Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach - Страница 19
ОглавлениеAnno 963 – Der Sündenfall
Auf einen späten, kurzen Frühling folgte ein heißer Sommer. Es schien, als wolle das Jahr die Kälte des langen, harten Winters durch ein Übermaß an Hitze wieder ausgleichen. Zu Faoláns Freude brachte das gute Wetter regelmäßige Marktgänge mit sich. Zwar versuchte Prior Walram hartnäckig ihm die noch ausstehende Bestrafung zu verabreichen, doch Bruder Ivo wusste es stets mit ausreichend Arbeit für seinen Gehilfen zu verhindern. Das Klosterleben war anstrengend geworden. Faolán musste sich nicht nur vor Drogo, sondern auch vor dem Prior in besonderem Maße in Acht nehmen.
Die Fahrten nach Neustatt hingegen standen unter einem guten Stern, denn dort hatte sich einiges verändert. Wie Bruder Ivo es beschlossen hatte, ließ er den Markthütern weiterhin kleine Aufmerksamkeiten zukommen. Mal war es ein Stück Käse, ein Laib Brot oder Obst. Selten sogar ein paar Schluck Wein, wenn Faolán die gute Laune des Cellerars zugunsten der Recken ausnutzte.
Seit jenem ersten Markttag in diesem Jahr gab es von Seiten der Krieger keinerlei Schikanen mehr. Im Gegenteil: Die Bewaffneten hielten sich auffallend häufig in der Nähe des Klosterstandes auf und hatten ein wachsames Auge auf die Kundschaft. Obwohl Faolán sich nun der Loyalität beider Männer sicher sein konnte, ließ er den Klosterstand doch nie wieder unbeaufsichtigt.
Am meisten freute sich Faolán an diesen Tagen natürlich auf den Rückweg. Sobald der Kellermeister am frühen Nachmittag das Zeichen zum Aufbruch gab, konnte er es kaum erwarten, Svea gegenüberzustehen. Und er traf sie jedes Mal, denn Bruder Ivo schickte seinen Gehilfen stets an die Quelle im Wald. Der Mönch verlor schon gar keine Worte mehr darüber, sondern reichte Faolán einfach den leeren Wasserschlauch. Das Wasserholen war zu einer Art stummen Rechtfertigung für das Handeln des Cellerars geworden, sollten die heimlichen Treffen je ans Tageslicht kommen.
Svea und Faolán nutzten ihre gemeinsame Zeit für vertrauensvolle Gespräche und zum Schwimmen im Weiher. Zum Abschied tauschten sie noch ein paar zarte Küsse und Umarmungen aus, die deutlich beherrschter waren als die ersten. Absichtlich gab es nur wenige Berührungen. Faolán fiel es sehr schwer, sich zurückzuhalten. Er verspürte ein so starkes Verlangen, Svea im Arm zu halten, dass es ihm beinahe das Herz zerriss, wenn er sie bis zum nächsten Markttag nicht sehen konnte. Am liebsten hätte er sie bei jedem Treffen die ganze Zeit über festgehalten und erst dann wieder losgelassen, wenn die Schatten der Bäume am Rande der Lichtung mahnend lang waren.
An diesem Tag schien jedoch alles anderes zu sein. Schon seit dem Morgen war es drückend schwül und der Handel in Neustatt war träge vonstatten gegangen. Als Faolán nachmittags endlich den Weiher erreichte, fand er Svea schon vergnügt im kühlen Wasser vor. Ohne lange nachzudenken, legte er den Wasserschlauch zur Seite, entledigte sich des Habits und tauchte ebenfalls in die willkommene Erfrischung ein. Es tat gut, sich nach dem staubigen Markttag zu reinigen.
Wie zwei kleine Kinder tollten sie im Wasser umher. Ihr Lachen erklang so ausgelassen wie schon lange nicht mehr. Nach einer Weile hatten sie sich ausgetobt und schwammen gemütlich im Weiher. Langsam zogen sie Kreise, immer enger, wie zwei Vögel am Firmament. Keiner ließ den anderen aus den Augen. Sie kamen sich dabei so nahe, dass sich immer wieder ihre Hände und Füße unter Wasser berührten. Diese zufälligen Kontakte übten auf beide einen besonderen Reiz aus. Ihr Gespräch erstarb plötzlich und sie starrten sich wortlos an. Die zaghaften Berührungen wurden häufiger.
Als Sveas Hand wieder einmal an Faoláns Unterarm entlang strich, packte er diese plötzlich und zog Svea zu sich. Sie wehrte sich nicht, sondern glitt zu ihm. Faolán schaute in ihre unendlich tiefen Augen und drohte darin zu versinken. Ihre Lippen berührten sich, zunächst nur zärtlich. Dann wurde der Kuss immer inniger, dass Faolán hoffte, er möge niemals enden. Auch Svea erwiderte ihn mit Leidenschaft, als habe sie sich schon lange danach gesehnt.
Deutlich spürte der Novize, wie sich seine Männlichkeit versteifte und sich an die Oberschenkel des Mädchens presste. Sveas Beine bewegten sich regelmäßig im Wasser und rieben immer wieder daran. Es schien, als verstärkte Svea diesen Druck bewusst, sanft aber bestimmt.
Faolán wusste nicht, was mit ihm geschah. Die mahnenden Worte des Cellerars kamen ihm in Erinnerung, doch er drängte sie beiseite. Diese schönen Gefühle konnten unmöglich eine Sünde sein. Inzwischen befanden sie sich in Ufernähe, so dass ihre Füße wieder festen Grund fanden. Beide gaben sich jetzt ganz ihren Küssen hin. Ihre Finger erkundeten den Körper des anderen. Instinktiv versuchte Faolán herauszufinden, wozu Gott ihm das erregte Fleisch zugedacht hatte und hielt Svea noch fester, während er versuchte, eines ihrer Beine um seine Hüfte zu legen.
Doch bevor es ihm gelang, löste sich Svea unerwartet von ihm und schob den hitzigen Novizen zärtlich zurück. Sie versuchte ein wenig Abstand zu ihm zu gewinnen, doch Faolán hielt sie fest und zog sie erneut an sich, dass sie sich mit ihrem Rücken gegen seine Brust lehnte.
Zärtlich liebkoste er ihre Ohren und den Nacken, küsste ihr nasses Haar. Svea genoss es und ließ eine seiner Hände über ihre Brüste gleiten. Sie presste sich an ihn und spürte, dass sich Faoláns Männlichkeit an ihr Gesäß schmiegte. Wie von allein fand sein Glied einen Weg zwischen ihre Schenkel und bewegte sich dort sachte. Sein Atem ging schneller und Svea spürte, wie auch ihre Erregung stieg. Noch einmal versuchte Faolán dorthin zu gelangen, wo er zuvor abgewiesen worden war. Doch erneut löste sich das Mädchen zärtlich aber bestimmt aus seiner Umarmung. Diesmal brachte sie genug Abstand zwischen sich und den erregten Jüngling.
Faolán war irritiert. In seinem Sinnesrausch hatte er nicht mit ihrer Ablehnung gerechnet. Noch einmal versuchte er Svea bei den Händen zu greifen, doch sie wich weiter zurück. Sie erkannte den Schmerz in seinem Gesichtsausdruck und versuchte es ihm zu erklären. „Es tut mir leid, Faolán. Ich spüre unser beider Verlangen, doch für diesen Schritt ist es noch zu früh.“
Der Novize nickte kurz, um Verständnis für Sveas Entscheidung zu zeigen. Er fühlte sich aber alles andere als gut dabei. Svea versuchte ihn zu trösten: „Sei nicht betrübt, mein Liebster. Eines Tages werden wir erfahren, was sich jetzt noch unter dem kühlen Wasser verbirgt. Doch nicht heute. Nicht an diesem Tag.“
„Wann wird dieser Tag sein?“, lautete Faoláns einzige Frage, als gäbe es nichts Wichtigeres. Kaum hatte er sie ausgesprochen, wollte er sie wieder zurücknehmen.
„Ich weiß es nicht. Du wirst aber mit Sicherheit merken, wenn es soweit ist.“ Mit dem für Svea so typischen, schelmischen Lächeln fügte sie noch hinzu: „Sollte das wider Erwarten nicht der Fall sein, werde ich es dich schon spüren lassen. Verlass dich auf mich!“
Faolán liebte dieses verschmitzte Lächeln und erwiderte es. Svea kam langsam wieder auf ihn zugeschwommen und strich ihm zärtlich über die linke Wange, genau dort, wo sich seine markante Narbe befand. Sie betrachtete das Wundmal genau und Faolán wollte sich beschämt abwenden, doch Svea sah in dieser Narbe keinen Makel. Im Gegenteil. Es war ein Stück Faolán, wie sie ihn kannte und liebte. Sachte küsste sie ihn darauf.
„Vertraue mir, Faolán.“ Langsam begann sie den Novizen im Wasser zu umrunden und fragte ihn leise: „Weißt du denn nicht, dass wir beide für einander geschaffen sind? Wenn du das begreifst, wirst du auch das Warten ertragen können.“
Von hinten schlang sie ihre Arme um Faoláns Schultern und schmiegte sich an ihn. Der Novize spürte ihre Brüste an seinem Rücken und genoss es. Zärtlich klang ihre Stimme in seinen Ohren, dass ihm vor Erregung ein Schauer über den Rücken lief. „Mein lieber, kleiner Novize, wenn dich deine Mönche jetzt so sehen könnten, würde eine Welt für sie zusammenbrechen!“
„Das wäre mir gleich …“
„Aber mir nicht. Noch gehörst du zu ihnen, und wir müssen sehr vorsichtig sein.“ Verspielt strich sie ihm mit ihrer Hand über die Brust, ließ ihre Hand tiefer gleiten, jedoch ohne das zu erreichen, wonach sich Faolán sehnte. Er schloss seine Augen und wartete, was sie als nächstes tun würde. Plötzlich hielt Sveas Hand inne. Ihr ganzer Körper erstarrte mit einem Mal und Faolán spürte, dass etwas Außergewöhnliches vorgefallen war.
