Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach - Страница 18
ОглавлениеAnno 963 – Nach dem Winter
Auf der Innenseite der trüben Fensterscheiben hatten sich Eisblumen gebildet, während draußen stetiger Schneefall die Umgebung in ein sanftes Weiß hüllte. Faolán konnte die Landschaft durch das vereiste Glas nur erahnen, welches selbst bei guter Witterung nicht durchsichtig, sondern gräulich wie dünnes Pergament schimmerte.
Mit kalten Fingern rieb der Novize eine kleine Stelle vom Eise frei, wie er es schon mehrere Male getan hatte, und starrte durch die trübe Scheibe, ohne etwas erkennen zu können. Es war zwecklos, denn in den kalten Gebäuden des Klosters schlug sich die Feuchtigkeit seines warmen Atems sogleich auf der eisigen Glasfläche nieder und überzogen sie erneut mit Frost. Doch Faolán musste auch nicht hinter die Scheiben blicken, denn in seiner Erinnerung fand er sich in den sommerlichen Wäldern jenseits der Klostermauern wieder.
So saß er, mit einem Buch auf dem Schoß, auf einer der Bänke des Lehrsaales und gab vor zu lesen, wie es alle Novizen aufgetragen bekommen hatten. Mit einem frostigblauen Finger fuhr er langsam die Zeilen entlang, ohne seine Augen folgen zu lassen. Es war Faolán unmöglich, sich auf die Worte zu konzentrieren. Er vergaß sogar die Kälte, die sich in seinen Gliedmaßen festgesetzt hatte, denn seine Gedanken weilten im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres, lange vor dem frühen Wintereinbruch im November. Immer wieder durchlebte er die sonnigen Nachmittage, die er gemeinsam mit Svea verbracht hatte. Wie sehr er sich nach ihr sehnte!
Das war eine ganz neue Erfahrung für ihn, jemanden zu vermissen. Wenn er daran dachte, wie lange er Svea nicht gesehen hatte und wie lange es bis zu einem Wiedersehen wohl noch dauern mochte, konnte der Frühling nicht schnell genug kommen. Es war ein merkwürdiges Verlangen, das er verspürte.
Inzwischen leugnete Faolán nicht mehr, dass er für dieses außergewöhnliche Mädchen mehr als nur Freundschaft empfand – er hatte Svea regelrecht in sein Herz geschlossen. Sein Freund Ering hatte es von Beginn an richtig gedeutet und Faolán hatte nichts dagegen unternehmen können. Er wollte es auch gar nicht, denn im Grunde genoss er dieses Gefühl. Lediglich die gegenwärtige Einsamkeit quälte ihn. Doch das bestärkte wiederum Faoláns Auffassung, dass seine Gefühle für Svea rein und tiefgründig waren und nicht nur eine vorübergehende Laune.
Was so harmlos mit ein paar Blickkontakten auf dem Markt begonnen hatte, entwickelte sich schon bald zu regelmäßigen Treffen. Um diese zu ermöglichen, unterbrach Bruder Ivo nach jedem Markt die Rückfahrt, und zwar genau dort, wo der Pfad zum verborgenen Tümpel führte. Viele Nachmittage verbrachten Faolán und Svea am versteckten Weiher, wo sie sich lange unterhielten. Diese Gespräche waren zu Faoláns Überraschung viel mannigfaltiger als jene im Kloster, ja nahezu unbegrenzt, und der Novize erhielt Einblicke in das vielseitige Leben außerhalb der Bruderschaft.
Obwohl Svea gerade in Hinsicht auf die Abtei anders dachte als Faolán, wurde sein Glaube dadurch weder erschüttert, noch wollte er dem Kloster und seinem bisherigen Leben entsagen. Allerdings erkannte der Novize, dass ein Leben außerhalb der Abtei von weitaus größeren Nöten als dem eigenen Seelenheil bestimmt wurde. Für viele war es ein Kampf um das bloße Überleben. Den trugen die meisten Menschen Tag um Tag, Jahr um Jahr aufs Neue aus, und es war niemals gewiss, wer bei diesem Ringen die Oberhand behalten würde. Während Mönche in einer großen und starken Gemeinschaft lebten, waren die Menschen außerhalb der Abtei meist auf sich allein gestellt.
Durch die Gespräche erfuhr Faolán auch viel über Svea. Nie hätte er geglaubt, jemals so viel über einen Menschen erfahren zu können oder zu wollen, wie über sie. Inzwischen wusste er, dass sie die einzige Tochter eines armen Bauern aus Neustatt war, jedoch nicht mehr bei ihm lebte. Ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben und über das zweite Eheweib ihres Vaters verlor das Mädchen kaum ein Wort. Den Grund, weshalb Svea nicht mehr bei ihrer Familie lebte, obwohl sie oft von ihren Brüdern erzählte, verschwieg sie, selbst als Faolán danach fragte.
Dass sie schon seit einigen Jahren bei einer Kräuterkundigen namens Alveradis lebte, die irgendwo in den Wäldern zwischen Neustatt und dem Kloster hauste, schien für sie ganz normal zu sein. Ebenso normal schien es, dass die Weise Frau das Mädchen in ihr Wissen einweihte, beinahe in gleicher Weise wie Faolán von den Mönchen unterrichtet wurde.
Svea besaß gute Kenntnisse über Pflanzen und Tiere, ganz gleich ob Baum oder Blume, Käfer oder Fuchs. Sie wusste Dinge, von denen Faolán noch nie etwas gehört hatte, denn diese waren mit der christlichen Lehre alles andere als vereinbar. Darüber hinaus wurde Svea von Alveradis auch noch in anderen Bereichen unterwiesen, die weit über Faoláns Verständnis hinausgingen. Die wilde Frau hatte als erste bemerkt, dass Svea die besondere Gabe des Gesichts besaß.
Faolán hatte das Mädchen früh auf diese Fähigkeit angesprochen und gefragt, ob sie in die Zukunft blicken könne. Zu seiner Verwunderung sprach Svea zu Beginn nur sehr wenig darüber. Sie besaß eine Gabe, die sie oft selbst nicht so recht verstand und die sie anfangs auch geängstigt hatte. Doch einfach in die Zukunft zu blicken, das vermochte sie nicht.
Alveradis war jedoch sehend, wie Svea es nannte. Sie besaß die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die den meisten Menschen verborgen blieben. Dadurch konnte sie Svea helfen mit mit ihrer besonderen Begabung umzugehen, sie richtig anzuwenden und die Bilder ihrer Eingebungen zu deuten. Darin lag nämlich die größte Schwierigkeit und Herausforderung. Allerdings erhielt die Schülerin bislang nur wenige Eindrücke aus der anderen Welt, wie sie es nannte, und diese kamen meist spontan, ohne dass sie dies beeinflussen konnte. Bilder tauchten dann unerwartet vor ihrem geistigen Auge auf, begleitet von starken Empfindungen, die sie als wichtige Begebenheiten für bestimmte Menschen deutete.
Svea lernte von Alveradis auch, ihr besonderes Können vor anderen Menschen zu verbergen. Die Kräuterfrau war davon überzeugt, dass derartige Fähigkeiten für ihren Besitzer schnell zum Verhängnis werden konnten, sollten sich andere davor fürchten. Alveradis sorgte sich um ihre Schülerin wie eine Mutter. Gegen den Rat ihrer Mentorin vertraute das Mädchen Faolán mit der Zeit einiges über ihre Gabe an. Unter anderem auch, dass sie niemals sicher sein konnte, ob ihre Deutung des Gesehenen auch der Wahrheit entsprach. Was bedeutete es zum Beispiel, wenn das Haupt eines Mannes plötzlich von einem silbernen Schein umgeben war? Sie wusste es nicht und Faoláns Gedanke, dieser Mensch könnte ein zukünftiger Heiliger sein, tat er selbst schnell als Unfug ab. Manchmal waren es Gegenstände, die Svea sah, manchmal auch nur fremde Gefühle, die sie überkamen. Faolán begriff allmählich, dass diese Fähigkeit keine leichte Bürde war.
Einige Male wollte der Novize wissen, ob Svea auch bei ihm etwas Ungewöhnliches sehen oder wahrnehmen konnte, doch er wagte nicht danach zu fragen. Seine Furcht vor einer schlechten Nachricht war viel zu groß, und so schwieg er lieber. Er würde warten, bis Svea ihn von selbst darauf ansprach. Doch sie tat es nicht und so glaubte er, dass es bei ihm schlichtweg nichts Außergewöhnliches wahrzunehmen gab.
