Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach - Страница 14
ОглавлениеAnno 957 – Sveas Entscheidung
Mit ein paar leichten Hieben ihrer Weidenrute trieb Svea die Schweine vor sich her. Die Sonne stand bereits tief am Himmel, und sollte sie nicht bald zu Hause eintreffen, drohten Schläge von ihrem Vater. Sie konnte die Dächer Neustatts bereits in der Ferne erkennen und war froh, dass sie noch rechtzeitig das Tor im Palisadenwall passieren würde, bevor man es die Nacht über schloss.
Der Sommer war bisher angenehm warm gewesen. Weder Regen noch kalte Winde bewegten Svea dazu, früher als notwendig zum schäbigen Hof ihres Vaters zurückzukehren. Viel lieber verweilte sie, solange es hell war, im Wald oder auf der Lichtung mit der windschiefen Hütte, wo Alveradis lebte. Bei ihr durfte Svea so lange bleiben, wie es ihr beliebte, und bei der Pflege des Gartens helfen. Ebenso unterstützte sie die Alte bei der Verarbeitung der Kräuter zu Heiltränken oder Pasten. Alveradis erklärte ihr jeden Handgriff: Weshalb er notwendig war, welche Wirkung die Kräuter besaßen und welche alten Geschichten sich dahinter verbargen.
Das Mädchen sog all das Wissen in sich auf und fühlte sich geehrt, dass Alveradis es ihr anvertraute. Für Svea war die Unterweisung bei der Kräuterfrau etwas Besonderes, denn ihr Vater hatte ihr noch nie etwas beigebracht oder erklärt. Svea durfte auf Ulfs Hof nur die einfachsten Arbeiten verrichten und meist hatte sie damit zu tun, den Dreck der anderen zu beseitigen; auch den des Viehs.
Ihrem Vater hatte sie die unregelmäßigen Besuche bei Alveradis bisher verschwiegen. Ulf war nicht gut auf diese wilde Frau, wie er sie nannte, zu sprechen, und so glaubte Svea, es sei besser, diesen Umstand weiter zu verheimlichen. Um keinen Verdacht oder Fragen zu ihrem Verbleib aufkommen zu lassen, hielt sie die Besuche auf der Lichtung in der Regel möglichst kurz. Heute allerdings hatte sie vergessen, den Stand der Sonne im Auge zu behalten, so vertieft war sie in ihre Aufgaben gewesen.
Rechtzeitig heimgekehrt trieb Svea die Schweine in den Pferch und verriegelte das Gatter. Sie war außer Atem und wischte sich den verräterischen Schweiß von der Stirn. Als wolle sie sich selbst kontrollieren, fuhr sie sich durch das kurz geschorene, wild und zerrupft aussehende Haar. Sie zerwühlte es ein bisschen, wie sie es sich in diesem Frühjahr angewöhnt hatte, um es wie Brun zu tragen. Svea hatte sich bewusst für das kurze Haar wie es die Knaben trugen entschieden, denn ihr Vater mochte keine Mädchen. Sie glaubte, dass seine Abneigung gegen sie darin begründet war, dass sie kein Junge war, und versuchte alles, um wenigstens auf diese Weise etwas Liebe von ihm zu erhalten. Svea wusste zwar nicht, ob es jemals zum erwünschten Erfolg führen würde, doch einen Versuch war es wert.
Thorben unterstützte sie bei diesem Vorhaben, denn er mochte seine Schwester. Manchmal nahm er sie abends sogar mit aus dem väterlichen Haus und versuchte ihr beizubringen, wie Jungen gingen, wie sie lachten, ausspuckten oder wie sie derb miteinander sprachen. Svea gefiel das Wenigste von alldem, doch sie versuchte bereitwillig das umzusetzen, was Thorben ihr geduldig beizubringen versuchte.
Heute Abend allerdings würde er dazu keine Zeit mehr haben. Als Svea wieder einigermaßen ruhig atmete, lief sie in das Haus. Darin war es selbst bei helllichtem Tage ziemlich düster und es roch muffig nach Qualm und Schweiß. Ein wenig Licht fiel durch den Rauchabzug im First des Daches. Außer der Tür gab es lediglich noch kleine Öffnungen an den Spitzen der Giebelwände und so blieb diese meist offen stehen, um die Hitze des Feuers und die dicke, stehende Luft aus dem Haus zu treiben. Ernüchtert stellte Svea fest, dass es überflüssig gewesen war, sich den Schweiß abzuwischen, denn er trat ihr gleich wieder auf die Stirn, kaum hatte sie das Haus betreten.
An der Feuerstelle stand Ulfs neue Gemahlin, Gertha, die gerade die Glut des niedergebrannten Feuers abdeckte. Danach trug sie den Kochkessel, in dem die allabendliche Mahlzeit zubereitet wurde, zum Tisch und schöpfte Brei in eine Schüssel. Ulf hatte sie im Frühjahr geehelicht, und der Grund dafür war an ihrem runden Bauch deutlich zu sehen.