„Svea, was ist?“
Besorgt wandte er sich um und sah Tränen über ihre Wangen laufen. Faolán wurde unruhig. „Svea? Was ist los? Hast du – hast du etwas gesehen?“, fragte er verstört.
Svea schluckte schwer. Ihre Augen wurden wieder klar und blickten Faolán mit ungewohnter Nüchternheit an. Ihre Stimme klang tonlos und leise. „Ja. Aber du weißt, dass ich nicht genau deuten kann, was ich gesehen habe.“
„Was war es? Sag es mir!“, beschwor Faolán sie.
„Ich glaube, uns droht Gefahr.“
„Gefahr? Welche Art von Gefahr?“
„Das kann ich nicht genau sagen.“
Faolán schaute sich nervös um. „Von wem oder was geht die Gefahr aus?“
„Ich … ich weiß es nicht. Ich habe nur gesehen, wie diese Bedrohung über uns ragte, wie der schwarze Schatten eines großen Mannes.“ Svea verbarg das Gesicht in ihren Händen, als könne sie so die Erinnerung vor ihrem geistigen Auge auslöschen. Doch sie konnte die Bilder nicht leugnen. Sie holte tief Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen. Gefasster sprach sie weiter: „Jemand wird versuchen, uns zu trennen, damit wir uns nie mehr wiedersehen.“
Faolán war fassungslos. „Was? Wie meinst du das? Was meinst du damit, wir werden uns nie mehr wiedersehen?“
„Hör mir doch bitte zu, Faolán. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es eintreffen wird. Nur, dass wir in Gefahr sind. Das ist das Einzige, was ich aus den Bildern deuten kann.“
„Das kann nicht sein. Es darf nicht sein! Svea, Trennung kann unmöglich unser Schicksal sein! Sag’ mir, dass du dich irrst. Bitte, Svea, sag’ es.“
Doch Svea konnte es nicht versprechen. Die Bilder ihrer Eingebung waren zu eindrücklich gewesen. Dennoch versuchte sie den aufgebrachten Freund zu beruhigen. „Liebster, hör mir doch bitte zu.“
„Wer, um Gottes Willen, könnte uns etwas Böses anhaben? Worin könnte die Gefahr bestehen?“, fragte Faolán, als habe er Svea nicht gehört.
„Faolán, würdest du mir jetzt bitte einfach nur zuhören?“
Der Novize rang mit sich und wurde schließlich wieder etwas ruhiger. Als er keine Fragen mehr stellte, fuhr Svea mit ihrer Erklärung fort: „Du weißt, dass jeder sein Schicksal selbst in der Hand hat. Deine Mönche mögen dir vielleicht etwas anderes beibringen, und große Ereignisse mögen auch vorgegeben sein. Doch nicht alles ist vorbestimmt. Ich kann dir lediglich sagen, dass jemand versuchen wird, uns von weiteren Treffen abzuhalten. Diese Person will vor allem dir etwas Böses antun und wird dabei keine Mühe scheuen.“
„Aber das ist nichts Neues. Drogo will mir täglich etwas Böses. Je grausamer, umso besser. Damit kann ich leben, ich tue es schon seit Jahren.“
„Nein, Faolán, es ist nicht Drogo. Es ist jemand anderes. Diese Person ist um einiges mächtiger als Drogo. Jemand mit großem Einfluss …“
Sveas Stimme erstarb plötzlich und sie horchte erschrocken auf. Kurz darauf hörte auch Faolán, wie sich jemand einen Weg durch den Wald bahnte. Furcht blitzte in Sveas Augen auf. Ihre Worte waren nur noch ein angsterfülltes Flüstern:
„Er ist hier!“
Eilig entstieg sie dem Tümpel und lief zu dem Busch, an dessen Äste sie ihre Kleider gehängt hatten. Noch bevor sie sich ihr dünnes Leinenkleid überziehen konnte, brach auf der gegenüberliegenden Seite des Weihers plötzlich ein Mann aus dem Unterholz. Faolán und Svea blickten sich bestürzt um und der Novize erkannte sofort, wer sie ausfindig gemacht hatte: Prior Walram!
Der Mönch blieb zunächst überrascht am Rande der Lichtung stehen, begriff aber schnell, was sich vor seinen Augen abspielte. Ohne weiter zu zögern lief er los, um das Mädchen zu erreichen, doch Svea war schneller. Flink griff sie nach ihrer Schultertasche und dem Schuhwerk, richtete noch einen kurzen Blick auf Faolán, als wolle sie sich zugleich entschuldigen und verabschieden, dann verschwand sie im Geäst des Unterholzes. Walrams zornige Ausrufe hallten durch den Wald. Das Mädchen war ihm entkommen und so blieb ihm nur Faolán, der noch immer bis zur Hüfte im Weiher stand. Der Mönch hatte keine Scheu vor dem Wasser, watete hinein und zog den Novizen am Ohr zum Ufer.
Mit jedem Schritt war Faoláns Nacktheit deutlicher zu sehen. Allein diese Tatsache entsetzte den Prior bereits aufs Äußerste. Als er jedoch Faoláns Männlichkeit erblickte, deren Erregung schon beinahe abgeklungen war, erahnte er das volle Ausmaß der begangenen Sünde.
Wieder auf trockenem Boden und außer sich vor Zorn, brach Walram einen langen Tannenzweig ab und begann mit lauten Beschimpfungen auf den Novizen einzuschlagen. Faolán, der sich der Hiebe nicht zu erwehren wusste, war erleichtert, als nur wenige Augenblicke später der Cellerar ebenfalls auf der Lichtung erschien.
„Walram, seid Ihr des Wahnsinns, den Knaben derart zu schlagen?“
„Nein, werter Bruder“, antwortete der Prior schwer schnaubend und mit einem beängstigenden Glimmen in den Augen. „Ich bin keineswegs des Wahnsinns. Doch Euer Gehilfe hier, er ist der fleischlichen Sünde verfallen.“
Erneut wandte sich Walram an Faolán und trieb ihn mit Hieben voran. Jetzt konnte auch Ivo sehen, in welchem Zustand Faolán sich noch vor kurzem befunden hatte. Ohnmächtig schloss er die Augen, als wolle er ein Stoßgebet gen Himmel senden. Doch als er sie wieder öffnete, war Faoláns abklingende Erregung noch immer deutlich zu sehen und er ahnte, mit wem Walram den Jüngling im Weiher angetroffen hatte.
Wütend hob der Prior das achtlos abgelegte Habit des Novizen auf und schleuderte es ihm entgegen. „Bedecke deine Scham, bevor ich dir deine zu Fleisch gewordene Lust mit dieser Rute abschlage. Seht her, Bruder Ivo, wie Euer Gehilfe Eure Gutmütigkeit ausnutzt. Zum Wasserholen habt Ihr ihn geschickt, doch stattdessen suhlt er sich mit einer Dirne in einem Dreckloch, am helllichten Tage und vor den Augen des Herrn. Lehrt Ihr ihm auf diese Weise etwa Gottesfurcht?“
Bruder Ivo wusste auf Walrams Spott keine Antwort. Verzweifelt versuchte er ein Argument zu finden, um die Situation zu entschärfen, doch es fiel ihm keines ein. So konnte Walram seine Anklage fortsetzen, während er Faoláns Handeln beaufsichtigte.
„Wäre ich nicht zufällig wie Ihr auf dem Heimweg gewesen, hätte Faolán sein Spiel womöglich auf ewig weitergetrieben und Euch an der Nase herumgeführt. Welch Fügung des Herrn, dass ich heute ein Treffen mit dem Grafen in Neustatt hatte. Wie lange treibt der Sünder bereits dieses Blendwerk mit Euch? Den gesamten Sommer schon oder gar seit dem vergangenen Jahr? Mit Freude werde ich dem Abt davon berichten, darauf könnt Ihr Euch verlassen.“
„Ich … wir … woher sollte ich …?“, versuchte Bruder Ivo sich zu rechtfertigen.
„Bemüht Euch nicht, Euch herauszureden. Eure Unachtsamkeit hat Euren Gehilfen zur fleischlichen Sünde mit einer Dirne verleitet. Es ist eine Todsünde, sich der Wollust hinzugeben. Leichtfertig war es, den Novizen allein in den Wald gehen zu lassen … und doch bin ich Euch dankbar dafür!“
Mit einem teuflischen Grinsen wandte sich Walram wieder an Faolán und trieb ihn, sobald der Novize das Habit angelegt hatte, mit der Rute zum Klosterwagen zurück. Bruder Ivo konnte nichts weiter tun, als ihnen stumm hinterher zu laufen. Jede Verteidigung seines Gehilfen hätte ihn womöglich selbst verraten. Vor dem Abt würde er ohnehin Rede und Antwort stehen müssen. Vielleicht konnte er bei Degenar für den Jungen etwas erreichen.
* * *
Obwohl sich Walram alle Mühe gab, Faolán wie auch Bruder Ivo für den Vorfall am Weiher zur Rechenschaft zu ziehen, war er vor Abt Degenar nur zum Teil erfolgreich. Der Novize wurde natürlich schuldig gesprochen, das konnte selbst der Abt mit all seinem Wohlwollen für Faolán nicht verhindern. Der Cellerar hingegen beteuerte seine Unschuld und bekräftigte seine Absicht, auf den Novizen in Zukunft ein strengeres Auge zu halten. Das klang in Degenars Ohren überzeugend genug und daher maßregelte er seinen Freund zum Missfallen des Priors einzig mit Worten und einer geringen Buße.