Faolán genoss jeden Augenblick mit Svea, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was alles passieren könnte. Um sich Sorgen zu machen waren die kurzen Momente am verborgenen Tümpel viel zu kostbar. Der Novize gab sich ganz diesen Augenblicken hin, ließ sich vom Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume treiben und tat, wonach ihm gerade der Sinn stand.
Aus diesem Grunde fand er sich eines Nachmittags mitten im Weiher wieder, wo Svea ihm das Schwimmen beizubringen versuchte. Das war ein großes Planschen und Rudern mit Armen und Beinen und Faolán fürchtete anfangs zu ertrinken. Svea hingegen war eine geduldige Lehrerin und mit jedem weiteren Treffen verbesserten sich Faoláns Schwimmkünste. Schon nach kurzer Zeit konnte er sich allein frei im Wasser bewegen, wenn es auch nicht elegant aussah. Ab diesem Zeitpunkt half Svea ihm allerdings nicht mehr, sich über Wasser zu halten und schon bald vermisste der Novize die zarten, lehrenden Berührungen ihrer Arme und Hände.
Wenn Faolán nach einem solchen Treffen wieder zum Klosterwagen zurückkehrte, plagte ihn oft das schlechte Gewissen, etwas Verbotenes getan zu haben. Bruder Ivo hingegen ignorierte die nassen Haare seines Gehilfen und Faolán war erleichtert, dass er deshalb nicht nach Ausflüchten suchen musste. Der Cellerar erwies sich ohnehin als sehr tolerant. Weder fragte er, was Faolán im Wald trieb, noch drängte er ihn zu einer schnellen Rückkehr zum Wagen. Stets wartete der Mönch geduldig, bis sein Gehilfe wieder auftauchte. Er vertraute dem Novizen in seinem Handeln voll und ganz. Faolán kannte die Beweggründe für dieses Vertrauen nicht. Sie waren ihm auch egal, solange der Cellerar seine Haltung beibehielt.
Der Sommer verging auf diese Weise schnell. Ein sonniger und warmer Herbst folgte, doch er hielt nicht so lange an, wie Faolán es sich erhoffte. Kurz nach der Erntezeit wurde es bereits so kalt, dass es im November tagsüber dauerhaft regnete und sich des Nachts Frost über das Land legte. Fahrten zum Markt wurden in Hoffnung auf besseres Wetter immer wieder verschoben. Am Ende blieb dieser letzte Markttag des Jahres jedoch ganz aus. Die Trennung von Svea erfolgte dadurch so plötzlich, dass Faolán es bedauerte, sich nicht richtig von ihr verabschiedet zu haben.
Daher hoffte der Novize, dass der frühe Frost auch einen baldigen Frühling zur Folge hätte. Diese Hoffnung zerschlug sich allerdings, als nicht einmal im März Besserung eintrat. Inzwischen war es Ende April und es fiel noch immer Schnee vom Himmel, in dem es einen endlosen Vorrat davon zu geben schien. Faolán blieb nichts anderes übrig, als hinter der trüben Scheibe sitzend den Herrn zu bitten, den Schnee doch wenigstens in Wasser zu wandeln. Ein halbes Jahr war nun seit dem letzten Treffen mit Svea vergangen. Selbst wenn er sich anstrengte, hatte der Novize inzwischen Mühe, sich ihr Gesicht genau vorzustellen.
In seiner Verzweiflung hatte er während des Winters dem Cellerar oft angeboten, die dringend notwendigen Besorgungen in Neustatt zu erledigen. Bruder Ivo hatte jedoch stets abgelehnt. Es sei zu gefährlich für einen jungen Novizen bei diesem Wetter allein durch den Wald zu ziehen, selbst zu Pferd. Nicht nur hungrige Raubtiere wären auf der Suche nach Beute, sondern auch die Geächteten, die im Wald hausten. In Faoláns Augen waren das nur schwache Ausreden, denn seine Sehnsucht nach Svea schien viel stärker zu sein als alle drohenden Gefahren zusammen. Allein die Ungewissheit, ob er Svea in Neustatt überhaupt antreffen würde, hielt ihn von dem Wagnis ab, das Kloster auf eigene Faust zu verlassen.
Faolán träumte vor sich hin und starrte durch die milchige Scheibe. Als er sich seiner geistigen Abwesenheit bewusst wurde, senkte er sein Haupt, um in seinem Schriftstück weiter zu lesen. In diesem Augenblick bemerkte er Bruder Notger neben sich. Die plötzliche Nähe des Mönchs ließ Faolán zusammenzucken. Wie lange der Gelehrte dort schon gestanden haben mochte, wusste Faolán nicht. Er wusste nur, dass der Bibliothekar es nicht in guter Absicht tat. Seit der Freveltat des Novizen war der Mönch alles andere als gut auf ihn zu sprechen.
Bruder Notger ergriff sogleich in übertrieben höflichem Tonfall das Wort: „Hat sich unser ehrwürdiger Novize Faolán wieder einmal dazu herabgelassen, eine Zeile zu studieren? Oder steht ihm der Sinn nach anderen Dingen? Scheinbar fliegen ihm die Worte der Schriften einfach so in den Kopf, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Ein wahres Wunderkind des Herrn, könnte man meinen.“
Faolán vernahm das unterdrückte Prusten und Kichern der anderen Novizen. Er sah Drogos breites, triumphales Grinsen, einige Bänke weiter hinten. Offensichtlich hatte er den Mönch auf die geistige Abwesenheit des Novizen aufmerksam gemacht.
Schnell suchte Faolán nach einer plausiblen Erklärung, um die unausweichliche Strafe zumindest etwas zu mildern. „Ich habe mir nur Gedanken über das Gelesene gemacht, ehrwürdiger Bruder.“
„In der Tat?“, fragte der Bibliothekar zweifelnd. „Dann dürfte es dir ja keine Schwierigkeiten bereiten, mir den Inhalt des letzten Absatzes wiederzugeben. Deine eloquenten Überlegungen interessieren mich über alle Maßen.“
Faolán konnte aber beim besten Willen nicht einmal den letzten Absatz rezitieren. Noch bevor er eine Antwort parat hatte, riss Bruder Notger ihm das Buch aus der Hand. Der Novize schwieg, was allemal besser war als sich auch noch in Lügen zu verstricken. Um seinen Zorn gegen Drogo und seine eigene Leichtfertigkeit zu verbergen, hielt er den Blick gesenkt und versuchte, einen möglichst demütigen Eindruck zu erwecken.
„Dachte ich es mir doch“, triumphierte der Mönch vor allen Novizen, die ihre Schriften vergessen hatten und ihr Augenmerk nun einzig auf Faolán gerichtet hielten. „Mach dir keine Mühe, dich zu erklären. Das kannst du gleich vor Prior Walram tun. Entferne dich und suche ihn augenblicklich für eine Strafe auf!“
Ohne ein weiteres Wort machte sich Faolán auf den Weg. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schritt er über das noch unberührte Weiß des Klosterhofs durch den steten, dichten Schneefall, direkt zur Kammer des Priors, wo er mit schneebedeckten Schultern und Haupt eintraf. Im Gegensatz zum Lehrsaal des Skriptoriums war es in Walrams Gemach bei weitem nicht so kalt, denn der Prior machte oft von dem Privileg seines Amtes Gebrauch und ließ sich einen Feuertopf mit wärmender Glut aus dem Kochhaus bringen. Faolán beschlich ein mulmiges Gefühl als er darauf wartete, dass der Prior ihn ansprach. Er konnte sich noch gut daran erinnern, als ihn Bruder Notger nach dem Zwischenfall im Skriptorium hierher gebracht hatte. Seit jener Erfahrung mit Walram, die er beinahe mit dem Leben bezahlt hätte, wusste Faolán, dass der Prior mit Härte nicht sparte.
Zunächst musterte der Mönch den Novizen geringschätzig von oben bis unten, während sich der Schnee von Faoláns Schuhen auf dem Boden zu kleinen Pfützen wandelte. Dann allerdings nahm das Gesicht des Priors einen vergnügten Ausdruck an. Er wusste, dass der Novize ihn nur auf Anweisung eines anderen Mönches aufsuchen würde und der Grund hierfür konnte nur ein Vergehen sein. Walrams Worte klangen heiter und verlogen zugleich: „Ich freue mich, dich hier zu sehen. Berichte mir sofort was vorgefallen ist, und zwar lückenlos! Wage es nicht, mich zu belügen oder etwas auszulassen. Ich werde es ja doch erfahren.“
Das gehässige Grinsen auf dem frisch rasierten Gesicht des Mannes verriet dessen Vorfreude, Faolán noch einmal zu züchtigen. Walram wurde wie schon damals förmlich zum Wolf, der kurz davor war, seine Beute zu reißen. Um den Prior nicht weiter zu reizen, berichtete Faolán gehorsam was vorgefallen war und das schadenfreudige Lächeln des Priors wurde mit jedem Satz hämischer. Nach dem knappen Bericht schien das breite Grinsen des Mönches wie eingebrannt zu sein. Selbst als er zu sprechen ansetzte, blieben seine Mundwinkel nach oben verzerrt und das Gesicht glich einer diabolischen Fratze.