Thorben und Brun hatten anfangs gehofft, dass sich mit einer Frau im Haus ihre Lage verbessern würde, da sich einer von ihnen bisher immer um die lästigen Arbeiten im Haus und um die Feuerstelle hatte kümmern müssen, wurden jedoch enttäuscht. Gertha war ein garstiges Weib und hörte einzig auf Ulfs Anweisungen. Wenn der Hausherr nicht zugegen war, erhob sie sogar die Hand gegen die beiden Jungen, gegen Svea ohnehin. Mehrfach hatte Thorben seinem Vater zu erklären versucht, dass es so nicht weitergehen könne, doch Gertha vollbrachte es immer wieder, Ulf mit Engelszungen davon zu überzeugen, dass Thorben im Unrecht und sie die Gepeinigte sei.
Auf Svea war sie von Anfang an schlecht zu sprechen gewesen. Nichts konnte das Mädchen ihr im Haus oder auf dem Hof recht machen. Selbst wenn Svea glaubte, ihre Arbeit gut gemacht zu haben, bekam sie meist Schelte oder gar eine Backpfeife. Gertha fand immer einen Grund, und wenn sie nur behauptete, dass Svea zu langsam gewesen sei.
Bei Gerthas Anblick senkte das Mädchen schnell sein Haupt und ging zu ihrem Platz am Tisch, wo ein Löffel lag. Ulf saß am Kopfende. Er schenkte ihr weder einen Blick noch unterbrach er das Löffeln des Getreidebreis, als sie sich auf die einfache Bank setzte. Ihre beiden Brüder saßen Svea gegenüber, an der Langseite des Tisches. Die Stimmung war bedrückend, dennoch zwinkerte Brun seiner Schwester kurz zu und schenkte ihr ein Lächeln.
Svea erwiderte es und griff nach dem Löffel, um aus der gemeinsamen Schüssel auf der Mitte des Tisches zu essen. Doch bevor sie ihn zum Munde führen konnte, begann Gertha zu schimpfen: „Hab ich’s dir nicht gesagt, Ulf: Um die Arbeit drückt sie sich, zum Stopfen ihres frechen Mauls kommt sie jedoch rechtzeitig zurück. Das muss aufhören! Ulf, sag doch was. Ich kann das Holz nicht mehr allein schleppen, sonst kommt dein Sohn zu früh auf die Welt!“
Gertha wusste genau, wie wichtig es Ulf war, einen weiteren Sohn zu bekommen. Es schien, als wolle er mit ihm die Schmach der Geburt seines bisher jüngsten Kindes auswaschen. Ulfs Antwort bestand jedoch nur aus einem wortlosen Brummen. Er hörte diese Klage nicht zum ersten Mal. Nicht sicher, was sie jetzt tun sollte, schob Svea den vollen Löffel langsam in den Mund und würgte den faden Brei so regungslos wie möglich hinab. Sie überlegte, ob sie noch ein weiteres Mal aus der Schüssel fassen sollte, als Ulf sie missgelaunt ansprach, ohne sie dabei aber eines Blickes zu würdigen.
„Wo warst du so lange?“ Sveas Herz begann so wild zu schlagen, dass sie es im Halse spürte. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte und zögerte. Ulf gab ihr keine Zeit zum Nachdenken: „Du warst bei ihr, nicht wahr?“
Svea versuchte ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen: „Ich weiß nicht, was …“
„Lüg’ mich ja nicht an! Ich bin dir heut’ gefolgt, bis zu dieser teuflischen Lichtung.“
„Das ist keine teuflische …“
„Du gibst also zu, dass du dort warst?“
„Nein …“
Mehr konnte Svea nicht sagen, da war Ulf schon aufgesprungen, schlug ihr mit voller Kraft ins Gesicht und schrie sie an: „Ich hab’ dich gewarnt!“
Der Schmerz brannte auf Sveas Wange. Mit Mühe unterdrückte sie einen Aufschrei und Tränen. Nur so konnte sie weitere Schläge verhindern. Ihr Vater stand abwartend da. Svea beherrschte sich und wagte nicht, ihn anzublicken. Nach einiger Zeit setzte Ulf sich wieder und aß weiter. Gertha ließ sich jetzt zwischen den beiden auf der Bank nieder und strahlte dabei eine gewisse Zufriedenheit aus. Doch anscheinend war sie nicht zufrieden genug, denn sie flüsterte ihrem Gemahl etwas ins Ohr, woraufhin er noch einmal das Wort an Svea richtete.