Walram versuchte, für Faolán eine möglichst harte Bestrafung zu erwirken. Nebst der körperlichen Züchtigung wollte er den Abt auch davon überzeugen, dass der Novize nicht mehr als Gehilfe des Cellerars geeignet sei. Zu vielen Verlockungen könnte der Jüngling in Neustatt erliegen, zumal der Kellermeister sich als unfähig erwiesen hatte, den Novizen am kurzen Riemen zu halten.
Aber Walram scheiterte. Allen Appellen zum Trotz verhängte Degenar über Faolán keine Strafe, die aus körperlicher Züchtigung, sondern nur aus körperlicher Arbeit bestand. Ebenso sollte er weiterhin Gehilfe des Kellermeisters bleiben, denn niemand sonst eignete sich so gut für diese Aufgabe und damit für das Wohl der Gemeinschaft. Faoláns Strafe bestand darin, die Außenwände der Klosterkirche neu zu tünchen. Eine Arbeit, die in der Sommerhitze nicht nur schweißtreibend und anstrengend, sondern wegen des Hantierens mit Kalk auch noch gefährlich für das Augenlicht war. Schon ein kleiner Spritzer könnte dies auf Dauer trüben. Es war keine leichte Aufgabe, sich gleichzeitig auf einer wackeligen Leiter zu halten und auf die Tünche Acht zu geben.
Aus diesem Grund verlief der Vollzug der Strafe sehr langsam. Faolán war vorsichtig, denn ein Gerüst wie auf den Baustellen zu Neustatt gab es nicht. Von Zeit zu Zeit beaufsichtigte Prior Walram den Fortschritt der Arbeit und genoss es sichtlich, Faolán bei der Ausübung zuzusehen. Bestimmt hatte er erhofft, dass sich der Novize sein Augenlicht zerstört. Doch diesen Gefallen erwies ihm Faolán nicht.
Während er den Kalk vorsichtig mit einer Bürste auf die Wand strich, fragte er sich, ob dies die Gefahr war, die Svea vorhergesehen hatte. Schließlich könnte es durch den Kalk geschehen, dass er Svea tatsächlich nicht mehr wiedersehen würde. Faolán hegte die Hoffnung, dass nach dem Tünchen die Gefahr überwunden wäre. Zumindest schien es so, denn sein Leben verlief nach erfolgreichem Abschluss der Arbeit endlich wieder in gewohnten Bahnen. Er war bester Laune, freute sich auf den nächsten Markttag und hoffte, dass Bruder Ivo ihm nach wie vor die Freiheit zugestehen würde, Svea am Weiher zu treffen.
* * *
Faolán kauerte auf dem harten Steinboden, wusste allerdings nicht weshalb. Svea und Neustatt waren aus seinen Gedanken verbannt. Alles war aus seinem Kopf verbannt und er versuchte sich zu erinnern, was eigentlich geschehen war. Er schaute langsam auf und mit einem Mal setzten sich seine Gedanken wie ein Mosaik zusammen …
Wild gestikulierend und laut wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts trug der Prior seine Anklage dem Abt vor. Den Inhalt des Sermons begriff der Novize kaum. Seine Gedanken kreisten nur noch um den Tatbestand, wessen er beschuldigt wurde. An seiner Seite befand sich Konrad, der ebenfalls kniete. Dessen Gemüt war sichtlich erhitzt und wären seine Hände nicht hinter den Rücken gebunden gewesen, so hätte Walram nicht derart leichtfertig vor ihm auf- und ablaufen können. Konrads Blicke schossen hasserfüllt auf den Prior.
Langsam verblasste vor Faoláns Auge der wütende Mönch. Er vernahm keine Worte mehr, wurde taub für jedes Geräusch. Walram glich einem stumm geifernden Tier, das den mit geschlossenen Augen dasitzenden Abt mit Gesten zu betören versuchte. Auch dieses Bild verschwand langsam vor Faolán und er versuchte sich zu erinnern.
Er sah nur noch sich selbst. Er war allein im Raum und blickte an sich herab. Seine Hände waren noch immer geschwärzt, ebenso sein Habit um den Schoß herum. Die Stelle sah aus, als habe er versucht seine Hände daran zu säubern. Plötzlich wurde er sich auch des feuchten, klebrigen Flecks auf seinem Schoß bewusst.
Diese Feuchte inmitten der schwarzen Spuren brachte die Erinnerung an seine Tat schließlich zurück.
Seit dem Tünchen der Klosterkirche waren einige Tage vergangen, und Faolán musste in Ausübung seiner täglichen Pflichten einen schweren Aschekübel aus der Klosterküche entsorgen. Sein Weg führte ihn an der Rückseite der Kirche vorbei, die strahlend weiß in der Abendsonne leuchtete. Die Last brachte den Novizen schnell außer Atem und er musste sie mehrfach absetzen.
Leise verfluchte Faolán den Bottich. Erschrocken über seinen Ausbruch vergewisserte er sich nach allen Seiten, dass er von niemandem gehört worden war. Gerade als er den Kübel wieder aufnehmen wollte, fiel sein Blick auf die Kirchenwand. Das Streiflicht der tief stehenden Sonne warf merkwürdige Schatten auf das unebene Mauerwerk. Es war ein seltsamer Anblick, wie die Konturen langsam miteinander verschmolzen. Unerwartet formten sie ein Bild, und Faolán glaubte plötzlich, Sveas Gesicht erkennen zu können. Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um dieses Trugbild loszuwerden. Als er sie wieder öffnete, sah er nach wie vor ein Gesicht auf der Wand: Ihr Gesicht!
Wie sehr er Svea vermisste!
Das Abbild wurde immer deutlicher und Faolán war sich sicher: Auf der Wand befand sich Sveas Antlitz, gemalt von der Sonne des göttlichen Firmaments. War es das Bildnis eines Engels, von himmlischer Hand gezeichnet? Diese Vorstellung kam wie ein Rausch über den Novizen.
Faolán wusste nicht mehr, was danach geschehen war. Das Nächste woran er sich erinnern konnte, waren die verkohlten Holzstücke in seinen Händen und die Kirchenwand, auf der er in Schwarz die Gesichtszüge eines Mädchens erblickte.
Erschrocken öffnete er seine Hände, ließ das verbrannte Holz fallen und entdeckte bestürzt seine schwarzen Handflächen. Würde ihn jetzt jemand sehen, wüsste er sofort, wer dieses Bildnis auf die Wand gezeichnet hatte. Sofort wischte er sich die Hände an seinem Habit ab. Dabei streifte er seine erregte Männlichkeit, die er jetzt erst bewusst wahrnahm. Ebenso bemerkte er ein seltsames, hitziges Pulsieren in seinem Unterleib. Entsetzen packte ihn, als er begriff, dass er nicht nur erregt, sondern sein Habit auf merkwürdige Weise feucht war. Eine klebrige Nässe, die ihm fremd war.
Obwohl Faolán keinerlei Erfahrung mit diesen Dingen hatte, so ahnte er aufgrund der Erzählungen einiger Novizen doch die Ursache dieser Feuchtigkeit. Er musste sich nur an das letzte Treffen mit Svea erinnern, schon würde sich das Fleisch zwischen seinen Beinen regen und versteifen, einhergehend mit einem sonderbar starken Verlangen nach ihr. Faolán wusste auch, wie er diesem Verlangen nachgeben könnte. Doch bisher hatte er sich stets beherrscht und noch nie Hand an sich gelegt. Umso entsetzter blickte er jetzt auf den Fleck herab.
Fieberhaft versuchte der Novize seine Gewandung zu säubern, doch seine schmutzigen Hände hinterließen nur zusätzliche schwarze Spuren und verschlimmerten die Lage. Faolán war verzweifelt und obwohl er sicher war, nicht der fleischlichen Lust erlegen zu sein, war das Resultat dennoch das gleiche. Die Sünde hatte sich in seinem Schoß ergossen. Hilfe suchend blickte er auf das Abbild an der Kirchenwand. Svea lächelte ihn an, wie sie es schon oft getan hatte. Oder lachte sie ihn aus? Verhöhnte sie ihn gar?
Noch einmal schaute Faolán sich angsterfüllt um. Niemand außer ihm wusste bisher, was geschehen war. Er musste unbedingt sein Habit wechseln und seine Hände waschen, damit kein Verdacht auf ihn fallen konnte. Die Strafe für dieses Vergehen würde mit Sicherheit noch härter ausfallen als alle jemals erlebten.
Schnell klaubte Faolán die verkohlten Holzreste vom Erdboden und warf sie in den Kübel. Dann überkam ihn die Idee, die Wand mit einem Ärmel zu säubern. Doch statt die Zeichnung zu beseitigen, verwischte er sie nur zu grauen, schmierigen Flecken. Verzweifelt begann der Novize das Abbild an einigen Stellen mit Spucke zu bearbeiten. Das Resultat war am Ende ein entstelltes Gesicht, das in keiner Weise mehr Svea ähnelte. Vielmehr feixte jetzt eine irrwitzige Fratze von der Wand auf ihn nieder, die man kaum noch als das Gesicht eines Mädchens erkennen konnte.
Faolán wusste nicht mehr weiter. Langsam entfernte er sich rückwärts von der Kirche, schüttelte verneinend den Kopf. Das alles konnte einfach nicht wahr sein! Er musste so schnell wie möglich alles unternehmen, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen! Diese Erkenntnis kam allerdings zu spät, denn in diesem Augenblick trat Prior Walram aus einem angrenzenden Gebäude.