Doch noch bevor der Prior ein Wort von sich geben konnte, öffnete sich die Tür und schlug krachend gegen die Wand. Erbost drehte sich Walram dem Störenfried zu, um ihn zurechtzuweisen. Als er jedoch sah, wer sich Zutritt verschaffte, blieben ihm die Worte im Halse stecken.
Von wirbelnden Schneeflocken und kaltem Wind umgeben, betrat Bruder Ivo schwer atmend den Raum. Unter Walrams genervtem Blick schloss der Kellermeister die Tür und klopfte anschließend den Schnee von Haupt und Habit. Ivos Gesichtszüge entspannten sich, als er Faolán erblickte und Walrams Mundwinkel sanken zusehends nach unten.
Verächtlich schaute er auf den Cellerar, als er ihn ansprach. „Was gibt es?“
„Entschuldigt die Störung, ehrwürdiger Prior“, rechtfertigte sich Bruder Ivo in freundlichem Plauderton. „Ich komme auf direkte Anweisung des Abtes.“
Argwöhnisch wanderte Walrams Blick zwischen Ivo und Faolán hin und her. Der Novize spürte regelrecht die Befürchtung des Priors, er könne seine Beute verlieren, bevor er ihr einen einzigen Stockhieb verabreicht hätte. Walram ahnte, dass der Cellerar einzig aus diesem Grund bei ihm erschienen war. Doch so einfach würde er den Novizen nicht aufgeben. Mit einem langen Schritt brachte er sich zwischen Faolán und Bruder Ivo und verlangte eine Erklärung.
„Was will der Abt von mir? Weshalb kommt er nicht persönlich, wenn er mich zu sprechen wünscht?“
„Es ist weniger Eure Person, von der er etwas wünscht. Vielmehr erwartet der Abt etwas von mir.“
„Und was habe ich mit Euren Angelegenheiten zu schaffen?“
„Der ehrwürdige Abt und ich sind der Meinung, dass trotz des schlechten Wetters der nächste Markttag zu Neustatt unbedingt genutzt werden muss. Wir benötigen dringend einige Güter, da wir sonst um unser tägliches Mahl fürchten müssen. Einige wichtige Vorräte sind während des Winters aufgebraucht worden.“
„Soll ich Euch etwa auf den Mark begleiten, meinen Segen dazu geben oder was ist Euer Begehr? Kommt endlich zur Sache!“
„Nicht Euch, sondern dem Novizen Faolán gilt mein Interesse. Ich benötige seine unverzichtbare Hilfe, um die Restbestände aufzunehmen und die Fahrt vorzubereiten, wie es seine Pflicht ist.“
Prior Walram hatte es geahnt! Er entblößte seine Zähne wie ein knurrender Hund, seine Worte klangen giftig.
„In diesem Falle, ehrwürdiger Kellermeister, bedaure ich sehr Euch mitteilen zu müssen, dass Euer Gehilfe nicht zur Verfügung steht. Er wurde soeben zu mir geschickt, um eine Strafe zu erhalten. Ihr wisst selbst, wie wichtig die Züchtigung aufsässiger Novizen ist. Nur so werden sie davor bewahrt, falsche Wege einzuschlagen.“
„In gewissem Maße habt Ihr sicherlich Recht, ehrwürdiger Prior. Die Sättigung der Bruderschaft ist aber weitaus wichtiger als eine Züchtigung. Für den Marktgang benötige ich die Hilfe dieses Novizen und zwar sofort. Daher muss Euer Anliegen zurückstehen. Der Abt sieht das genauso. Solltet Ihr mir nicht glauben, so könnt Ihr ihn gerne aufsuchen und Eure Beschwerde vorbringen.“
Mit einem verächtlichen Blick auf den Cellerar antwortete Walram: „Einige unserer Mitglieder könnten eine Fastenzeit gut vertragen. Doch wenn Euch der Marktgang so wichtig ist, so nehmt Euch doch einen anderen Handlanger!“
Bruder Ivo ignorierte die Anspielung auf seine Körperfülle und blieb äußerlich ruhig. „Gerne würde ich Eurem Wunsch entsprechen, doch das ist gänzlich unmöglich. Außer mir kennt sich keiner so gut in den Lagerräumen aus wie Faolán. Ohne ihn ist es ausgeschlossen, den nächsten Marktgang, der bereits in wenigen Tagen stattfinden soll, vorzubereiten. Wie lautet also Eure Entscheidung? Muss ich Abt Degenar um eine zusätzliche Fastenzeit bitten, damit Ihr einen Novizen zurechtweisen könnt?“
Walrams Unterkiefer mahlte unentwegt, während er nach einem weiteren Argument suchte. Die Unverhältnismäßigkeit seines Wunsches lag allerdings klar auf der Hand. Seine Gesichtszüge wurden eisern, als er begriff, dass er keine andere Wahl hatte, als nachzugeben. Dennoch weigerte er sich, den Novizen freizugeben.
Bruder Ivo setzte noch einmal nach. „Wenn es Euch bei der Entscheidungsfindung hilft, ehrwürdiger Prior, so solltet Ihr unverzüglich den Abt konsultieren. Ich werde so lange hier mit dem Novizen warten, damit er kein weiteres Unheil anrichten kann, wie Ihr es mit Sicherheit befürchtet.“
Der Unterkiefer des Priors mahlte weiter. Die Hände ballten sich zu Fäusten, als wolle er jemanden schlagen. Plötzlich brach es aus dem sonst so beherrschten önch zornig heraus: „Verschwindet! Und nehmt diesen respektlosen Novizen mit. Doch die Strafe für seine heutige Tat ist nicht vergessen! Sie ist lediglich aufgeschoben! Er hat sich unverzüglich wieder bei mir einzufinden, sobald seine Aufgaben erledigt sind! Dafür tragt Ihr allein die Verantwortung, Cellerar!“
„Selbstverständlich. Habt Dank für Euer Verständnis, ehrwürdiger Prior.“
Bruder Ivo gab dem Novizen ein Zeichen zu folgen und verließ daraufhin die Kammer des Priors. Faolán konnte es kaum fassen, dass er vorerst seiner Strafe entgangen war. Mit einem verborgenen Lächeln umrundete er den Prior schnell und eilte dem Cellerar nach. Es erschien ihm wie ein Gang in die Freiheit.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, und zwischen den Wolken zeigte sich vereinzelt der blaue Himmel. Hin und wieder blitzte die Sonne durch die Lücken und ließ das winterliche Weiß derart grell aufscheinen, dass Faolán die Augen zukneifen musste und dem Cellerar blind nacheilte. Mit ein paar schnellen Schritten hatte er Bruder Ivo eingeholt. Sein genuscheltes „Danke“ lenkte die Aufmerksamkeit des Cellerars auf seinen Gehilfen.
„Oh, danke nicht mir, sondern dem Wetterumschwung. Der Frühling kommt jetzt, ich spüre es in meinen alten Knochen. Freue dich nicht zu früh, denn es bedeutet eine Menge Arbeit.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Zudem bleibt die Bestrafung bestehen“, stellte Faolán nüchtern fest. Doch in seinen Worten klang auch etwas Hoffnung. Hoffnung, der Kellermeister könne mehr für Faolán erreichen als lediglich einen Aufschub der Bestrafung.
„Richtig“, bestätigte Bruder Ivo Faoláns Feststellung in gleichgültigem Tonfall. „Und ich werde genau das tun, was der Prior von mir verlangt hat: Dich unverzüglich zu ihm zurückschicken, sobald deine Aufgaben erledigt sind …“
Mutlos ließ Faolán den Kopf hängen, wodurch ihm das verschmitzte Lächeln des Kellermeisters entging.
„… es ist nur fraglich, ob deine Aufgaben jemals erledigt sein werden. Ich denke, das wird nicht so bald sein. Schließlich sind sie zahlreich und ich bin ein Cellerar, der nicht leicht zufrieden zu stellen ist …“
Schlagartig begriff Faolán, was Bruder Ivo mit seinen Worten andeutete. Mit einem Mal hob sich seine Stimmung und dankbar folgte er dem Mönch in die Lagerräume, um seinen endlosen Aufgaben gerecht zu werden.