„Was treibst du dort? Sie bringt dir bösen Zauber bei, stimmt’s? Betet ihr auch Götzen an? Oder mischt ihr verwunschene Tränke?“ Svea hätte gerne geantwortet und ihm erzählt, was Alveradis tatsächlich tat, doch Ulf schien keine Antwort zu erwarten und polterte sogleich weiter. „Diese Wilde ist gotteslästerlich und treibt schändliche Dinge! Sie verdirbt dich, wie schon deine Mutter zuvor! Diese Wilde hat einen Dämon in sie gepflanzt, daran ist sie gestorben. Das reicht ihr wohl nicht. Jetzt will sie den gleichen Dämon auch in dich pflanzen.“
Vorsichtig und mit gesenktem Blick versuchte Svea, die Angelegenheit richtig zu stellen: „Das ist nicht wahr, sie …“
Diesmal sprang Ulf so überraschend auf, dass Gertha erschrocken von der Bank fiel. Instinktiv hob Svea ihre Arme schützend über den Kopf. Die Hiebe ihres Vaters waren hart und schnell, Svea war ihnen hilflos ausgesetzt. Wenige Atemzüge später lag sie auf dem Erdboden des kleinen Hauses und ließ mit geschlossenen Augen die Schimpftiraden ihres Vaters über sich ergehen. Sie hoffte, dass es bald vorüber sein würde. In der Regel verflog sein Zorn recht schnell. Bis dahin galt es, möglichst wenig Widerstand zu leisten. Drohend stand Ulf über ihr, bereit für weitere Hiebe, als er plötzlich verstummte und nichts weiter geschah.
Überrascht wagte Svea einen Blick hinauf und sah Thorben neben dem Vater stehen. Er hatte Ulfs Handgelenk ergriffen und weitere Schläge verhindert. Angespannt starrte Thorben in die zornigen Augen des Bauern, schnell atmend. Noch nie hatte er sich gegen seinen Vater gestellt und niemand wusste, wie Ulf darauf reagieren würde.
Der Junge nutzte den Moment der Überraschung und rief seine Schwester zur Besinnung: „Lauf, Svea. Schnell, lauf weg!“
Sie ließ sich das kein zweites Mal sagen, raffte sich auf und lief, ohne sich umzuschauen, aus dem Haus. Ratlos, wohin sie sich wenden sollte, rannte sie aus dem noch offen stehenden Palisadentor und die Straße entlang, bis zum Waldrand. Erst dort blieb sie keuchend stehen und schaute zurück. Erschöpft lehnte sie sich gegen einen Baumstamm, wischte das Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe und schloss die Augen. Je ruhiger sie wurde, umso klarer begriff sie, was soeben geschehen war. Ulf hatte sie schon des Öfteren geschlagen, doch niemals zuvor mit dieser Heftigkeit, mit diesem Hass.
Eine große Traurigkeit überkam Svea. Ihre Beine begannen zu zittern und sie sank auf den Boden nieder und weinte. Es schien, als weinte sie nun all die Tränen, die sie über Jahre unterdrückt hatte. Sie weinte wegen der ungerechten Schläge ihres Vaters und wegen ihrer Mutter, die sie nie gekannt hatte und dennoch vermisste. Sie weinte wegen Thorben, der wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckte. Und sie weinte, weil sie ein Mädchen war – der Grund, weshalb ihr Vater sie hasste. Sie musste etwas büßen, wofür sie keine Schuld trug. So saß sie da, mit sich und ihrem Schicksal hadernd, bis es keine Tränen mehr gab, die sie vergießen konnte.
Mit verweintem Gesicht stand Svea schließlich auf und ging in den Wald. Sie achtete nicht darauf, wohin sie ging. Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden und zwischen den Bäumen war es schon dämmrig. Immer häufiger stolperte das Mädchen über Wurzeln, Bruchholz oder Steine. Sie schlug sich die Knie auf, verspürte jedoch keinen Schmerz. Der Schmerz in ihrem Herzen war viel größer.
Selbst der einsetzende Regen vermochte all ihren Kummer nicht hinfort zu waschen. Immer weiter strauchelte sie benommen durch den düsteren Wald, bis plötzlich dichtes Buschwerk den Weg versperrte. Verblüfft schaute sie auf und erkannte trotz der Dunkelheit, dass sie an dem Dickicht angelangt war, das die Lichtung mit Alveradis’ windschiefer Hütte umgab. Es war der einzige Zufluchtsort, den sie kannte. Zu Georg und seiner Familie hätte sie nicht gehen können. Bei ihm würde Ulf als erstes nach ihr suchen, da er wusste, wie sehr Svea ihren ältesten Bruder mochte. Alveradis’ Hütte lag verborgen im Wald und nur die Kräuterkundige würde sie vollkommen verstehen.
Nach kurzem Zögern begab sich Svea auf den versteckten Pfad durch das Gebüsch und stand wenige Augenblicke später vor der kleinen Hütte. Noch nie war sie bei Nacht hier gewesen. Der Regen machte diesen Ort zu einem trostlosen und unheimlichen Flecken Erde. Zaghaft klopfte Svea an die Tür und wartete auf eine Antwort. Die Tür öffnete sich gleich und Alveradis blickte erstaunt auf das tropfnasse Mädchen herab. Als sie Sveas Zustand begriff, kniete sie sich besorgt nieder und empfing sie mit offenen Armen. Sie drückte das Mädchen liebevoll an sich und ließ es an ihrer Schulter weinen.