Obwohl der Mönch immer auf der Suche nach einer neuen Schandtat Faoláns war, erkannte er die verhängnisvolle Situation nicht auf Anhieb und blickte zunächst nur missbilligend auf den Novizen herab. Als er ihn bereits mit Ignoranz strafen wollte, entdeckte er jedoch das beschmutzte Habit des Jungen. Aufgeregt kam er auf Faolán zu. Dabei sah er auch die besudelte Kirchenwand und den Aschekübel. Der Prior kombinierte in Windeseile.
Nach einem lauten Aufschrei des Entsetzens begann Walram mit einer unglaublichen Härte auf Faolán einzuschlagen, dass der Novize beinahe zu Boden ging. Es schien, als lege der Prior den über Jahre angestauten Hass in diese Hiebe. Sein Atem ging schnell, als sei er erregt, seine Beschimpfungen erklangen laut wie das Fluchen eines Ochsentreibers.
Der Novize konnte sich der Züchtigung nicht entziehen, denn der Aschekübel in seinen Händen fesselte ihn. Er wagte nicht, ihn fallen zu lassen. Unter den harten, schnellen Schlägen ging er langsam in die Knie. Erst dann ließ der Prior von ihm ab.
Faolán rührte sich nicht und wartete zitternd. Plötzlich rief der Prior zwei Namen und mit Entsetzen erkannte der Novize, dass es sich dabei um zwei der engsten Vertrauten des Mönches handelte. Selbstverständlich stimmten diese in Walrams Litanei ein. Der Prior zog den Novizen an einem Ohr empor und inspizierte ihn genauer. Erst jetzt erkannte er, dass auf dem Habit außer dem Schmutz auch noch der Beweis der fleischlichen Unzucht zu sehen war.
In diesem Augenblick begriff Walram, dass er genau das in Händen hielt, wonach er sich so lange gesehnt hatte: Ausreichende Beweise für eine erneute und endlich erfolgreiche Anklage vor dem Abt! Nicht nur wegen der Kirchenwand – nach dem Vorfall am Weiher war dies Faoláns zweite fleischliche Sünde innerhalb kürzester Zeit.
Von diesen Aussichten beflügelt, trieb er den Novizen mit Hilfe seiner beiden Freunde zu den Gemächern des Abtes. Sie drangsalierten den Jüngling mit Schlägen und Stößen, denen er nicht entkommen konnte, weil er noch immer den großen Kübel mit sich schleppte. Das war eine verfluchte Torheit gewesen, denn mit dem schweren Kübel war er langsam. Deswegen bekam er nicht nur mehr Schläge verabreicht als bei einem schnelleren Gang, sondern sie begegneten zudem Konrad, kurz bevor sie beim Abt ankamen.
Wahrscheinlich war es dessen Gewohnheit, Faolán vor Drogo zu schützen, die ihn zum blinden Eingreifen veranlasst hatte. Diesmal allerdings wurde ihm seine Hilfe zum Verhängnis, und war eine ebenso große Torheit wie Faoláns! Ohne Überlegung versuchte Konrad, die Misshandlungen seines Freundes mit dem Einsatz eigener Gewalt zu beenden. So geübt Konrad in dieser Art der Auseinandersetzung auch sein mochte, gegen die drei Männer konnte er nichts ausrichten. Schnell hatten sie den Novizen überwältigt, hielten ihn fest und Prior Walram band ihm die Hände mit einem Lederriemen hinter dem Rücken zusammen. Nun trieben die Mönche gleich zwei ungehorsame Novizen mit traktierenden Schlägen zum Abt. Walrams Triumph konnte kaum größer sein.
Auf dem Steinboden vor dem Abt kniend, konnte Faolán jetzt wieder alles klar vor sich sehen. Seine Torheit war der Grund, weshalb Konrad und er hier waren. Bruder Walram befand sich in Hochform, sprudelte geradezu vor Wortgeist, um die Taten der beiden Freunde möglichst frevelhaft erscheinen zu lassen. Er argumentierte, als ginge es um sein eigenes Seelenheil.
„… befleckt und besudelt doch dieser Novize die Kirchenwand unseres geheiligten Klosters mit einer Fratze, wie sie hohnvoller und gotteslästerlicher nicht sein könnte. Dieses Spottbild verlacht unser Gotteshaus und unsere heilige Gemeinschaft. Befleckt und besudelt ist auch sein Habit! Befleckt durch das Anlegen der eigenen Hand an sein Fleisch! Die Sünde des Onan in unseren Mauern, von einem Novizen, der erst kürzlich einer Dirne anheim gefallen ist und der unzweifelhaft auch die abartige Schmiererei zu verantworten hat! Und als ob das nicht schon genug wäre, fand auch noch der tätliche Angriff durch den wild gewordenen Novizen Konrad auf drei ehrbare Mönche statt.
Das alles kann nur das Werk des Leibhaftigen in unserer Abtei bedeuten. Er hat sich der beiden Novizen bemächtigt. Seht Euch doch die Narbe auf Faoláns Wange an: Sie ist ein Mal! Ein Mal des Teufels – damit ihn Leute seinesgleichen erkennen. Dieses Übel muss unter allen Umständen bekämpft werden! Dem Leibhaftigen muss das Handwerk gelegt werden! Die Werkzeuge des Satans sind auf das Härteste zu bestrafen. Um dem Dämon Einhalt zu gebieten, müssen seine ausführenden Gliedmaßen abgetrennt werden. Nur so wird es Luzifer eine Lehre sein, niemals wieder in unser Kloster einzudringen.“
Prior Walram hatte sich geradezu in Ekstase geredet und wartete, völlig außer Atem, auf eine Reaktion seiner Zuhörer. Abt Degenar und Bruder Ivo wollten die hitzige Stimmung etwas abkühlen lassen und schwiegen zunächst. Nach einer kurzen Pause sprach der Abt schließlich mit gedämpfter Stimme. „Habt Ihr die von Euch bezeichnete Schmiererei selbst gesehen, ehrwürdiger Prior?“
Ungläubig schaute Walram den Abt an. Kopfschüttelnd rang er nach Worten und spuckte sie schließlich verächtlich aus:
„Selbstverständlich habe ich sie mit eigenen Augen gesehen. Glaubt Ihr etwa, ich erliege einem Trugbild oder lege hier falsches Zeugnis ab, ehrwürdiger Abt?“
„Es lag nicht in meiner Absicht, Eure Sinne in Frage zu stellen. Dennoch wünsche ich alle Fakten zu sammeln, bevor ich ein Urteil fälle. Daher werdet Ihr mir noch eine Frage beantworten: Habt Ihr den Beschuldigten mit eigenen Augen bei der Ausübung der Tat beobachtet, ehrwürdiger Prior? Oder Ihr, Bruder Marten und Bruder Albertus?“
Die beiden Vertrauten des Priors waren von der direkten Anrede des Abtes überrascht und schüttelten nur stumm den Kopf. Walram hingegen ließ es sich nicht nehmen, erneut Stellung zu beziehen. „Nein, das habe ich nicht. Doch ich konnte mit eigenen Augen beobachten wie der Novize versuchte, die Schmiererei und das Tatwerkzeug zu beseitigen.“
„Kann es nicht auch möglich sein, dass der beschuldigte Novize, ebenso wie Ihr, eher zufällig auf diese Schmiererei gestoßen ist und lediglich versucht hat, die Schandtat auf der Kirchenwand zu entfernen?“
Degenar wusste, dass seine Argumentation schwach war, doch es war die einzige Möglichkeit die er im Augenblick sah, um Faolán zu entlasten. Prior Walram wusste das genau und schmetterte die Begründung energisch nieder.
„Verzeiht, ehrwürdiger Abt, doch ich bin nicht mit Blindheit geschlagen. Seht selbst die besudelten Hände des Täters, die sogar noch das Werkzeug seiner Tat in einem Kübel bis vor die Tür Eurer Gemächer geschleppt haben. Wenn das nicht Beweis genug ist, so solltet Ihr zumindest das Ergebnis seiner Erregung erkennen, die er während der Verrichtung seines Teufelswerks verspürt haben muss. Richtet Euer Augenmerk auf sein Habit und Ihr werdet die Wahrheit erkennen!“
Walram sprang mit zwei Sätzen auf Faolán zu, zog ihn unsanft an einem Ohr in die Höhe und zerrte ihm die Gewandung gewaltsam vom Leibe. Nackt stand der Jüngling da, während der Prior das schmutzige Habit zu Boden schleuderte. Unverkennbar waren darauf die Spuren von Faoláns Händen und des Ergusses zu sehen.
Der aufgebrachte Walram schritt langsam auf Degenar zu und sprach unbeherrscht mit lauter und hitziger Stimme. „Seht Ihr nicht, wie sich sein Erguss einer Schuld gleich auf seinem Schoß ausgebreitet hat und dort trocknet, wie ein Mahnmal der Unzucht selbst? Seht Ihr nicht seine beschmierten Hände? Seht Ihr nicht die Spuren an seiner Kutte? Sind diese Flecken nicht Beweis genug, um zu zeigen, dass er seine Wolllust mit eigener Hand befriedigt hat? Seht nur genau hin, die Sünde des Onan liegt vor Euch!“
Nachdem Walram die letzten Sätze geschrien hatte, wurde er wieder leise, wirkte dadurch aber noch bedrohlicher als zuvor. „Was benötigt Ihr noch, ehrwürdiger Abt, um die Schuld Eures Novizen zu erkennen? Ich wünschte, es würde sich nicht so verhalten. Ich wünschte, diese Schande hätte sich nicht in unseren Mauern zugetragen. Zu meinem Bedauern muss ich Euch jedoch kundtun, dass der Novize Faolán nicht tadellos ist. Erkennt die Beweise an und handelt, wie es in Eurer Pflicht steht. Bestraft ihn und seinen Komplizen!“
Degenar ließ sich durch die Forderung des Priors nicht drängen und blieb ruhig. Einzig der Kellermeister antwortete. „Das sind keine Beweise, ehrwürdiger Prior, lediglich Vermutungen und Hinweise!“
Es war ein schwacher Gegenpunkt, doch dem Cellerar erging es wie dem Abt: Ihm fiel nichts Besseres ein. Zudem war er von Faoláns Anblick sehr irritiert. Sein Gehilfe war inzwischen wieder auf die Knie gesunken und kauerte nackt und demütig vor ihm. Das änderte aber nichts an den Fakten. Walram hatte letztendlich richtig argumentiert, soviel musste Ivo eingestehen. Dass der Angeklagte der fleischlichen Lust nachgegeben hatte, stand auch für ihn außer Frage.