* * *
Die folgenden Tage eilten an Faolán vorüber, gefüllt mit den Vorbereitungen des ersten Marktgangs im neuen Jahr. Der Cellerar hatte nicht übertrieben: Es bedeutete tatsächlich harte Arbeit. Die Bestände des Klosters mussten in jeder Hinsicht überprüft werden. Es wurde jetzt nicht nur fassweise gezählt, sondern stückweise kontrolliert und aussortiert, selbst bei den kleinsten Nüssen. Nur so ließ sich verhindern, dass verdorbenes Obst oder Gemüse die Fäulnis verbreiten würde.
Faolán scheute die Mühe nicht. Er war sogar froh, auf diese Weise Drogo und dem Prior aus dem Weg gehen zu können. Außerdem lenkte es seine Gedanken um Svea etwas ab.
Tag um Tag stieg die Temperatur an und der Schnee war bereits nach wenigen Tagen geschmolzen. Schon nach kurzer Zeit waren weite Bereiche des schlammigen Klosterhofes und der unbefestigten Wege wieder abgetrocknet, denn die Sonne schien unaufhörlich und ein steter, warmer Wind wehte. Gerüche und Düfte, wie sie nur der Frühling hervorbringen konnte, stiegen Faolán in die Nase. Der Novize befand sich schon seit Tagen in bester Laune und freute sich auf das bevorstehende Ereignis.
Endlich war es soweit. Obwohl Faolán im vergangenen Jahr schon oft die Vorbereitungen für die Fahrt nach Neustatt getroffen hatte, war er aufgeregter als beim ersten Mal. Nach dem Beladen erschienen der Kellermeister und der Abt auf dem Hof, der Segen wurde ausgesprochen und die holprige Fahrt begann.
Die Bäume des Waldes waren noch kahl. Vereinzelt ließen aber die aufgehenden Knospen schon ein zartes Grün durchschimmern. An den Nordhängen lagen zwischen den Baumstämmen nur noch wenige Schneefelder. Auf seinem Weg fuhr der Klosterwagen an Bauern mit Handkarren und Rückentragen vorbei und einige fahrende Händler befanden sich mit ihren Packtieren ebenfalls auf dem Weg zum Markt.
Offensichtlich hatten nicht nur die Benediktiner auf besseres Wetter gewartet. Es versprach ein dichtes Gedränge auf dem Markt zu werden. Nach einer scheinbar endlosen Fahrt sah Faolán schließlich die lang ersehnten Dächer der Stadt in der Ferne auftauchen.
Die Einfahrt war wieder ein Spektakel für sich und Faolán genoss die herrschende Umtriebigkeit. Zuerst durchfuhren sie die neue Wehranlage, an der während der Wintermonate nicht gearbeitet worden war. Inzwischen hatten die Maurer begonnen, den Mist auf der Mauerkrone zu entfernen, der zum Schutz gegen den Frost aufgebracht worden war. Vereinzelt entfernten sie lose Steine aus dem oberen Teil des Bauwerks, um sie später mit frischem Mörtel neu einzusetzen.
Dieses Jahr sollte ein weiterer, großer Teil der Wehranlage fertiggestellt werden, damit sich im darauffolgenden Jahr der große Ring endlich schließen würde. Erst dann würde die Stadt einer sicheren Festung gleichkommen.
Beim Anblick der zahlreichen Krieger fragte sich Faolán, ob die Angst vor Überfällen überhaupt berechtigt war. Schließlich befanden sich die Plünderer in Form von Ruriks Schergen bereits innerhalb der eigenen Mauern!
Entlang der Straße zwischen neuer Stadtmauer und altem Palisadenwall reihten sich wie im vergangenen Jahr die Zelte und Baracken. Von den Garküchen bis hin zu den Verschlägen der Huren, alles und alle waren wieder vertreten.
Direkt vor dem Palisadentor drängten sich die Marktgänger und entrichteten mehr oder weniger mürrisch den Wegezoll. Die Bewaffneten waren sichtlich genervt wegen des plötzlichen Andrangs. Der Klosterwagen ließ schließlich das Tor hinter sich und quälte sich im Schritttempo durch die vollen Straßen der Stadt, bis hin zu der alten Stelle unter der Linde.
Nachdem der Marktstand aufgebaut war, erschienen bald die ersten Kunden, die die Qualität der Waren prüften und um Preise feilschten. Doch sie waren zurückhaltend und nur selten kam es zu einem Handschlag. Zur Mittagsstunde sandte Bruder Ivo seinen Gehilfen aus, damit er nach den benötigten Gütern für das Kloster Ausschau hielt und die gegenwärtigen Preise in Erfahrung brachte.
Faolán bekam dadurch endlich eine Gelegenheit, nach Svea Ausschau zu halten. Er rannte flink zwischen den Ständen umher, fand hier und da die vom Kloster benötigten Waren und prägte sich deren Tauschwert ein. Seine Suche nach Svea blieb allerdings erfolglos. So sehr er sich auch bemühte, ihren roten Schopf in der Menge zu entdecken, er konnte ihn einfach nicht finden. Entmutigt gab der Novize nach einiger Zeit auf und machte sich auf den Weg zurück zum Klosterstand.
Inzwischen war es früher Nachmittag und recht ruhig geworden. Nur noch vereinzelt erschienen Kunden am Stand und Bruder Ivo rechnete nicht mehr mit einem großen Ansturm auf die restlichen Klostergüter. Deshalb machte er sich gleich auf, um den Handel bei den Ständen abzuschließen, die Faolán ihm nannte. Er überließ zum ersten Mal seinem Gehilfen den Stand und begab sich in das Gedränge.
Nachdem Bruder Ivo gegangen war, positionierte sich Faolán selbstbewusst unter dem Vordach und versuchte die Augen nach allen Seiten offen zu halten. Nach einiger Zeit sah er zu seinem Schrecken zwei ihm wohlbekannte Markthüter auftauchen. Sein Herz begann schneller zu schlagen und er hoffte, die Kerle würden heute untätig vorüberziehen.
Doch das war leider nicht der Fall!
Die beiden hielten direkt auf den Klosterstand zu. Faoláns Anspannung wuchs, je näher Ruriks Männer kamen. Er versuchte zunächst so normal wie möglich zu wirken, doch das half nicht, sein Zittern zu verbergen.
Faolán machte sich auf die übliche Konfrontation gefasst. Bisher hatte er sich dabei immer hinter Bruder Ivo verstecken können, doch jetzt war er allein. Der Cellerar mit seiner Leibesfülle und Erfahrung wusste den Kriegern selbstbewusst entgegenzutreten. Seinem Gehilfen hingegen stand kaum der Bartflaum im Gesicht. Faoláns Haltung straffte sich.
In diesem Augenblick sah er hinter den beiden nahenden Männern für einen Wimpernschlag einen roten Haarschopf in der Menschenmenge auftauchen und gleich wieder verschwinden. Noch bevor er sich vergewissern konnte, ob es sich tatsächlich um Svea handelte, versperrten ihm die beiden Bewaffneten die Sicht.
Der Anführer zeigte sich auch diesmal von seiner widerlichsten Seite: unrasiert und mit beschmutzter Gewandung, als habe er sich übergeben und vergessen, sich zu reinigen. Er schritt auf Faolán zu und setzte ein breites, fieses Grinsen auf.
Faolán versuchte den abstoßenden Geruch der Männer zu ignorieren, der ihm schon entgegenschlug, obwohl sie noch einige Ellen entfernt waren. Fieberhaft überlegte er, was er tun sollte. Svea ging ihm nicht aus dem Kopf. War es tatsächlich ihr Haar gewesen, das er eben kurz gesehen hatte? Er musste es herausfinden, hatte jedoch keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Fragen überschlugen sich in seinem Kopf, als Faolán plötzlich eine wahnwitzige Idee kam. Er wusste nicht, ob sie funktionieren würde, doch er musste es darauf ankommen lassen.
Als die beiden Männer den Stand erreicht hatten, kam Faolán ihnen zuvor: Er griff nach zwei gut aussehenden Rüben und bot sie den Recken an. Die hielten überrascht inne. Das Grinsen auf ihren Gesichtern wich einem fragenden Ausdruck, der von Begriffsstutzigkeit zeugte.