Nachdem sich Svea beruhigt hatte, brachte Alveradis sie in ihre kleine Hütte. Sie streifte dem Kind die nasse Kleidung ab und wickelte es in einen wollenen Umhang. Danach setzte sie das Mädchen an den kleinen Tisch und reichte ihr eine Schale mit heißer Brühe. Während Svea sie schluckweise leerte, begann die Kräuterfrau, die aufgeschlagenen Knie zu reinigen und die offenen Wunden und Prellungen mit einer Paste und Bandagen zu versehen. Danach setzte sie sich zu Svea und ließ sich erzählen, was vorgefallen war. Alveradis unterbrach sie dabei nicht, sondern hörte aufmerksam zu. Als das Mädchen nichts mehr zu berichten wusste, saßen beide zunächst stumm da. Doch Alveradis war keine Frau, die in einer solchen Situation tatenlos blieb. Sie überlegte eine Weile und schließlich unterbreitete sie Svea ein Angebot.
„Du kannst so lange bei mir bleiben, wie du es wünschst. Mach dir keine Sorgen, die Hütte bietet genug Platz für zwei.“
Svea zögerte mit einer Antwort. Sie wusste nicht, was sie von diesem Vorschlag halten sollte. Sie hatte noch nie eine Nacht außerhalb ihres Elternhauses verbracht und konnte es sich auch nicht vorstellen, für längere Zeit fern zu bleiben. Doch ebenso wenig konnte sie sich vorstellen, einfach nach Hause zurückzukehren, schon gar nicht heute Nacht. Zudem war das Tor der Stadt zu so später Stunde fest verschlossen und würde niemandem mehr Einlass gewähren.
Nach reiflicher Überlegung nickte Svea zustimmend und Alveradis lächelte beruhigt. Sie versuchte, das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen: „Was hältst du davon, wenn wir uns zuerst um dein Lager kümmern? Du kannst dich gerne neben mich betten.“
Die beiden begannen, die wenigen Möbel im Haus zur Seite zu rücken und schufen ein Nachtlager für Svea. Auf diese Weise beschäftigt, vergaß das Mädchen seinen Kummer. Erst, als Svea ruhig neben Alveradis lag und vom lauten Prasseln des Regens am Einschlafen gehindert wurde, begann sie wieder über den Hass ihres Vaters nachzudenken. Ihre Traurigkeit wurde plötzlich so groß, dass sie erneut zu weinen begann, ganz leise und von der alten Frau abgewandt.
Alveradis hatte sich Svea allerdings nicht grundlos zur Gehilfin erwählt. Sie verstand das Kind wie eine eigene Tochter und bemerkte auch den Kummer des Mädchens. Vorsichtig legte sie den Arm um sie und spendete ihr Trost und Wärme, wie Svea es noch nie verspürt hatte; die tröstende Wärme einer Mutter, die sie endlich zum Einschlafen brachte.
Am nächsten Morgen erwachte Svea schlagartig. Rasch setzte sie sich auf und bemerkte, dass sie allein war. Durch die kleine Öffnung am Giebel konnte sie die Sonne sehen, die bereits hoch am Himmel stand. Alveradis hatte schon im Morgengrauen die Hütte verlassen, ohne das Mädchen zu wecken. Beunruhigt sprang Svea auf und lief vor die Tür, doch auch draußen konnte sie die weise Frau nicht finden.
Verzweifelt schaute sie in alle Richtungen, strich sich dabei immer wieder über das zerzauste, kurze Haar. Als sie sich dessen bewusst wurde, erinnerte sie sich, weshalb sie es so kurz geschnitten hatte: nur, um ihrem Vater zu gefallen.
Plötzlich vernahm Svea ein Rascheln aus dem nahen Gebüsch. Sicherheitshalber versteckte sie sich hinter der geöffneten Tür und beobachtete durch einen Spalt, wer sogleich auf der Lichtung erscheinen würde.
,Vielleicht ist es Ulf', schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Vater konnte sich gewiss denken, wohin seine widerspenstige Tochter gelaufen war. Svea machte sich auf alles gefasst. Sie war so angespannt, als müsse sie gleich davonlaufen.
Doch statt des Bauern erschien Alveradis. Sie trug zwei große Wasserschläuche über den Schultern und kam direkt auf das kleine Haus zu. Svea ließ erleichtert den Atem fahren und trat aus ihrem Versteck.
„Guten Morgen, mein Kind“, strahlte Alveradis das Mädchen an.
So liebevoll war sie noch nie zu Beginn eines Tages begrüßt worden, stellte Svea fest.
Weshalb konnte ihr Vater nicht ein kleines bisschen wie Alveradis sein? Überrascht bemerkte sie, dass sie ihn trotz seiner ständig schlechten Laune und der Schläge vermisste. Und sie vermisste ihre beiden Brüder, die noch im Haus lebten.
„Guten Morgen“, antwortete Svea mit belegter Stimme.
„Ich habe frisches Wasser von der Quelle geholt. Es wird dir schmecken und deine Lebensgeister wecken.“
Alveradis holte einen hölzernen Becher und schenkte dem Mädchen ein. Svea nahm das Gefäß dankbar entgegen und trank in einem Zug aus. Den zweiten Becher trank sie auf einer kleinen Bank vor der Hütte, gemeinsam mit der alten Frau. Sie saßen schweigsam und nachdenklich, und Alveradis ließ dem Mädchen Zeit, wofür Svea dankbar war. Sollte sie noch einmal über die Ereignisse des gestrigen Tages sprechen wollen, so würde sie zu gegebener Zeit von selbst beginnen.