Überrascht schien der Kellermeister darüber allerdings nicht zu sein. Zumindest verhielt er sich, als sei ein beflecktes Novizenhabit nichts Außergewöhnliches. Welche Gefühle sein Gehilfe wegen des rothaarigen Mädchens durchlebte, war dem beleibten Mönch ja bekannt. Stutzig machte den Kellermeister allerdings, dass der Jüngling seiner Lust in aller Öffentlichkeit nachgegeben haben soll.
Vielleicht war Faolán nur Opfer seines natürlichen Triebes geworden, unfähig, diese Erregung zu unterdrücken oder gar zu beherrschen. Wie jedem Mann war auch dem Cellerar dieses Problem aus seiner Zeit als Jüngling bekannt. An diesem Punkt hoffte Bruder Ivo bei Walram ansetzen zu können.
„Ehrwürdiger Prior, verzeiht mir, wenn ich eine gewagte Vermutung ausspreche, doch sicherlich habt Ihr in jungen Jahren ebenfalls die Qualen der weltlichen Versuchungen erlitten. Wir alle hier wissen doch ganz genau, was es bedeutet, vom Knaben zum Manne zu reifen und welche Versuchungen damit einhergehen. Wir alle haben solche oder ähnliche Erfahrungen wie die hier angeprangerte durchlebt. Oder könnt Ihr das Gegenteil behaupten?“
„Das ist doch nicht der Punkt der Anklage, ehrwürdiger Cellerar, oder wollt Ihr mich jetzt eines Vergehens aus alten Tagen beschuldigen? Zweifelsohne haben wir alle diese Phase der stärksten fleischlichen Versuchung durchlebt. Wenn ich richtig informiert bin, schließt das Euch in besonderem Maße ein, ehrwürdiger Cellerar. Es stellt sich nur die Frage, wie dieser Versuchung in Zukunft begegnet und widerstanden werden kann!“
In diesem Augenblick schritt Abt Degenar ein, dem das Funkeln in Walrams Augen nicht entgangen war.
„Bitte schlagt jetzt keine körperliche Züchtigung vor, wie sie Euch als Novize zuteil wurde. Ihr wisst genau, dass übermäßige Züchtigung zur Austreibung der Lust nicht meiner Auffassung entspricht! Euer altes Kloster mit seinen strengen Regularien ist hier fehl am Platz. Faolán ist ein Mitglied unserer Gemeinschaft und nach unseren Grundsätzen wird seine Tat beurteilt und bestraft werden.“
Walrams Tonfall wurde arrogant.
„Wie Ihr feststellen könnt, hat mir die Züchtigung nicht geschadet. Im Gegenteil! Nicht zuletzt bin ich durch diese strenge Hand erst zu dem gottesfürchtigen Mann geworden, der heute vor Euch steht. Der Schmerz lehrte mich Demut und Genügsamkeit.“
Der Prior senkte sein Haupt in scheinbarer Gefügigkeit, doch Faolán konnte genau sehen, dass die Augen des vermeintlich genügsamen Mönches alles andere als Unterwürfigkeit ausstrahlten. Was er darin sah waren Streitlust, Rache, Gier und Machthunger.
Abt Degenar konnte es jedoch nicht sehen. Gemäßigt sprach er den Prior noch einmal darauf an: „Dennoch obliegt die Auferlegung einer Strafe in einem solch schweren Fall noch immer dem Abt eines Klosters. Und wenn ich mich recht entsinne, habe ich dieses Amt inne, und nicht Ihr, Prior! Für Demut und Genügsamkeit kann auch auf andere Weise gesorgt werden.“
„Gewiss, ehrwürdiger Abt. Verzeiht mir, falls ich anmaßend gewirkt haben sollte. Es lag nicht in meiner Absicht.“
Daraufhin widmete sich der Prior Konrad. Der hatte bisher unbeachtet mit gebundenen Händen kniend gewartet. Wie schon Faolán zuvor, packte Walram auch ihn an einem Ohr und zog ihn empor. Der Schmerz ließ Konrad schnell auf die Beine springen.
„Und wie gedenkt Ihr mit diesem Handlanger des Leibhaftigen zu verfahren? Er ist wie sein Komplize auf das Härteste zu bestrafen. Offensichtlich stand er bei der Schandtat Wache. Dass ich die beiden dennoch überraschen konnte, war eine glückliche Fügung des Herrn, der noch einmal ein Einsehen mit unserer Abtei hatte. Wir sollten diese Gunst des Allmächtigen nicht ignorieren, indem wir bei diesem Novizen falsche Gnade walten lassen.“
„Wenn ich Euch richtig verstehe, so habt Ihr den Novizen Faolán allein bei der Kirche angetroffen. Wie passt es nun zusammen, dass auch dieser Novize daran beteiligt sein soll?“, wollte der Abt wissen. Er missbilligte zwar Konrads Übergriffe, doch er wollte beide Vergehen getrennt beurteilen. Nur so würde er über Konrad eine geringere Strafe verhängen können als über Faolán.
Irritiert von der Frage des Abtes begann Walram erneut Konrads Vergehen zu schildern. „Dieser Novize ist dafür bekannt, dass er stets als Faoláns Handlanger auftritt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war es auch in diesem Fall so. Zu unserem Glück war er nicht wachsam genug und beide Novizen konnten entdeckt und überwältigt werden, trotz gewaltsamer Gegenwehr.“
Faolán konnte nicht mehr an sich halten, als er das vernahm. Dass er für sein Vergehen bestraft werden sollte, das leuchtete ihm ja noch ein. Dass man ihn irrtümlich der Sünde des Onan bezichtigte, war schon schlimm genug. Dass aber auch Konrad für diese Tat zur Verantwortung gezogen werden sollte, das war zu viel. Ohne weiter darüber nachzudenken, richtete er sich auf. „Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge. Konrad lief zufällig …“
Sofort sprang Prior Walram auf Faolán zu. Mit unglaublicher Wucht schlug er dem Novizen ins Gesicht, dass dieser mit einer Platzwunde an der Lippe zu Boden ging. Schwer atmend stand der Mönch über ihm, die Hand drohend zum nächsten Streich erhoben. Faolán blickte benommen auf. Walram glich einem Wolf, der triumphierend und bedrohlich über seiner Beute stand, bereit, seine Fänge in das weiche Fleisch zu schlagen.
„Schweig, du teuflischer Bastard!“, zischte der Prior, sichtlich bemüht die Fassung zu wahren.
„Walram, beherrscht Euch!“
Degenars Ausruf brachte den vor Wut schäumenden Mönch zur Besinnung, und der grenzenlose Zorn wich aus seinen Augen. Er trat zur Seite und entschuldigte sich gleichgültig beim Abt, während Ivo dem Novizen wieder auf die Beine half. Als der Prior das sah, schrie er den Cellerar an:
„Lasst den Sünder gefälligst demütig vor dem Herrn knien. Das ist wohl das Mindeste, was man von ihm verlangen kann!“
Bruder Ivo kam Walram zuvor und gab Faolán mit sanftem Druck auf die Schultern zu verstehen, dass er sich besser fügen solle. Abt Degenar hatte genug gesehen und wollte die Sache beenden.
„Ich denke, dass ich alle Seiten vernommen habe und ein Urteil fällen kann. Hierfür benötige ich allerdings Zeit und Ruhe, denn es will wohl überlegt sein, was mit den beiden Novizen geschehen soll. Ist dem Gesagten abschließend noch etwas hinzuzufügen?“
Der Abt ließ keinen Zweifel daran, dass damit alle entlassen waren, einschließlich der Novizen. Der Prior zögerte dennoch und nutzte die Gelegenheit, um noch einmal sein Anliegen vorzutragen.
„Ich fordere erneut und mit aller Dringlichkeit die härteste Bestrafung für diese beiden Novizen. Für Taten dieses Ausmaßes darf es keine Gnade geben. Ein exemplum muss für alle statuiert werden. Wie diese Strafe aussehen mag, obliegt gewiss Euch, ehrwürdiger Abt. Doch Ihr solltet bedenken, dass ein ehrfürchtiger Novize nicht unbedingt beide Hände benötigt, um dem Herrn zu dienen. Vor allem nicht, wenn sie bereits solch teuflisches Werk verrichtet haben.“
Faoláns Augen weiteten sich mit Schrecken, während Degenar von diesen Ausführungen unbeeindruckt blieb. „Ich danke Euch für Eure Empfehlung, ehrwürdiger Prior, und werde sie in meiner Entscheidung berücksichtigen. Doch jetzt sollten alle wieder ihren Pflichten nachkommen. Der Vorfall hat den Tagesablauf unseres Klosters bereits zur Genüge gestört.“
Ohne weitere Reden ergriff der Prior das befleckte Habit und verließ mit seinen beiden Vertrauten die Räumlichkeiten. Abt Degenar zog sich in seine Bettkammer zurück und so war es an Bruder Ivo, die beiden Angeklagten mit sich zu nehmen. Die Novizen folgten dem schweigsamen Cellerar, der sie auf direktem Wege zum Büßerhaus brachte. Zuerst schloss er Konrad in eine Zelle, dann öffnete er die Tür zu Faoláns Büßerkammer. Bevor er sie wortlos wieder schloss, hielt er noch einmal inne und blickte lange in die Augen seines Gehilfen.