Faolán nutzte seinen Vorteil und ergriff das Wort: „Ehrenvolle Krieger und Hüter des Marktfriedens, ich grüße Euch. Darf ich Euch als kleine Aufwartung diese köstlichen Rüben unseres Klosters anbieten? Sie haben in diesem harten Winter an Aroma gewonnen. Gegart sind sie ein wahrer Gaumenschmaus. Bitte, nehmt sie an.“
Faolán drückte jedem der beiden Männer eine prächtige Wurzel in die Hand. Die Recken waren darauf nicht vorbereitet und der Schweigsame ließ das Gemüse beinahe fallen. Der Anführer versuchte, Herr der Lage zu werden, wusste jedoch nicht, wie er auf diese freiwillige Abgabe reagieren sollte.
Faolán ließ ihm keine Zeit und sprach weiter: „Der Herr hat meine Gebete erhört und Euch zu mir geschickt. Ich befinde mich nämlich in einer misslichen Lage. Dringende Geschäfte erfordern meine kurzzeitige Abwesenheit. Daher ersuche ich Euch höflichst im Namen des Herrn, Eurer ehrenvollen Pflicht nachzukommen und diesen Marktstand für eine kurze Weile zu bewachen. Es soll Euer Schaden nicht sein und ich wäre Euch sehr zu Dank verpflichtet.“
Kaum hatte Faolán die letzten Worte gesprochen, bedankte er sich mit einem Nicken bei den beiden Wachen, als hätten sie ihr Einverständnis gegeben. Dann lief er in die Richtung, in der er Svea gesehen hatte. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass sich die beiden Bewaffneten nicht fortrührten. Verdutzt betrachteten sie die Rüben, als hielten sie eine solche zum ersten Mal in Händen. Faolán hoffte, die Krieger dermaßen überrumpelt zu haben, dass sie seiner Bitte tatsächlich nachkommen würden. Falls nicht, so wäre ihm großer Ärger mit Bruder Ivo und Abt Degenar gewiss. Doch dieses Risiko musste er eingehen.
Sein Versuch, schnell durch den dichten Strom von Menschen zu gelangen, scheiterte kläglich. Obwohl Faolán sich wendig durch die kleinsten Lücken quetschte, sich an schmutzigen Gewändern und verdreckten Tieren vorbeizwängte, durch Jauchepfützen lief und über Essensreste und Exkremente hinweg sprang, fand er Svea nicht. Wäre er nicht ständig mit seiner weiten Habit irgendwo hängen geblieben, so wäre er vielleicht schneller vorangekommen.
Der ein oder andere Rotschopf lief Faolán zwar über den Weg, doch es war nie das freche, aufgeweckte Mädchen, das er suchte. Nach einer Weile erkannte er seine aussichtslose Lage. Der Markt bestand aus zu vielen kleinen Gassen mit einer Vielzahl von Ständen, Karren und Wagen. Die Menschen drängten sich durch die verwinkelten Wege und Faolán war es unmöglich, sich einen Überblick zu verschaffen. Selbst sein verzweifelter Versuch, auf einem Karren stehend den Markt zu überblicken, brachte ihm lediglich Beschimpfungen des Besitzers ein. Svea war schlichtweg nicht auffindbar.
Zunehmend bedrückten ihn die Gedanken an die angeworbenen Bewacher des Klosterstandes. Hoffentlich hatten sie die Waren nicht einfach im Stich gelassen! Hoffentlich war Bruder Ivo noch nicht zurückgekehrt! Faolán musste augenblicklich zum Klosterstand zurück.
Erneut bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge und wie schon zuvor ging es ihm nicht schnell genug. Als Faolán endlich freie Sicht auf den Klosterstand hatte, stellte er erleichtert fest, dass Bruder Ivo noch nicht zurückgekehrt war, und die beiden Markthüter noch immer vor dem Stand weilten. Sie hatten der Bitte des Novizen also Folge geleistet, schienen jedoch in einen Streit vertieft zu sein. Faolán musste schnell handeln.
Die beiden Krieger bemerkten den Novizen erst, als er schon beinahe bei ihnen war. Mit festen Schritten kam er auf sie zu, verbeugte sich knapp und sprach sie höflich an: „Habt vielen Dank, ehrenvolle Krieger. Hoffentlich habe ich Euch nicht von wichtigen Pflichten abgehalten. Sicherlich werden die dankbaren Worte meines Abtes für Euer vorbildliches Pflichtbewusstsein bei Graf Rurik gerne gehört. Darf ich Euch als kleine Entschädigung noch etwas anbieten?“
Erneut waren die beiden Männer überrumpelt, so dass sie nur verwirrt dreinschauten statt zu antworten. Die Erwähnung des Grafen trug das Seine dazu bei, dass Faolán die beiden gewissermaßen in der Hand hatte. Rasch griff er in zwei Kisten und drückte den Kriegern einen kleinen Laib Brot und ein Stück Ziegenkäse in die Hände.
„Nehmt und teilt es brüderlich. Noch einmal danke ich Euch für Eure Hilfe. Nun geht mit Gottes Segen und lasst es Euch munden.“
Faolán wusste nicht, ob er mit dieser Segenserteilung seine Grenzen überschritten hatte. Er bezweifelte auch, die gottlosen Männer damit überhaupt beeindruckt zu haben. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Als wären die beiden Wachen nach einer Audienz entlassen worden, machten sie ein paar Schritte rückwärts und zogen nach einer Kehrtwendung wortlos davon.
Faolán hielt den Atem an. Er sah erleichtert, wie die beiden Krieger davongingen. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Herz bis zum Halse schlug. Plötzlich erklang hinter Faolán die donnernde Stimme des Kellermeisters und er fuhr erschrocken zusammen.
„Wahrlich, dich kann man allein lassen!“
Der Gehilfe wusste nicht, wie er die Bemerkung aufnehmen sollte und wie lange ihn der Mönch bereits beobachtet hatte. Bruder Ivo packte den Jungen bei den Schultern, drehte ihn um und schaute ihm ernst in die Augen.
„Wie hast du es nur vollbracht, diese beiden Halunken zu zähmen? Für gewöhnlich stehen sie doch nicht einfach nur so da und lassen sich etwas geben. Und dann die Art und Weise, wie sie davongezogen sind! Was ist geschehen?“
„Verzeiht mir, Meister“, begann Faolán unsicher. „Ich weiß nicht, ob ich richtig gehandelt habe. Vielleicht habe ich dem Kloster auch einen großen Schaden zugefügt …“
„So? Was genau ist geschehen?“
„Ich … ich hatte große Angst, als die beiden Krieger kamen. Ohne Eure Hilfe wusste ich nicht, was ich tun sollte. Da habe ihnen aus freien Stücken zu essen gegeben. Möglicherweise war es zu viel, weil ich sie zufrieden stellen wollte. Aber sie hätten sich ohnehin einfach etwas genommen … Und ich habe ihnen eine Art Segen erteilt.“
„Und was war es, was du ihnen gegeben hast?“
Faolán zählte mit gesenktem Haupt die Waren auf. Doch statt den Novizen für sein vermeintliches Fehlverhalten zu tadeln, begann der Mönch unerwartet und lauthals zu lachen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Kellermeister wieder beruhigt hatte.
„Du bist ganz schön gerissen, weißt du das? Seit uns diese Halunken bestehlen, ist es mir nicht in den Sinn gekommen, den Spieß einfach umzudrehen. Stattdessen zeigt mir mein schlauer Gehilfe, wie man mit ihnen umgehen muss. Vielleicht sollten wir das ab jetzt immer so handhaben: Ihnen freiwillig etwas geben und sie so vom Stehlen abhalten. Dann würden sie keine Sünde begehen und wir hätten einen Beitrag zu ihrem Seelenheil geleistet. Zudem stünden sie in unserer Schuld und behandeln uns in Zukunft vielleicht anders.“
Faolán entspannte sich. Erleichtert lehnte er sich gegen den Wagen, denn seine weichen Knie drohten nachzugeben. Es war alles noch einmal gut gegangen, trotz der vielen Wagnisse. Der Cellerar hatte sein Fortsein nicht bemerkt. Im Nachhinein fragte sich Faolán, ob er eigentlich verrückt gewesen war. Alles Erdenkliche hätte schief gehen können, angefangen bei den Markthütern bis hin zu einem Diebstahl der Waren und des Pferdes. Stumm schwor er sich, nie wieder so fahrlässig zu handeln und stimmte schon bald in das Lachen des Mönches ein.