Der Tag schritt voran. Als sei es selbstverständlich, half Svea bei allem, was an Arbeit anfiel. Mit der Zeit sprach sie wieder, jedoch nur über belanglose Angelegenheiten. Alveradis unterrichtete sie weiter und ihre Gehilfin sog alle Erklärungen auf wie ein trockenes Tuch Wasser. Am Abend gab es ein kleines Mahl und als sich die Nacht über der Lichtung ausgebreitet hatte, betteten sie sich zur Ruhe. Auf diese Weise vergingen einige Tage: Die beiden arbeiteten, sammelten Nahrung im Wald, speisten und sprachen miteinander, als wäre es nie anders gewesen.
Mittags saßen sie oft vor der Hütte, bereiteten Heilmittel zu oder sortierten das Gesammelte aus dem Wald. So auch heute. Svea säuberte gerade ein paar Wurzeln, die sie für das Mahl ausgegraben hatten, als sie ein Rascheln im Gebüsch vernahm. Erschrocken sah sie Alveradis an, die es ebenfalls wahrgenommen hatte.
„Es kommt jemand“, stellte das Mädchen beunruhigt fest. Noch nie war jemand auf der Lichtung erschienen, wenn sie dort gewesen war.
Alveradis blieb gelassen, als sei es nichts Außergewöhnliches. „Vielleicht einer der Männer aus dem Wald. Die Geächteten und Verstoßenen suchen mich zuweilen auf, wenn sie meine Hilfe benötigen.“
Svea erschrak, als sie sich einen Geächteten vorstellte. Sie hatte bereits viel über sie gehört. Es waren Halsabschneider und Diebe, Räuber und Schänder, die in keinem Dorf und keiner Stadt mehr geduldet waren. Männer und auch Frauen, die ein kleines Mädchen besser meiden sollte. Ängstlich rutschte sie näher zu Alveradis.
„Keine Sorge, mein Kind. Meist ersuchen sie mich um meine Dienste und bringen als Gegenleistung etwas Nahrung mit. Ein erlegtes Tier oder wilde Früchte. Ich kenne die meisten von ihnen und bisher hat mir noch niemand Leid zufügen wollen, ganz gleich, welchen Verbrechens sie schuldig gesprochen wurden.“
Trotz der beruhigenden Worte blieb Svea in der Nähe der weisen Frau und erwartete, im nächsten Augenblick einen wüsten Mann zu erblicken. Als dann allerdings ihr Vater auf der Lichtung erschien, erschrak sie derart, dass sie sich mit einem schrillen Quieken ängstlich hinter Alveradis verbarg.
Die Kräuterfrau erhob sich sogleich und trat dem Bauern ein paar Schritte entgegen, bis dieser stehen blieb. Er wirkte unsicher, als hätte er nicht erwartet, hier auf Alveradis zu treffen. Sollte er tatsächlich geglaubt haben, Svea allein hier überraschen zu können, so hatte er sich getäuscht.
Ulf stand unsicher da, mit seiner löchrigen Kleidung und seiner fleckig schmutzigen Haube auf dem Kopf. Er strich sich über die unrasierten Wangen und schien zu überlegen, was er jetzt tun sollte. Finster starrte er Alveradis an und machte schließlich einen Schritt zur Seite, um Svea besser sehen zu können. Barsch sprach er sie an, als stünde die Kräuterfrau nicht vor ihm.
„Pack dich und komm’ mit!“
Doch Svea gehorchte nicht. Stattdessen machte sie einen Schritt zurück, als beabsichtige sie zu fliehen. Um dies zu verhindern, wollte Ulf entschlossen auf sie zugehen. Alveradis versperrte ihm jedoch den Weg. Überrascht hielt der Bauer inne und blickte die gefürchtete Frau hasserfüllt an. Seine Stimme klang wie ein bedrohliches Zischen, und seine Hände ballten sich, als er sie ansprach.
„Geh’ mir aus dem Weg, Weib!“
„Wenn du zu Svea willst, so musst du erst an mir vorbei. Allerdings werde ich dich nicht so einfach durchlassen.“
„Das ist meine Tochter, vergiss das nicht!“
„Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, als ich ihr auf diese Welt geholfen habe. Dich habe ich damals kaum zu Gesicht bekommen!“
„Willst du deshalb einen Anspruch auf Svea erheben? Ist das deine Absicht?“
„Ich erhebe gar nichts, noch nicht einmal meine Hände. Schon gar nicht gegen ein unschuldiges Kind.“
„Halt’ dein gotteslästerliches Maul, du teuflisches Weib. Zieh’ dich in deine Hütte zurück und treib’ dort, was du willst! Doch lass mich in Frieden mit deinen Sprüchen. Ich nehm’ Svea jetzt mit, egal was du dagegen hast.“
Ulf wollte gerade an Alveradis vorbeischreiten, als sie ihn am Arm packte und anherrschte: „Das wirst du nicht tun!“
Ungläubig blickte Ulf erst auf die Hand, die es wagte, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, dann in die Augen der Alten und raunte bedrohlich: „Lass’ mich sofort los oder ich vergess’ mich.“
Die Weise ließ ihn tatsächlich los, doch stellte sie sich erneut zwischen Ulf und Svea. So leicht würde der Bauer nicht zu seiner Tochter gelangen, mochte er noch so viele Drohungen aussprechen.