Faolán setzte bereits an, die Geschehnisse ins rechte Licht zu rücken, als der Mönch ihm mit einer knappen Geste Einhalt gebot. Mit ein paar Handzeichen bekundete er, dass er sich um alles kümmern werde. Geduld und Vertrauen formte er zum Schluss mit den Händen, dann fiel die schwere, eisenbeschlagene Holztür zu und wurde von außen verriegelt. Es gab kein Entkommen aus dieser Kammer.
Geduld und Vertrauen, etwas anderes blieb Faolán auch nicht übrig. Er musste dem Wohlwollen des Abtes und dessen Geschick, sich gegen den Prior durchzusetzen, vertrauen. Das würde nicht leicht werden und Faolán war sicher, dass Walram alles unternehmen würde, um die geforderten Strafen gegen Konrad und ihn auch verhängt zu sehen.
Faolán sah sich in der kargen Zelle um. Nichts war in diesem engen Raum vorhanden, außer einem kleinen Loch im Boden, das als Abort diente. Ein schmaler Schlitz in der Außenwand war Fenster und einziger Kontakt nach draußen. Es war so hoch gelegen, dass Faolán sich strecken musste, um das Sims zu erreichen. Lediglich der Himmel war erkennbar und der Novize fragte sich, ob nicht genau das die Absicht des einstigen Baumeisters gewesen war, als er die Büßerzellen erdacht hatte. Ein Gefangener sollte sich wohl der Gnade des Allmächtigen auf diese Weise bewusst werden.
Vorsichtig rief er nach Konrad in der Nachbarzelle. Hoffend lauschte er, vernahm jedoch keine Antwort. Dann versuchte er es noch einmal, etwas lauter. Tatsächlich konnte er diesmal etwas hören, doch die Worte wurden durch die dicken Mauern derart gedämpft, dass er sie nicht verstand.
Plötzlich wurde Faoláns Zellentür geöffnet. Er drehte sich um und sah einen Mönch, der eine Kapuze trug. Der Bruder blieb an der Schwelle stehen, als wage er nicht in die Nähe des Sünders zu kommen. Er stellte einen Krug auf den Boden und legte noch ein Bündel daneben, dann verschloss er die Tür wieder von außen, noch bevor Faolán etwas sagen konnte.
In dem Krug befand sich frisches Wasser, und das Bündel entpuppte sich als Novizenhabit. Der Kellermeister hatte ihn nicht vergessen! Dankbar streifte Faolán das Gewand über und nahm einen Schluck aus dem Krug. Danach blieb ihm nichts weiter zu tun, als sich auf den harten, kalten Steinboden zu setzen und zu warten. Zu warten und zu hoffen.
* * *
Faolán schreckte auf. Die Nacht war hereingebrochen und es war düster in der Zelle. Er hatte geschlafen, trotz des harten Untergrundes. Steif erhob er sich und lauschte. Etwas hatte ihn geweckt. Faolán vernahm ein merkwürdiges Geräusch. Er schaute zum Fenster hoch und sah einen sternenklaren Himmel. Ein Teil des Mondes war in dem kleinen Ausschnitt des Firmaments zu sehen und erhellte die Schwärze der Zelle ein wenig.
Plötzlich flog etwas durch die Fensteröffnung, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag. Neugierig tastete Faolán den Boden ab. Wenige Augenblicke später hielt er einen Apfel in der Hand. Ein zweiter traf ihn im Rücken und Faolán war klar, dass ihn jemand mit Nahrung versorgte! Außer dem Krug mit Wasser hatte man nichts weiter in die Zelle gebracht, nicht einmal ein Stück Brot. Gierig biss Faolán von der Frucht ab und schaute zum Fenster.
„Wer ist da? Wer bist du?“, rief er vorsichtig, sobald er den ersten Bissen geschluckt hatte.
„Wer wird es wohl sein?“, kam die leise Gegenfrage und Faolán erkannte mit großer Freude Erings Stimme. Doch sogleich verspürte er eine neue Angst in sich aufsteigen. Angst, auch diesen Freund in seine Angelegenheit hineinzuziehen und in Schwierigkeiten zu bringen.
„Ering, bist du wahnsinnig? Wenn dich jemand entdeckt, steckt man dich ebenfalls in eine Zelle! Es ist besser, wenn du wieder gehst.“
Doch Ering blieb. Seine Stimme klang ruhig und alles andere als besorgt.
„Keine Angst, es ist alles organisiert. Glaubst du, ich hätte Bruder Ivo bestohlen, um euch beide zu verköstigen? Du solltest mich besser kennen, Faolán. Nein, Bruder Ivo passt in der Nähe des Dormitoriums auf, dass mir niemand folgt. Wir haben also etwas Zeit, und du kannst mir genau berichten, was geschehen ist. Wilde Gerüchte über eine frevelhafte Tat haben sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Ein Abbild des Leibhaftigen sollst du auf die Kirchenwand gemalt haben.“
Faolán stöhnte leise. Er hatte befürchtet, dass Prior Walram solche Gerüchte in die Welt setzen würde. Allerdings hörte es sich jetzt schlimmer an, als er es sich ausgemalt hatte. Mit ein paar Sätzen schilderte er seinem Freund den Ablauf der Dinge. Ering berichtete dann ausführlich, dass Walram eine außerordentliche Sitzung im Kapitelsaal einberufen und dort sehr energisch die teuflischen Taten der Novizen geschildert hatte. Um die Mitbrüder dauerhaft zu beeindrucken, hatte der Prior im Anschluss Faoláns beflecktes Habit bei Abenddämmerung im Klosterhof verbrannt. Die Asche dieses reinigenden Feuers, wie Walram es genannt hatte, müsse solange liegen bleiben, bis sie von den Winden des Himmels davongetragen werde.
„Als dein Habit in Flammen aufging, zeigte Walram dramatisch auf den Himmel und behauptete, er würde deiner Taten wegen die Farben der Hölle annehmen. Dabei war es nichts weiter als ein gewöhnliches Abendrot. Einige Brüder werden allerdings die Darstellung des Priors vorziehen und seine Sache unterstützen. Die ersten Stimmen fordern inzwischen laut, die vom Prior vorgeschlagene Bestrafungen zu verhängen.“
„Hat sich Abt Degenar bereits geäußert?“
„Natürlich hat er das. Doch seine Position ist äußerst schwach. Er darf dich in dieser Angelegenheit nicht bevorzugen, sonst könnte sich Walram auch noch gegen ihn wenden.“
„Hast du eine Ahnung, wie lange wir auf ein Urteil warten müssen?“
„Mit Sicherheit wird es noch einige Tage dauern. Möglicherweise versucht der Abt das Verfahren in die Länge zu ziehen, um die vom Prior entfachte Hitze in den Köpfen der Mitbrüder abkühlen zu lassen. Mit der Zeit werden hoffentlich einige von der Hetze abfallen und wieder gleichgültig werden. Dann könnten auch die Strafen milder ausfallen.“
„Andererseits könnte der Prior aber auch weiterhin für erhitzte Gemüter sorgen, um die Lage zu verschlimmern“, antwortete Faolán skeptisch. „Er hat bestimmt schon seine nächsten Schritte gegen uns geplant.“ Faolán stellte sich eine fehlende Hand vor, und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Ering brachte ihn wieder auf andere Gedanken. „Leider können wir nur abwarten. Es gibt keine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Der Einzige, der etwas ausrichten kann, ist der Abt selbst. Und der allmächtige Vater!“
Faolán wusste, dass sein Freund Recht hatte. Nachdem sich Ering verabschiedet hatte, wurde es still unter dem Fenster der Büßerzelle. Faolán war wieder allein und er würde es sicher auch noch für einige Zeit bleiben.
* * *
Die Lage entwickelte sich, wie Ering es vermutet hatte. Die Entscheidung des Abtes ließ mehrere Tage auf sich warten. Beinahe täglich erhielt Faolán von Ering Berichte über die heftigen Diskussionen zwischen Walram und Degenar. Zu seiner Erleichterung hatte der Abt eine Verstümmelung von Faoláns Hand abgelehnt.
Walrams nächster Vorschlag, die beiden Novizen auf eine lange und entbehrungsreiche Pilgerfahrt zu schicken, stellte für den Abt ebenfalls keine akzeptable Buße dar. Ein solches Unternehmen barg zahlreiche Gefahren und dauerte, sofern man es überhaupt überleben sollte, meist mehrere Jahre. Der Prior blieb jedoch hartnäckig. Auf die eine oder andere Weise schien er Faolán zu Tode kommen lassen zu wollen. Diese Absicht war für den Novizen unerklärlich. Was hatte er dem Prior angetan, dass der ihn dermaßen hasste?
Diese Gedanken quälten Faolán Tag für Tag. Eines Nachts berichtete Ering, dass Bruder Ivo zum Markt gefahren war. Allein, denn der Cellerar hatte noch keinen Ersatz für seinen bisherigen Gehilfen gefunden. Faolán hoffte auf eine Nachricht von Svea, doch von ihr hatte Ering keine Neuigkeiten.
Es wurde für Faolán immer unerträglicher, untätig in der kargen Zelle sitzen zu müssen. Er war jeder Möglichkeit beraubt, seinem Leben nachzugehen und seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Mit jedem Tag verabscheute er es mehr, auf die Gunst anderer angewiesen zu sein und hoffen zu müssen, dass sie in seinem Sinne entscheiden würden.
