die Heilerin vor Svea nieder, strich ihr zärtlich über die Wange und tröstete sie: „Svea, mein Kind, du trägst am Tod deiner Mutter keine Schuld. Niemand trägt hierfür die Schuld. Es ist geschehen. Niemand konnte es verhindern. Trage nicht solch schwere Gedanken in dir. Hör mich an: Du solltest wissen, dass dich deine Mutter immer geliebt hat.“

„Aber sie hat mich doch gar nicht gekannt. Sie ist doch gleich nach meiner Geburt gestorben.“

„Das stimmt. Aber vorher hat sie dich lange Zeit unter ihrem Herzen getragen. Näher kann man seiner Mutter nicht sein. Nach ihren vielen Söhnen hatte sie sich endlich eine Tochter herbeigesehnt. Und sie war überglücklich, dich nach der Geburt im Arm halten zu können.“

„Sie hat mich im Arm gehalten?“

„Natürlich!“, stellte Alveradis überrascht fest. Dann begriff sie. „Vielleicht hätten dir deine Brüder genauer erzählen sollen, wie es sich damals zugetragen hat. Georg weiß alles. Er hat bei deiner Geburt geholfen.“

„Das weiß ich, und er hat mir davon auch schon viele Male berichtet. Doch dass mich Mutter im Arm gehalten hatte, das hat er niemals erwähnt …“

Sveas Stimme versagte, und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Alveradis nahm das Kind liebevoll in ihre Arme. „Sei ihm nicht böse. Georg hat ein gutes Herz und er hat viel für dich getan. Freue dich lieber darüber, dass dich deine Mutter sehen und in ihren Armen halten durfte, bevor sie gehen musste.“

Svea nickte schluchzend und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Schließlich schaute sie Alveradis an.

„Georg hat mir auch von dir erzählt. Vater hatte ihm zwar verboten, mir deinen Namen zu nennen, aber nicht, über dich zu berichten. Ich weiß, dass du oft bei uns warst, als ich noch ein Brustkind war. Du hast dich um mich gekümmert. Weshalb bist du dann eines Tages nicht mehr gekommen?“

„Ulf hat mir den Zutritt verweigert. Ich sollte mich nicht mehr um dich kümmern. Mir blieb nichts anderes übrig, als sein Verbot zu respektieren. Aber ich hielt Ausschau nach dir, wann immer ich im Dorf war.“

„Warum hat Vater dir verboten, nach mir zu sehen?“

„Wahrscheinlich aus Angst, ich könnte zu großen Einfluss auf dich ausüben. Dass du am Ende nicht nach deiner Mutter, sondern nach mir gerätst.“

„Das verstehe ich nicht. Mein Vater kennt keine Furcht … alle fürchten sich vor ihm!“

„Oh doch, mein Kind. Er fürchtet sich vor mir. Vor mir und meiner Gabe. Und er fürchtet Frauen, die einen eigenen Verstand haben und sagen, was sie denken.“

„Schlägt er mich deshalb, wenn ich sage, was ich denke?“

„Genau. Das macht er nur aus Furcht.“

„Vor mir?“

„Davor, was du bist und was aus dir werden könnte. Er fürchtet, dass du bereits verdorben bist, weil ich dich als kleines Kind so oft in Händen gehalten habe. Er fürchtet, dass ich dir mein Wissen weitergeben könnte.“

„Welches Wissen ist so Furcht erregend, dass er mich dafür schlägt?“

Alveradis schmunzelte. „Dieses Wissen hängt mit einer ganz besonderen Gabe zusammen. Das jetzt genau zu erklären, wäre noch zu früh. Doch was das Wissen angeht, so ist das eine andere Sache. Wenn du willst, kann ich dir vieles beibringen.“

Svea war erstaunt. Bisher hatte ihr noch niemand angeboten, ihr etwas beizubringen, geschweige denn sein Wissen mit ihr zu teilen. Dankbar nickte sie.

„Also gut“, fuhr Alveradis zufrieden fort, „dann wollen wir gleich mit den Kräutern beginnen.“

Die Heilerin nahm die geernteten Pflanzen und band sie zu Sträußen zusammen. Diese hängte sie unter das Dach der windschiefen Hütte. Erst nach dem Trocknen würde sie die Kräuter weiter verwenden, erklärte sie. Svea sog wissbegierig alle Worte der Frau auf. Sie konnte nicht genug erfahren und half ihr fleißig weiter, obwohl es schon spät war. Als sie schließlich den Rückweg antrat, drückte Alveradis ihr noch ein Säckchen für ihren Vater in die Hand. Der Inhalt würde Ulfs Wut dämpfen. Allerdings musste Svea versprechen, die Herkunft des Säckchens geheim zu halten. Svea dankte ihr, verabschiedete sich und trieb die Schweine vor sich her.

Später, als sie mit den Sauen durch den Wald zum Dorf lief, dachte sie über ihre wunderbare Begegnung mit Alveradis nach. Sie dachte an die Lichtung, an die Heilerin und an das Arbeiten mit den Kräutern. All das hatte ihr sehr viel Freude bereitet. Es gab in ihrem Leben bisher nur wenige glückliche Momente, an die sie sich erinnern konnte. Doch heute war sie glücklich. Und daher beschloss sie, die Heilerin öfter aufzusuchen. Sie wollte mehr von ihr lernen. Und sie wollte auch erfahren, was es mit dieser angedeuteten Gabe auf sich hatte, vor der Ulf sich so fürchtete.

Ja! Svea war sich sicher. Schon bald würde sie zur Lichtung und zu Alveradis zurückkehren.

Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle

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