„Svea wird nicht mit dir gehen. Sie bleibt bei mir.“
„Du hast darüber nicht zu entscheiden. Mach endlich Platz!“
„Es ist auch nicht meine Entscheidung, sondern Sveas.“
Dies schien Ulf zu überraschen, denn er hielt inne und richtete sich auf. Forschend schaute er Svea an, die ängstlich ein paar weitere Schritte zwischen sich und ihren Vater gebracht hatte, dann wandte er sich wieder an Alveradis.
„Das ist dein Werk, Teufelsweib. Ich erkenn’ es wieder, wie damals bei meinem ersten Weib. Ich warn’ dich, halt’ meine Tochter nicht unter deinem Bann, sonst wird Gott dich dafür bestrafen.“
Da musste Alveradis lauthals lachen.
Verärgert über die Wirkungslosigkeit seiner Drohung, strafte Ulf sie mit einem verächtlichen Blick. Er schien allerdings vorsichtig geworden zu sein, denn er trat auf sichere Entfernung zu Alveradis zurück. Vielleicht befürchtete er, selbst in den Bann dieser wilden Frau zu geraten. Noch bevor er sich darüber klar werden konnte, sprach Alveradis, lauter als zuvor:
„Du redest Unsinn, Ulf. Ich habe weder Freya in meinem Bann gehabt, noch unterliegt Svea einem bösen Zauber, wie du glaubst. Im Gegenteil, sie hat sich frei dazu entschlossen, bei mir zu bleiben.“
„Das glaub’ ich nicht!“
„Glaube, was du willst. Das tust du ohnehin, vor allem, wenn man es dir vorkaut.“
„Ich weiß, dass sie schon den ganzen Sommer über bei dir war. Du hast sie in deinen Bann gezogen und jetzt kann sie nicht mehr von dir ablassen. Gib sie frei, Teufelsweib!“
„Nein, Ulf. Gib du sie frei. Sie ist dir doch ohnehin ein Dorn im Auge. Sie ist kein Junge, den du dir erhofft hattest, sondern nur ein weiteres Maul zu stopfen.“
„Es ist mein Kind …“
„… das du schlägst und schlechter behandelst als deine beiden Sauen. Lehrt dich das der Prediger in Neustatt, zu dem du jeden Sonntag so ehrfürchtig rennst?“
„Ein Kind muss seine Eltern ehren und darf nicht davonlaufen. Das hat er mir gesagt und so steht’s geschrieben.“
„Wenn er es überhaupt selbst lesen kann, dieser Pfaffe. Kommst du in seinem Auftrag oder aus freien Stücken? Wer schickt dich?“
Ulf blickte betreten zu Boden. Alveradis ahnte jetzt, weshalb er hier war. Unter normalen Umständen hätte er sich wahrscheinlich nicht einmal auf diese Lichtung gewagt. Doch sein schlechtes Gewissen, hervorgerufen durch die Predigten des Pfaffen, veranlasste ihn dazu.
„Svea soll mitkommen“, lautete seine ausweichende Antwort und sie klang bei weitem nicht mehr so energisch fordernd und bedrohlich wie zu Beginn. Vielmehr klang es jetzt fast wie eine Bitte.
„Nein!“
Diesmal war es nicht Alveradis, die ihm widersprach, sondern seine eigene Tochter. Svea hatte endlich den Mut gefunden, ihrem Vater die Stirn zu bieten, und sie tat es mit einer Entschlossenheit und Klarheit, wie sie Ulf bei diesem kleinen Mädchen noch nie zuvor erlebt hatte.
„Nein, ich werde nicht mitkommen!“, bekräftigte Svea.
„Du wagst es …?“
„Es tut mir leid, Vater, doch ich kann nicht mit dir gehen. Du weißt, dass ich bei Alveradis besser aufgehoben bin als bei dir.“
„Bei Gott, Svea, das werd’ ich nicht zulassen. Diese Frau wird dich …“
„Vater, ich weiß, dass du mich nicht liebst und mich nicht bei dir haben möchtest. Ich bin kein Junge und deshalb in deinem Haus fehl am Platz.“ Tränen liefen Svea über die Wangen und ihre Stimme klang traurig, als sie weitersprach. „Ich hoffe für Gerthas Kind, dass es ein Knabe sein wird. Aus mir wird jedoch niemals einer werden, so sehr ich mich auch darum bemühen mag.“
Mit diesen Worten lief Svea hinter das Haus und Ulf stand auf einmal Alveradis allein gegenüber. Sveas Rede hatte ihn scheinbar auf unbekannte Weise erreicht, denn er schien über ihren Sinn nachzudenken. Doch dann wurde sein Blick wieder finster und Zorn flammte erneut in ihm auf. Seine Worte richtete er hart an Alveradis, wagte jedoch nicht, sie anzusehen.