* * *
Brandolfs Auftrag war dringlich. Er hatte eigentlich keine Zeit, sich um dieses Kloster zu kümmern, zumal es direkt dem Grafen unterstand. Rurik hatte außerdem bestimmt schon beim hiesigen Abt im Namen des Kaisers um Mittel für die Verstärkung der Truppen gebeten. Der Kampf gegen König Berengar II. in Italien war aufreibender als anfangs geglaubt.
Dennoch wollte er mit diesem Bittgesuch vorstellig werden, denn es war lediglich ein Vorwand. Wie sein Vater zu Lebzeiten, suchte auch Brandolf noch immer nach dem verschollenen Erben der Grafschaft. Er hatte einst dem sterbenden Grafen Farold einen Eid geleistet, dem er sich nach wie vor verpflichtet fühlte. Und er hatte das Wort des Kaisers, dass dem rechtmäßigen Erben die Grafschaft zugesprochen würde, sollte er gefunden und Ruriks Machenschaften nachgewiesen werden. Es gab außer den Belangen des Kaisers nichts, was Brandolf stärker beschäftigte, als Rurik das Handwerk zu legen. Deshalb führte er die Suche nach Rogar schon seit Jahren rastlos fort.
Der Krieger hatte bereits viele Siedlungen, Städte und Abteien auf seinen weiten Reisen besucht und nach Rogar gefragt, bisher jedoch nicht einen einzigen Hinweis erhalten. In diesem Benediktinerkloster, nahe Neustatt, war er allerdings noch nicht gewesen. Wegen der Nähe zur Greifburg, hielt es Brandolf für unwahrscheinlich, dass Rogar hier versteckt sein könnte, ohne bereits in die Fänge des Grafen geraten zu sein. War hier nicht Ruriks Einfluss viel zu groß? Besuchte er die Abtei nicht hin und wieder? Dennoch hatte Brandolf entschieden, den Abt um eine kurze Unterredung zu bitten und damit nichts unversucht zu lassen.
Mit drei getreuen Kriegern ritt Brandolf durch das offene Tor auf den großen Hof der Abtei. Zu seiner Überraschung traf er dort auf keine Menschenseele, nicht einmal einen Torhüter. Alles war still und es schien, als habe man das Kloster erst kürzlich aufgegeben. Brandolf wies seine Männer an, bei den Pferden zu bleiben, stieg ab und ging auf das erste Gebäude zu.
Die Tür war verschlossen und so versuchte er es bei der nächsten. Auch diese gab nicht nach. Brandolf folgte einigen Gassen zwischen den Klosterbauten hindurch und klopfte an Türen, doch nirgends war ein Angehöriger der Gemeinschaft anzutreffen. Er hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, als er die Tür zu den Gemächern eines Amtsinhabers öffnete und darin zu seiner Überraschung einen Mönch vorfand.
„Entschuldigt mein Eindringen. Ich bin Edelherr Brandolf, im Auftrag des Kaisers unterwegs, und bitte um eine Unterredung mit Eurem Abt.“
Der Mönch betrachtete den staubigen Krieger vom Scheitel bis zur Sohle. Es war ein abschätzender Blick aus dem Brandolf nicht lesen konnte, was sein Gegenüber dachte. Der Mönch war in ein derart dunkles Habit gekleidet, dass es beinahe schwarz wirkte. Als er sprach, klang seine Stimme klar und deutlich mit einem Hang zur Arroganz. „Das ist leider nicht möglich.“
„Aber es betrifft eine wichtige Mission.“
„Vielleicht kann ich Euch weiterhelfen. Wie lautet Euer Auftrag?“
„Der Kaiser ersucht um Verstärkung seiner Truppen im Kampf gegen die aufsässigen Langobarden. Während des heißen Sommers sind in den Lagern Seuchen ausgebrochen, die viele Recken dahingerafft haben.“
„Weshalb seid Ihr dann nicht dort und kämpft für ihn?“
„Das habe ich bis vor wenigen Wochen getan. Doch die Lage wendete sich zum Schlechten. Als sein Gesandter komme ich mit der Bitte um Unterstützung.“
„Ihr werdet mit leeren Händen zurückkehren müssen, denn diese Abtei unterliegt direkt dem Grafen Rurik. Ihm haben wir bereits Beistand zugesagt, denn auch er kam vor einigen Tagen mit der gleichen Bitte zu uns. Mehr kann Kaiser Otto nicht von uns erwarten.“
Der Mönch wandte sich wieder ab und glaubte wohl, dass der Adelige damit zufrieden sei und die Räumlichkeiten wieder verlassen würde, doch das Gegenteil war der Fall. „Verzeiht, ehrwürdiger Bruder, doch das ist nicht mein einziges Anliegen, weshalb ich mit dem Abt sprechen möchte.“
Entnervt wandte sich der Mönch noch einmal um. „Ich habe Euch doch schon gesagt, dass der Abt Euch nicht empfangen wird. Geht endlich oder vertraut mir Euer Begehren an.“
Brandolf wusste nicht, ob er diesem Mann vertrauen konnte, doch er schien keine andere Wahl zu haben. „Wie lautet Euer Name?“
„Ich bin Prior Walram, Stellvertreter des Abtes. Wenn Ihr also mit mir nicht Vorlieb nehmen wollt, so rate ich Euch, endlich zu verschwinden. Ich habe keine Zeit für sinnloses Geschwätz.“
Plötzlich erklang eine Kirchenglocke. Angespannt schaute der Prior aus dem Fenster, als müsse er dem Ruf augenblicklich folgen. Seine Worte klangen jetzt harsch: „Entscheidet Euch endlich. Sprecht oder geht!“
Faolán hatte vor langem aufgehört, die Tage in der Büßerzelle zu zählen. Sein Fristen wurde einzig von Erings Besuchen und dem Bringen eines Wasserkruges unterbrochen. Heute allerdings regte sich etwas vor seiner Zelle, obwohl er bereits einen Krug frischen Wassers erhalten hatte.
Die schwere Holztür wurde entriegelt und noch bevor sie sich ganz geöffnet hatte, erklang plötzlich die große Kirchenglocke, als rufe sie zum Gebet. Faolán begriff sofort, dass sie zu einer außerordentlichen Kapitelsitzung rief. Es war an der Zeit, ein Urteil über die Sünder zu sprechen.
Als der Cellerar den kargen Raum betrat, überkam Faolán ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Am liebsten wäre er dem beleibten Mönch um den Hals gefallen. Bruder Ivo zögerte anfänglich, vermied direkten Blickkontakt und sprach mit gesenkter Stimme. „Es ist soweit. Warte vor der Zelle.“
Faolán trat vor die Tür und wartete. Konrad verließ ebenfalls seine Büßerkammer. Die Blicke der beiden Freunde trafen sich nur kurz, doch Faolán erkannte Hilflosigkeit und Furcht in Konrads Augen. Dann folgten sie dem Kellermeister, der die Sünder durch das Kloster führte. Es war ein trauriger Marsch ins Ungewisse. Keine Menschenseele war zu sehen, die Abtei schien wie ausgestorben. Nicht nur der Kellermeister schwieg – die gesamte Bruderschaft war verstummt. Sogar die Vögel schienen das Kloster verlassen zu haben und der Wind hatte sich gelegt, so dass noch nicht einmal das Laub der Bäume raschelte. Einzig die Kirchenglocke war laut und weithin zu hören, als wolle sie die Vergehen der Novizen sowohl auf Erden wie auch im Himmel verkünden.
Brandolf zögerte noch immer, verließ die Gemächer des Priors aber nicht. Walram war angespannt. Das Läuten der Glocke wurde leiser und der Prior blickte nervös immer wieder aus dem Fenster.
Aus den Augenwinkeln bemerkte der Krieger, dass drei Personen am Fenster vorüber gingen. Der Mönch sah es ebenfalls und machte einen ungeduldigen Schritt auf die Tür zu. „Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Euch. Geht jetzt oder sprecht geschwind!“
„Was ich zu sagen habe, ist nicht mit zwei Sätzen erläutert.“
„Einen endlosen Sermon kann ich mir jetzt nicht anhören.“
„Wenn Ihr gestattet, ehrwürdiger Prior, so werde ich in Euren Gemächern auf Euch warten, bis Ihr mehr Zeit für mich habt.“
Walram schien in Gedanken nicht mehr bei Brandolf zu sein. Als habe er nur zum Teil verstanden, was der Edelherr von ihm wollte, nickte er leicht mit dem Kopf und gestattete die Anfrage, als wäre sie von keinerlei Bedeutung.
„Ja, ja, wie Ihr wünscht.“ Sein Blick folgte allerdings den drei Personen, die soeben vorüber gegangen waren.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, kam Walram wieder zur Besinnung und sprach den Krieger an: „Wartet hier und rührt Euch nicht von der Stelle. Weiß außer mir sonst noch jemand von Eurer Ankunft?“
„Nein.“
„Gut! Ich werde bald zurück sein, dann kann ich Euch möglicherweise weiterhelfen.“
Brandolf willigte ein und ließ sich auf einem Schemel nieder, während der Prior den Raum verließ. Der Ritter blickte ihm nach. Er konnte sich das sonderbare Verhalten des Mönches nicht erklären. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Dieser Prior schien intelligent zu sein und Macht zu besitzen, die er sicherlich auch zu nutzen wusste. Jeder, der ihn zum Feind hatte, war zu bedauern. Brandolf hoffte, dass der Mönch ihn nicht als lästigen Störenfried ansah, sondern ihm bald einige nützliche Informationen würde geben können.
Der Cellerar führte die beiden Sünder bis vor den Kapitelsaal, dessen zweiflügliges Portal weit offen stand. Der Saal selbst war menschenleer. Bruder Ivo gebot den Novizen sich zu entkleiden und in Büßerhaltung auf den Boden zu legen. Sie folgten der Anweisung und legten sich stumm hintereinander auf den Steinboden des Arkadenganges, unmittelbar vor das Portal, mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Beinen, einem Kreuz gleich. Ihre Gesichter hielten sie zu Boden gerichtet, sodass sie nichts weiter sehen konnten. Gebannt lauschten sie in die Stille des Klosters.