Da der Nachmittag schon weit vorangeschritten war, hielt Bruder Ivo es für das Beste, den Aufbruch vorzubereiten. Er schickte Faolán los, die von ihm verhandelten Geschäfte auszuführen. Er selbst wollte sich um den Abbau des Standes kümmern. Faolán freute sich über diesen Auftrag, bot er doch die Gelegenheit, erneut nach Svea Ausschau zu halten. Mit wachsamen Blicken lief er viele Male zwischen dem Klosterstand und den anderen Händlern einher, um die besagten Waren zu holen. Svea bekam er dabei allerdings nicht zu Gesicht.
Tief enttäuscht kehrte Faolán nach seinem letzten Gang zurück. Sein innigster Wunsch hatte sich nicht erfüllt. Vielleicht war seine Vorstellung, Svea würde hier auf ihn warten, auch zu einfältig gewesen. Der heutige Markt in Neustatt war sicherlich nicht der erste in diesem Jahr. Woher hätte Svea wissen sollen, dass Faolán ausgerechnet heute hier erscheinen würde?
Verärgert über sich selbst half der Novize dem beleibten Mönch beim Aufladen der letzten Kisten. Es waren ungewöhnlich viele Waren und Vorräte, die sie heute ins Kloster zurückbrachten. Als Bruder Ivo schließlich das Zeichen zur Abreise gab, schaute sich Faolán noch einmal sehnlich um, ob er Svea nicht doch noch sehen würde. Vergebens. Schon bald holperte der Wagen aus der Stadt, dem noch fast kahlen Wald entgegen. Die Hoffnung auf Sveas Anblick ließ Faolán im Gedränge und Getöse Neustatts zurück.
Schweigsam fuhren Cellerar und Novize dahin. Ein jeder ging seinen Gedanken nach. Bruder Ivo überließ es dem Zugtier, den Weg zurück ins Kloster zu finden. Auf einmal brachte der Kellermeister den Wagen zum Stehen und Faolán schreckte auf. Er schaute sich um, konnte jedoch keinen Grund für die Unterbrechung der Fahrt erkennen. Erwartungsvoll schaute ihn der Kellermeister an, doch sein Gehilfe verstand nicht.
„Du weißt, was du zu suchen hast und wo es zu finden ist“, erklärte der Mönch schließlich. „Oder muss ich es dir nach einem halben Jahr erst wieder ins Gedächtnis rufen?“
Als Faolán nicht reagierte, griff Bruder Ivo hinter sich und zog einen Wasserschlauch hervor. Jetzt erst erkannte der Novize, welche Stelle sie im kahlen Wald erreicht hatten. Von hier führte der Pfad durch das Unterholz zum versteckten Tümpel. Mit einem Mal war Faolán hellwach. Er riss den Wasserschlauch aus der Hand des Mönches, sprang vom Wagen und verschwand ohne ein Wort im Geäst. Der schmale Weg war nach der Schneeschmelze schlammig und rutschig. Faolán schritt vorsichtig voran, erinnerte sich an jede Biegung. Sein Herz pocht wild und er wurde aufgeregter, je weiter er ging. Die nackten, grauschwarzen Äste erlaubten ihm tiefe Einblicke in den Wald. Der Erdboden war mit nassem Vorjahreslaub bedeckt und an schattigen Stellen lagen noch kleine Schneefelder. Der Geruch von feuchtem Laub und nasser Erde lag in der Luft.
In der Nähe des Weihers wurde der Novize langsamer. Eine Weile hielt er sich vorsichtig hinter dichtem Geäst versteckt. Dann schlich er langsam und voller Anspannung weiter, bis er zum Tümpel hinabblicken konnte. Und tatsächlich, dort unten im Weiher war Svea. Nicht etwa am Rande des Wassers, wie Faolán es sich vorgestellt hatte. Nein, sie badete darin und war gerade im Begriff, den Teich zu verlassen.
Für einen kurzen Augenblick zweifelte Faolán an Sveas Verstand, denn das Wasser war sicherlich eisig kalt. Er selbst hätte es nie gewagt, hinein zu gehen. Hinter den Ästen verborgen beobachtete er, wie Svea dem Wasser entstieg. Was er dabei zu sehen bekam, verschlug ihm beinahe den Atem. Ihr Haar war über die Wintermonate deutlich länger geworden und hing bis zu ihren Schultern herab. Was ihn allerdings am meisten überraschte, waren die Veränderungen ihres Körpers.
Je weiter Svea dem Wasser entstieg, umso bewusster wurden ihm die ungewohnten Rundungen ihres Leibes. Während Svea sich ein einfaches Leinenkleid über die nasse Haut streifte, konnte Faolán für einen kurzen Moment ihre kleinen Brüste sehen. Sogleich schaute der Novize schamvoll zur Seite, als erblicke er etwas Verbotenes. Dann jedoch wandte er sich langsam wieder um. Er musste einfach noch einmal hinsehen.
Waren das eben Sveas Brustwarzen gewesen, die vor Kälte leicht hervorstanden? Faolán stellte fest, dass ihm dieser Anblick merkwürdigerweise gefiel, obwohl er doch kein Säugling mehr war, der sich nach der Brust seiner Mutter sehnte; und doch hätte er Sveas Brüste in diesem Augenblick am liebsten angefasst.
Faolán hatte durchaus schon öfter die bekleideten Brüste von Frauen beobachtet, vor allem die Dekolletés der freizügigen Huren vor dem Palisadenwall in Neustatt. Bei einem Mädchen hatte er jedoch noch nie darauf geachtet. Und empfunden hatte er dabei niemals etwas, schon gar nicht bei Svea. Weshalb das jetzt anders war und weshalb sie mit einem Mal überhaupt Brüste bekommen hatte, war ihm ein Rätsel. Geschah denn das Gleiche mit Svea wie es bei ihm der Fall gewesen war, als ihm an den unmöglichsten Stellen mit einem Male Haare gewachsen waren?
Darüber hatte sich Faolán bisher noch keine Gedanken gemacht. Als er jedoch bemerkte, wie sich der Stoff an Sveas nassen Körper schmiegte und ihre Figur zusätzlich betonte, überschlugen sich seine Sinne. Plötzlich durchströmte eine unbekannte Hitze seinen Unterleib, dass sein Atem schneller ging. Vorsichtig duckte sich der Novize etwas tiefer, um unentdeckt zu bleiben. Heimlich beobachtete er das Mädchen weiter und verspürte dabei eine merkwürdige, fremde Lust.
Faolán bedauerte und begrüßte es zugleich, als Svea sich in einen dicken Umhang hüllte. Schlagartig wurden dadurch die neuen Reize verborgen. Sie schlug ihre Kapuze über den Kopf, zog noch ein paar einfache Schuhe an und wandte sich dann Faolán zu. Sie blickte ihn direkt an, lächelte verschmitzt und kam auf ihn zu.
Der Novize hieß sich einen Narren. Trotz allem, was er über Svea und ihre besonderen Fähigkeiten wusste, hatte er tatsächlich geglaubt, sich vor ihr verbergen zu können. Wahrscheinlich hatte sie ihn schon längst bemerkt, sich ihm bewusst derart reizvoll gezeigt und dadurch all die neuen Gefühle in ihm ausgelöst. Beschämt raffte sich Faolán auf und ging ihr am Rande des Tümpels entgegen. Als sie sich gegenüberstanden, blickten sie sich tief in die Augen, sprachen jedoch keine einzige Silbe.
Svea strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Freude über das Wiedersehen war ebenso groß wie die Faoláns. Doch im Gegensatz zu ihm konnte sie ihre Freude zeigen. Der Novize hingegen war unsicher und wäre ihrem Blick am liebsten ausgewichen. Noch immer versuchte er zu verstehen, welche Gefühle ihn überrollt hatten und wie er sie steuern könnte. Mit Mühe brachte Faolán ein Lächeln zustande, was Svea noch mehr beglückte. Ihr freudiges Strahlen war so bezaubernd, dass der Novize glaubte, die Sonne würde in seinem Herzen aufgehen.
„Hallo junges Mönchlein“, neckte Svea ihn schelmisch. „Was führt dich zu diesem entlegenen Tümpel? Gehst du etwa abseits des Weges?“
Faolán räusperte sich. Das einzige, was er jedoch von sich gab, war ein gemurmeltes „Hallo“.
Svea half ihm aus der Verlegenheit. „Vielleicht benötigt der junge Mönch eine kleine Erfrischung, um den Frosch in seinem Hals zu verscheuchen. Glaube mir, das eisige Wasser der Quelle erweckt selbst einen Toten zu neuem Leben.“
Mit beiden Händen griff sie unter ihre Kapuze, strich sich durch das nasse Haar und spritzte ein paar Wassertropfen in Faoláns Gesicht. Erschrocken wich der Novize nach hinten aus, strauchelte und konnte nur mit Mühe einen Sturz verhindern. Er stand da, als wolle er vor einem Raubtier flüchten. Das sah wiederum so komisch aus, dass Svea herzhaft zu lachen begann. Die plötzliche Heiterkeit entlockte schließlich auch Faolán ein leises Lachen.