„Sie ist also deinem Zauber erlegen, Teufelsweib. Ich bin machtlos hier, selbst mit Gottes Hilfe. Soll sie doch verrecken und in der Hölle schmoren! Wehe euch beiden, wenn ihr mir noch einmal unter die Augen geraten solltet …“
„Drohe mir nicht, wenn du nicht bereit bist, deine Drohung auch wahr zu machen.“
Alveradis sprach ebenso hart wie Ulf und ließ keinen Zweifel daran, wer in diesem Streit der Unterlegene war. Und so machte sich Ulf ohne weitere Worte und ohne seine Tochter davon wie ein geprügelter Hund.
Alveradis wartete noch eine Weile um sicher zu sein, dass Ulf es sich nicht noch einmal anders überlegte. Dann ging sie ebenfalls hinter ihre kleine Hütte. Dort fand sie Svea im Gras sitzen, die Beine angezogen und ihr Gesicht in den Armen verborgen. Sie hatte zwar aufgehört zu weinen, wiegte sich jedoch sachte vor und zurück, als wiege sie sich selbst in den Schlaf.
Das Mädchen schien nicht zu bemerken, dass Alveradis sich neben ihr niederließ und sie sachte in den Arm nahm. Ihre Bewegung erstarb aber langsam, und nach einer Weile hob Svea den Kopf. Ihr Blick schweifte in die Ferne, als könne sie dort eine Antwort auf all die Fragen finden. Ihre Worte klangen tonlos, als sie eine davon an Alveradis richtete.
„Weshalb hasst er mich? Was habe ich ihm angetan, dass er mich derart hasst?“
„Nichts, mein Kind. Dich trifft keine Schuld.“
„Doch. Meine Schuld ist es, dass ich ein Mädchen bin.“
Ihre Feststellung klang kraftlos und ohne jegliche Hoffnung.
Alveradis versuchte, behutsam zu heilen, was Ulf über Jahre rücksichtslos zerstört hatte.
„Dass du ein Mädchen bist, ist ein besonderes Geschenk, keine Bürde. Auch wenn es die Prediger meist anders darstellen: Du solltest stolz darauf sein, als Frau durch dieses Leben schreiten zu dürfen. Sieh’ mich an …“
Mit dieser Aufforderung löste Alveradis ihre Umarmung und Svea blickte sie erwartungsvoll an, woraufhin die Alte fortfuhr: „Erwecke ich etwa den Anschein, als müsse man mich bedauern? Nein, im Gegenteil. Ich meistere mein Leben als Frau sogar ganz allein im Wald und das, so möchte ich behaupten, auf besonders wunderbare Weise.“
Svea musste schmunzeln. Es stimmte, was diese weise Frau sagte. Sie war und lebte außergewöhnlich. Alveradis ließ nicht locker.
„Schätze dich glücklich, ein Mädchen zu sein. Glaubst du etwa, ich hätte einen Jungen als Schüler aufgenommen? Nein, das gewiss nicht. Sie schwingen nur immerzu große Reden und je älter sie werden, umso fauler leben sie in den Tag hinein. Zumindest scheint es manchmal so …“
Svea musste mit einem Mal lachen, als Alveradis die Mimik der Halbwüchsigen nachahmte, die sie schon oft in Neustatt beobachtet hatte. Obwohl sie noch immer traurig war, bemerkte sie, dass sich ihre Schwermut durch Alveradis’ Anwesenheit langsam verflüchtigte. Mit dem Handrücken wischte sie ihre Tränen weg.
„Aber weshalb schmerzt es so, dass mein eigener Vater mich nicht mag?“
„Das ist die Liebe in dir, die nicht erwidert wird, mein Kind. Zumindest nicht von diesem Mann.“
„Und was ist mit meinen Brüdern? Ich vermisse sie. Wenn ich hier bleibe, werde sie nie wieder sehen können. Ich möchte gar nicht daran denken, was Ulf mir antun würde, sollte ich es jemals wagen, wieder nach Hause zu kommen.“
„Es gibt keinen Grund, weshalb du sie nicht wieder sehen könntest. Du musst sie ja nicht im Hause deines Vaters aufsuchen, nicht wahr?“
Svea lauschte gespannt, was Alveradis ihr vorzuschlagen hatte.
„Du bist ein Mädchen, das sich in Neustatt gut auskennt. Natürlich werden dir die Wachen am Tor nicht so einfach Einlass gewähren, doch du wirst Wege finden, um an ihnen vorbeizukommen.“
Svea dachte angestrengt nach. Plötzlich hatte sie eine Idee.
„Ja, an den Markttagen ginge das. Ich kann mich einfach bei einem Bauern als dessen Kind ausgeben oder mich im Gedränge hineinschleichen. Das ginge bestimmt. Dann könnte ich auch Georg, Thorben und Brun auf dem Markt treffen, sofern sie nicht auf den Feldern arbeiten müssen.“
Begeisterung schwang in Sveas Stimme mit, als sie erkannte, dass ein Leben im Wald nicht ein Leben ohne ihre Brüder bedeutete. Als wolle sie gleich loslaufen, um das Vorhaben auszuprobieren, sprang sie auf und lief vor Alveradis auf und ab.
„Beruhige dich, Svea, es wird noch ein paar Tage dauern, bevor du gehen kannst. Doch wie du siehst, gibt es immer einen Weg, um etwas zu erreichen, sofern man den festen Willen dazu besitzt.“
Svea nickte gedankenverloren, als habe sie nicht richtig zugehört. Sie gab sich der Vorstellung hin, auf den Markt zu gehen, wann immer es ihr beliebte.
„In Neustatt kann ich auch Besorgungen für uns erledigen oder ein paar Heiltränke und Kräuter gegen Nahrung tauschen. Ja, das könnte ich tun …“
Jetzt erhob sich auch Alveradis und hielt Svea an beiden Armen fest, um sich ihrer Aufmerksamkeit sicher zu sein. „Das wäre allzu leichtsinnig, mein Kind. Gewöhne dich lieber schnell an den Gedanken, dass dich die Menschen in Neustatt ab heute mit anderen Augen sehen werden.“
Svea blickte Alveradis verständnislos an und die Weise erläuterte weiter: „Nicht deine Brüder, doch die übrigen Menschen, die dich nicht so gut kennen. Du wirst niemals ungestraft auf dem Markt Waren anbieten können, weil sie diese nur allzu schnell als Teufelszeug bezeichnen werden. Zudem wärst du für Ulf eine leichte Beute und er würde bei der erstbesten Gelegenheit über dich herfallen. Nein, du darfst nicht auf den Markt gehen, wie du es bisher gewohnt warst. Vielmehr musst du stets auf der Hut sein, um nicht erkannt oder gar erwischt zu werden. Du wirst dich wie ein Hund auf der Straße vor Karren und tretenden Füßen in Acht nehmen müssen, ohne jene anbellen oder beißen zu dürfen, die dich verjagen wollen.“
Diese Aussicht ernüchterte Svea und enttäuscht klang ihre Frage: „Wie ein ungeliebter Hund soll ich durch Neustatts Straßen ziehen?“
„Die anderen werden dich wie einen solchen behandeln. Doch du wirst listig und schnell wie ein Fuchs werden. Du wirst lernen, ihnen immer einen Schritt voraus zu sein und sie, wenn nötig, an der Nase herumführen.“
„Sie an der Nase herumführen? Wie soll ich das denn anstellen?“
„Wie du dir vorstellen kannst, war auch ich einmal ein kleines Mädchen. Und du kannst mir glauben, ich war auch nicht immer damit zufrieden, hier auf dieser Lichtung allein mit meiner Mutter zu hausen. Ich wusste, dass es im nächsten Dorf noch andere Kinder gab und so schlich ich mich ab und an davon, um dort meine Erfahrungen zu sammeln. Glaube mir, das habe ich gemacht und es waren nicht die schlechtesten. Ich kann dir sicherlich noch den einen oder anderen Kniff aus meiner Kindheit beibringen. Den Rest wirst du selbst lernen.“
Svea traute ihren Ohren nicht. „Du hast es früher selbst getan, als kleines Mädchen?“ Diese Vorstellung schien Svea zu belustigen und sie musste so herzlich lachen, dass Alveradis darin einstimmte.
„Ja, das habe ich. Denn ich habe damals auch nicht immer auf das gehört, was meine Mutter mir gesagt hat. So weise ich dir heute vielleicht erscheinen mag, so frech, unvorsichtig und waghalsig war ich als Kind. Auch ich habe manche Schelte von meiner Mutter bekommen.“
Erneut musste Svea kichern und konnte sich nicht vorstellen, dass Alveradis jemals ungehorsam gewesen sein sollte. „Und welches Dorf war es, in das du dich geschlichen hast?“
„Du kennst es. Heute ist es eine kleine Stadt.“
„Neustatt?!“
Alveradis nickte.
„Glaube mir: Es gibt Wege, ungesehen hineinzugelangen.“
„Und du wirst mir beibringen, wie ich es anstellen kann!“ Als wäre dies das größte Geschenk auf Erden, sprang Svea an Alveradis empor und umarmte sie, dass die alte Frau beinahe hinten über fiel. Jetzt wusste Svea, dass sie sich für längere Zeit hier wohlfühlen würde. Sie musste nicht auf ihre Brüder verzichten und konnte jeden Tag bei Alveradis sein. Sie würde von ihr lernen und sich in ihre Geheimnisse einweihen lassen. Als sie sich dessen bewusst wurde, empfand Svea etwas, dass sie bisher nur selten verspürt hatte: Glück! Sie war glücklich und sehr zufrieden mit ihrer Entscheidung, im Wald bei Alveradis zu bleiben.