Svea verstummte wieder und als sie sah, dass ihr Freund nach wie vor verkrampft dastand, fragte sie besorgt: „Stimmt etwas nicht?“
Faolán schüttelte den Kopf, denn er wusste nicht, wie er Svea seine Empfindungen und Gedanken erklären könnte. Er wollte sie ihr nicht anvertrauen. Wenn er nicht Acht gab und weiterhin darüber nachdachte, würden diese Gefühle womöglich erneut über ihn hereinbrechen.
Svea zog Faolán sachte zu einem umgestürzten Baumstamm, ließ sich darauf nieder und gab ihrem Freund mit einer Geste zu verstehen, sich ebenfalls zu setzen. Wie ein willenloses Tier folgte er und nahm mit gemischten Gefühlen neben der neuen Verlockung Platz. Es war ihm heute aus unbekannten Gründen unangenehm, so dicht neben ihr zu sitzen. Im vergangenen Sommer waren sie oft noch näher zusammen gewesen, sei es schwimmend oder sitzend. Damals hatte Faolán kein Problem damit gehabt. Sogar nackt hatte er damals nicht das empfunden, was er heute verspürte. Erneut durchflutete Faolán bei diesen Erinnerungen eine merkwürdige Hitze, vor allem in den Lenden.
Svea unterbrach die unangenehme Stille. „Du benimmst dich heute merkwürdig. Irgendetwas stimmt doch nicht. Ist etwas vorgefallen?“
Nur mühevoll fand Faolán Worte: „Nein, es ist nur …“ Seine Stimme versagte. Obwohl er im vergangenen Sommer so viel mit Svea gesprochen hatte, fielen ihm heute selbst die einfachsten Silben schwer.
„Faolán, was ist los? Ich bin es, Svea. Mir kannst du doch alles anvertrauen.“
Schließlich brachte der Novize doch noch ein paar Worte über die Lippen, wenn auch keine besonders geistreichen. „Ich weiß nicht! Alles ist … irgendwie ist es … du weißt schon … alles ist irgendwie anders.“
„Was ist denn anders, lieber Faolán? Wenn du es nicht weißt, woher soll ich es dann wissen? Kannst du nicht genauer erklären, was sich derart verändert hat, dass es dir sogar die Sprache verschlägt?“
Erneut rang Faolán nach Worten. „Wie soll ich es beschreiben? Es war vorhin alles anders, als ich dich im Weiher sah. Bei Gott, ich weiß auch nicht, weshalb!“ Faolán bemerkte nicht einmal, dass er den Namen des Herrn missbraucht hatte. Wäre er jetzt im Kloster gewesen, so hätte er sich auf direktem Wege zu Prior Walram begeben müssen. „Sooft habe ich mir in den vergangenen Monaten ausgemalt, wie es sein würde, dich nach dem unendlich langen Winter wiederzusehen. Und jetzt, da es soweit ist, ist alles anders als gedacht.“
„Ist es, weil ich ohne dich gebadet habe?“, versuchte Svea herauszufinden.
Als sie das Baden erwähnte, erinnerte sich Faolán an ihre Nacktheit, die nasse Haut, die neuen Rundungen und die kleinen Brüste mit den Brustwarzen, die vor Kälte hervorstanden. Sofort spürte er, wie diese Bilder erneut die ungewohnte Hitze in seinen Lenden hervorriefen. Schnell wandte er seinen Blick von Svea ab.
Doch der unbekannte Trieb des Jünglings war stärker als sein Geist. Die Männlichkeit zwischen seinen Beinen regte sich und begann sich zu versteifen. Das verwirrte ihn, denn diese Regung kannte er bisher nur vom Morgen, wenn der Druck in seiner Blase groß war. Weshalb sich beim Gedanken an Sveas Brüste die gleiche Auswirkung zeigte, konnte er sich nicht erklären. Je mehr er sich darauf konzentrierte, umso schlimmer wurde es. Faolán war froh, dass er auf dem Baumstamm saß und die Auswirkung seiner Erregung unter der Gewandung vor Svea verborgen blieb.
Weil Faolán so lange schwieg und verlegen dreinblickte, begann Svea zu ahnen, was ihn bedrückte. „Wenn du die Veränderungen meines Körpers meinst, so hast du Recht. Einiges hat sich verändert! Doch sind diese Veränderung nicht auch etwas Schönes?“
„Nein! Doch … ja, aber das ist es ja gerade, was mich so verwirrt!“
Faolán wusste nicht, wie er mit Sveas Selbstsicherheit umgehen sollte. Als sich vor einiger Zeit sein eigener Körper verändert hatte und auch seine Stimme tiefer wurde, hatte er sich so manche Gedanken darüber gemacht. Es waren nicht immer glückliche gewesen. Zu Beginn hatte er sogar befürchtet, die Wandlung könne eine Strafe oder gar ein Fluch für eine begangene Sünde sein. Er hatte diese Veränderungen damals nicht als schön empfunden. Doch wie sollte er das Svea erklären? Ihr Körper war ja anders als seiner – und er war jetzt noch schöner als früher!
Noch einmal nahm Faolán all seinen Mut zusammen und versuchte seine Empfindungen in Worte zu fassen. „Ich kenne einen solchen Anblick nicht und es ist ungewohnt, dich so verändert zu sehen. Die Gefühle, die mich dabei überkommen, sind mir ebenfalls fremd! Das habe ich einfach nicht erwartet.“
„Ist es lediglich mein Körper? Oder ist es auch dein Blick für mich, der sich verändert hat? Schließlich bist du kein kleiner Junge mehr und warst es auch im vergangenen Sommer schon nicht.“
Wieder überkam Faolán die Hitze in den Lenden und er spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg. „Verstehe mich nicht falsch. Dieser Anblick ist mir einfach nicht vertraut. Die einzige Frau, die mich bisher begleitet hat, ist die heilige Jungfrau Maria. Außer dir habe ich jedoch noch nie eine …“
Faolán versagte die Stimme und Svea beendete den Satz mit einem zärtlichen Flüstern: „… Frau nackt gesehen?“
Faolán nickte, ohne Svea dabei anzuschauen. Sie lachte leise, denn sie hatte diese schamhafte Seite des Novizen noch nie erlebt, es sei denn in Bezug auf seine Narbe. Sie bemerkte an seiner Reaktion, dass sie ihm gegenüber einen Vorteil hatte: Alveradis hatte sie auf die Veränderungen ihres Körpers vorbereitet. Ebenso hatte die Kräuterfrau erklärt, was bei Knaben gleichen Alters vor sich geht. Offensichtlich wurden Novizen in den Klosterschulen in dieser Hinsicht überhaupt nicht unterrichtet. Faolán wusste vielleicht noch nicht einmal was es bedeutete, wenn Kinder zu Erwachsenen heranreiften. Einfühlsam versuchte Svea diesen Mangel an Wissen bei ihm zu beseitigen.
„Ich kann dich beruhigen, Faolán. Diese Veränderungen muss ein jedes Mädchen früher oder später durchleben. Es ist nichts Schlimmes. Du selbst hast doch eine ähnliche Entwicklung durchlebt, als du vom Knaben zum Manne wurdest.“
Faolán fühlte sich keineswegs als Mann, auch wenn er mit seinen dreizehn Jahren das Alter bereits erreicht hatte. Doch noch war er Novize! Noch wollte er der Junge sein und bleiben, der er über viele Jahre gewesen war. Er hatte sich noch immer nicht so recht daran gewöhnt, dass er anders aussah als vor gut einem Jahr. Natürlich hatte er damals Bruder Ivo nach den Ursachen gefragt, doch dessen Antworten waren sehr unklar ausgefallen.
Svea unterbrach das beklemmende Schweigen. „Vielleicht liegt es daran, dass du in einer Gemeinschaft mit Männern aufgewachsen bist. Möglicherweise kommst du mit der Veränderung meines Körpers nicht zurecht, weil sich – wie viele sind es? – etwa zehn Dutzend Männer eine heilige Mutter teilen müssen!“
Die spaßig gemeinte Bemerkung, die Faolán hätte aufmuntern sollen, verfehlte ihre Absicht. Stattdessen reagierte er gereizt. „Lass das Kloster aus dem Spiel! Immer wieder treibst du deine Scherze über Mönche und ihr angebliches Unvermögen, die Welt zu verstehen. Die Abtei hat nichts mit uns zu tun. Außer vielleicht mit dem, dass ich bald selbst einer dieser Mönche sein könnte!“
Die harschen Worte trafen Svea und sie wich sichtlich erschüttert zurück. So einen Ausbruch hatte sie von Faolán noch nicht erlebt. Doch sie erkannte auch, dass sie ihre Grenzen überschritten hatte. Versöhnlich griff sie nach seiner Hand. „Entschuldige bitte. Ich wollte niemanden verspotten. Wenn du aber über meine Bemerkung nachdenkst, wirst du auch einen Funken Wahrheit in ihr finden. Oder hast du schon einmal einen Mönch anders über das Weibsvolk reden hören, als dass es entweder heilig und ehrwürdig oder lasterhaft und teuflisch ist? Der einzige Unterschied liegt darin, dass die Heiligen alle schon lange tot sind, während die zweite Gruppe aus allen anderen Frauen besteht, vor allem den lebenden.“
Faolán spürte erneut Zorn in sich aufsteigen, brachte sich jedoch dazu, über ihre Worte nachzudenken. Er stellte fest, dass sie gar nicht so Unrecht hatte. Abgesehen von der heiligen Jungfrau Maria und vielleicht noch einigen anderen heiligen Frauen wie Scholastika, die Schwester des heiligen Benedikt, wurden Frauennamen innerhalb der Abtei selten ausgesprochen. Sollte dennoch einmal von ihnen die Rede sein, so war die Lehre der Erbsünde nicht fern.
Dass Svea mit ihrer Beobachtung Recht hatte, konnte sich Faolán allerdings im Augenblick nicht eingestehen. Stattdessen gab er dem Impuls nach, das Kloster, seine Heimat, zu verteidigen: „So schlicht verhält es sich auch wieder nicht. Die Mönche haben mir einiges beigebracht. Auch, dass es Frauen in dieser Welt gibt.“
„Bei Gott, welch unglaublich wagemutige Lehre“, antwortete Svea sarkastisch. „Haben die Herren auch etwas Gutes an mir gelassen oder haben sie das rote Haar bei einem Mädchen als ein Zeichen für die leibliche Sünde gedeutet? Besitzt es nicht die Farbe des Höllenfeuers? Droht dir nicht ewige Verdammnis, solltest du dich mit mir einlassen?“
Wut schwelte plötzlich in Svea auf. Schnell zog sie ihre Hand zurück und ihre Stirn legte sich in Falten. Faolán schaute sie bestürzt an. Diese Reaktion hatte er nicht beabsichtigt. Betroffen sprach er schließlich mit ruhigem Tonfall: „Einzig Bruder Ivo weiß um deine Haarfarbe und das nur, weil du dich ihm selbst zu erkennen gegeben hast. Sonst trage ich dein Aussehen wie auch deinen Namen nur in meinem Herzen. Ich schreie es nicht hinaus wie ein fahrender Händler auf dem Markt.“
Sveas Gesicht entspannte sich mit einem Mal. Der Zorn in ihren Augen verflog und wurde durch ein zartes Lächeln ersetzt. Ihre Hand legte sich wieder auf seine. „Entschuldige bitte …“
„Warum sage ich nur solche Dinge?“, fragte Faolán verwirrt.
„Weil du sie tief in deinem Herzen trägst!“, flüsterte Svea. „So tief verborgen, dass nur du sie kennst. Und ich, wenn du sie mir anvertraust.“
Faolán nahm ihre Hand in seine, und so blieben sie schweigend auf dem Baumstamm sitzen. Ihre Blicke reichten zur Verständigung vollkommen aus, es bedurfte keiner Worte mehr.
Viel zu früh erhob sich Svea. „Es wird spät, mein Lieber, du musst gehen.“
Faolán wollte es nicht hören. Sein Gesicht verzog sich, als habe er plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. „Es kommt mir vor, als sei ich eben erst eingetroffen.“
„Du bist schon lange bei mir, weißt du das denn nicht?“ Ein schelmisches Lächeln begleitete ihre tiefsinnigen Worte. „Wir sehen uns bald wieder, oder nicht?“
„Sicher, zum nächsten Markttag!“
„Ich werde auf dich warten.“
Svea hätte jetzt einfach gehen und Faolán seines Weges ziehen lassen können, doch sie tat es nicht. Stattdessen machte sie einen Schritt auf den Novizen zu und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Es war nur eine leichte Berührung, doch Faolán strauchelte beinahe. Als der sanfte Kuss endete und ihre Lippen sich lösten, entzog sie sich ihm langsam, mit ihrem für sie so typischen Lächeln.
Faoláns Gedanken überschlugen sich. Was war das gewesen? Was hatte sie gemacht und vor allem: Wie hatte sie es gemacht? Schnell handelte der Novize, bevor es zu spät und Svea entschwunden sein würde. Er griff nach ihrer Hand, zog sie an sich und küsste sie erneut – länger und intensiver als beim ersten Mal. Svea erwiderte den Kuss leidenschaftlich, und Faolán verspürte eine unsägliche Lust in sich aufsteigen, wie er sie noch nie verspürt hatte. Sie kam einem Feuer gleich, das sich blitzartig ausbreitete und unmöglich einzudämmen war.
So innig dieser Kuss auch war, Svea löste sich seines Erachtens viel zu schnell von der Umarmung und trat einen Schritt zurück. Faolán versuchte sie erneut an sich zu ziehen, doch sie wich ihm geschickt aus. Mit erhobenem Zeigefinger sprach sie leise: „Die Hitze in uns ist gefährlich und droht eine Flamme zu entzünden, die hoch lodern könnte. Wir müssen aufpassen, dass wir uns daran nicht verbrennen, selbst wenn wir uns im Augenblick so sehr nacheinander sehnen …“
Rückwärts schreitend entfernte sie sich von Faolán und behielt ihn liebevoll lächelnd im Auge, damit er ihr nicht folgte. Dann war sie im Grau des Gehölzes verschwunden. Faolán war wieder allein.
Der Novize konnte sich an seinen Rückweg nicht mehr erinnern, doch plötzlich stand er vor dem Klosterwagen. Bruder Ivo schreckte verwirrt auf, als Faolán aus dem Unterholz auftauchte. Er hatte offensichtlich geschlafen.
„Du warst lange fort“, begann er. Faolán antwortete jedoch nicht, sondern bestieg wortlos den Wagen. „Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“, hakte der Mönch nach.
Faolán antwortete immer noch nicht. Stattdessen errötete er, als er an Svea und die Küsse dachte. Plötzlich lachte der Cellerar und griff nach dem Wasserschlauch, den sein Gehilfe noch immer festhielt. „Ich meinte die Quelle, mein Junge! Offensichtlich hast du sie gefunden, prall wie der Schlauch ist. Deiner Röte entnehme ich allerdings, dass es nicht nur die Quelle war, auf die du gestoßen bist.“
Während der Cellerar einen vollen Zug aus dem Wasserschlauch nahm, versuchte Faolán sich zu erinnern, wann und wo er ihn aufgefüllt hatte, doch es gelang ihm nicht.
Erneut riss ihn der Meister aus den Gedanken. „Es war nicht ganz anständig von mir, dich derart hinters Licht zu führen. Aber ich wollte dir zeigen, dass du dich nicht so schnell verunsichern lassen sollst. Eine derart belanglose Anspielung darf dein Geheimnis niemals so leichtfertig ans Tageslicht fördern. Deine Schamesröte verrät dich, du wirkst dadurch verdächtig …“
Faolán war erleichtert, dass Bruder Ivo es dabei bewenden ließ. Der Mönch trieb das Pferd an und schwieg für den Rest der Fahrt, sodass der Novize etwas Ruhe zum Nachdenken hatte. Es gab so viele neue Fragen.
Würden ihn auch andere so schnell durchschauen wie der Kellermeister?
Und was war mit ihm und Svea am Weiher geschehen?
Weshalb hatte er sie so leidenschaftlich geküsst?
Warum hätte er dabei am liebsten Svea Brüste angefasst?
Noch einmal rief sich Faolán die Berührungen und den Geschmack ihrer Lippen in Erinnerung. Es war ein wundervoller, bisher ungekannter Genuss gewesen, der Hunger nach mehr weckte.
In zwei Wochen erst würde der nächste Markttag stattfinden. Diese Zeit kam Faolán wie eine Ewigkeit vor, denn er konnte es kaum erwarten, Svea wieder zu sehen …