Einige Zeit verharrten die Sünder in dieser Haltung und Faolán begann der Rücken zu schmerzen. Doch er wagte nicht, sich zu bewegen. Dann vernahm er die leisen Schritte vieler Personen, die sich dem Saal näherten. Es war die Bruderschaft. Um den Saal betreten zu können, mussten sie an den Sündern vorbei. Doch es war kein einfaches Vorübergehen: Jeder Bruder verpasste den Novizen einen Streich mit einer Rute. Viele der Schläge wurden nur angedeutet und Faolán hoffte, es würde bei diesem symbolischen Akt bleiben. Etwas anderes bewies ihm ein heftiger Streich, der ihm Tränen in die Augen trieb. Der Novize musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Er hatte zwar nicht sehen können, wer ihn derart geschlagen hatte, doch er wusste genau, dass der Hass in diesem Streich nur von Walram kommen konnte. Ähnlich hart schlugen auch die Anhänger des Priors zu. Sie nutzten die Gelegenheit, den Büßern vor allen Augen eine harte Bestrafung und Demütigung zuteil werden zu lassen.
Nachdem die Bruderschaft vorbeigezogen war, waren die Rücken der Sünder wund und blutend. Die Pforte zum Kapitelsaal schloss sich langsam mit einem dumpfen Geräusch. Stille kehrte im Arkadengang ein. Niemand hatte die beiden Novizen aufgefordert, sich zu erheben oder gar an der Sitzung teilzunehmen. Ihre Taten waren zwar der Grund für die Zusammenkunft, sie selbst waren jedoch Ausgeschlossene.
Faolán blieb demütig und regungslos liegen. Konrad hingegen wurde unruhig. In ihm kam der waghalsige Gedanke auf, einfach aufzustehen und davon zu laufen. Wer hätte ihn daran hindern sollen? Die gesamte Bruderschaft befand sich im Kapitelsaal, um über ihn und Faolán zu richten. Doch es war letztlich nicht Gehorsam oder Ehrfurcht vor den Mönchen, die ihn davon abhielten, sondern der Gedanke an Faolán. Konrad wusste, dass sein Freund ihm bei einer Flucht nicht folgen würde und er wollte ihn unter keinen Umständen allein im Kloster zurücklassen.
So blieben die beiden Sünder vor dem Portal liegen. Faolán versuchte geduldig zu bleiben und die Hoffnung auf ein Wunder, auf Gnade, nicht zu verlieren. Die Wunden auf seinem Rücken erinnerten ihn aber an Walrams Hartnäckigkeit. Je länger die Sitzung dauerte, umso mutloser wurde er.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Tür des Saales wieder öffnete. Erneut folgte ein Vorüberziehen der Mönche mit mehr oder minder heftigen Hieben. Diesmal fehlte allerdings der hasserfüllte Streich des Priors. Er war im Saal geblieben, gemeinsam mit dem Abt und dem Cellerar.
Nachdem sich die Bruderschaft entfernt hatte, kam Bruder Ivo auf die Sünder zu und beorderte sie in den Kapitelsaal. Dort mussten sie erneut vor dem Altar die Büßerhaltung einnehmen, und bildeten das fleischliche Pendant zum Abbild des Gekreuzigten an der Wand über ihnen.
Der Abt ergriff das Wort, leise und beinahe schon erschüttert. Er sprach niemanden an, sondern verkündete die Neuigkeiten in den Raum hinein, als wolle er den himmlischen Heerscharen berichten.
„Soeben hat unsere heilige Gemeinschaft geurteilt, dass die Novizen Faolán und Konrad der hinreichend bekannten Taten schuldig sind. Nach zahlreichen Debatten über das Ausmaß der zu verhängenden Strafen wurde folgendes festgelegt: Die beiden Sünder sind nicht mehr länger Mitglieder unserer Abtei. Ihr Ausschluss aus der Gemeinschaft …“, dem Abt fiel es jetzt besonders schwer zu sprechen, „… erfolgt mit dem Antritt einer weiteren Strafe.“
Als Faolán das vernahm, stockte ihm der Atem und sein Herz wollte stehen bleiben. Aus der Abtei ausgeschlossen zu sein, die er seit so vielen Jahren sein Zuhause nannte, in der er nahezu sein ganzes Leben verbracht hatte, war für ihn unvorstellbar. Das durfte nicht sein! Als habe der Abt die Gedanken des Novizen erraten, sprach er weiter: „Dennoch werden die Sünder nicht in das weltliche Chaos entlassen, in dem sie haltlos allem Schlechten ausgeliefert wären, sondern erhalten noch eine Gelegenheit, sich vor dem Herrn zu beweisen. Hierfür müssen sie uneingeschränkte Reue zeigen und werden zu diesem Zweck in die Obhut einer anderen Abtei übergeben.“
Faolán traute seinen Ohren nicht. Eine Verbannung in ein anderes Kloster! Das war völlig unmöglich und schon gar nicht mit seinen Plänen vereinbar. In erster Linie bedeutete es, dass es dadurch weder Marktgänge noch weitere Treffen mit Svea geben würde. ‚Mächtiger als Drogo, hörte er Sveas warnende Worte noch einmal. Mächtig genug, um sein Leben mit nur einem einzigen Streich zunichte zu machen. Es war Walrams drohender Schatten, den sie damals mittels ihrer Gabe gesehen hatte. Faoláns Innerstes sträubte sich gegen dieses Urteil. Trotz all seiner Verzweiflung wollte er dieser hoffnungslosen Zukunft die Stirn bieten. Er richtete sich leicht auf und begann in all seiner Torheit zu sprechen, obwohl es ihm verboten war: „Nein, ehrwürdiger Abt! Das darf nicht die Strafe für eine Tat sein, auf die ich keinen …“
„Schweig, du teuflische Ausgeburt!“ Prior Walram trat sofort an Faoláns Seite und zwang den Novizen mit ein paar schnellen Hieben wieder zu Boden, noch bevor der Abt oder der Cellerar einschreiten konnten. Faolán blieb regungslos mit zusammengebissenen Zähnen liegen. Tränen der Enttäuschung und der Wut, des Schmerzes und der Hilflosigkeit, fielen auf den Steinboden. Er war verloren! Und mit ihm Konrad!
Walram nutzte Faoláns Aufbegehren für sich, geiferte regelrecht vor Aufregung. „Seht, ehrwürdiger Abt, sein aufsässiges Gemüt ist nur durch harte Züchtigung zu brechen. Daher bin ich der festen Überzeugung, dass Ihr in all Eurer Güte, Weisheit und Weitsicht damit einverstanden sein werdet, wenn ich das Kloster auswähle, das sich der beiden Novizen annehmen soll.“
Degenar hatte bei der Urteilsfindung Walram bereits viele Zugeständnisse abgerungen. Jetzt war es an ihm, ebenfalls ein Zugeständnis zu machen, und so ließ er den Prior mit einem zustimmenden Nicken gewähren.
„Ich empfehle, die beiden Novizen in mein altes Kloster zu bringen, das nach den Grundsätzen des heiligen Columban geleitet wird. Ich selbst habe die dortige Erziehung genossen. Dort kennt man einen erfolgreichen Weg, um teuflischen Einflüssen entgegen zu wirken. Bußfertig und gottesfürchtig werden sie dort fortan ihr Leben bestreiten. Wenn sie sich bemühen, so mag vielleicht sogar der Herr eines Tages wieder Freude und Gefallen an ihnen und ihrem Dienst finden.“
An der versteinerten Miene des Abtes war dessen innerer Kampf abzulesen.
Zu spät erkannte er seinen Fehler, Walram bei der Wahl des Verbannungsortes freie Hand gelassen zu haben. Doch er konnte seine Zusage nicht rückgängig machen. Nach einer Weile beendete Degenar das nachdenkliche Schweigen. Seine Stimme klang kraftlos und erschöpft, als habe er soeben eine Niederlage erlitten. „So sei es!“
Daraufhin verließen Abt und Prior den Saal, der eine niedergeschlagen, der andere triumphierend. Bruder Ivo blieb, um die Novizen zurückzubringen. Wortlos streiften die Sünder grob gewobene, wollene Büßergewänder über, welche ihnen der Cellerar reichte. Danach folgten sie dem Mönch durch das Kloster, zurück zu ihren Zellen.
Sichtlich zufrieden betrat Walram wieder seine Gemächer. Er hatte vergessen, dass dort der Edelherr auf ihn wartete und war überrascht, ihn noch anzutreffen. Brandolf erhob sich und sprach den Mönch sogleich an. „Ehrwürdiger Prior, ich bin in Eile. Wenn Ihr jetzt ein wenig Zeit aufbringen könntet, um Euch mein Anliegen anzuhören, wäre ich Euch sehr dankbar.“
Bester Laune machte Walram eine gleichgültige und großzügig wirkende Handbewegung. „Wenn es Euch weiterhilft …“
„Ich bin auf der Suche nach einem Jungen. Er ist im Sommer vor sieben Jahren verschwunden. Er dürfte jetzt etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Habt Ihr in Eurer Abtei zu jener Zeit vielleicht ein Waisenkind mit besagtem Alter aufgenommen?“
Walram hatte zunächst nur halbherzig zugehört, doch mit jedem Wort richtete er seine Aufmerksamkeit immer mehr auf den Krieger. Als Brandolf endete, war der Prior angespannt, wie eine Katze vor dem Sprung. „Wie heißt der Knabe und welcher Familie entstammt er?“
Das Funkeln in den Augen des Priors ließ Brandolf vorsichtig werden. „Das kann ich Euch nicht sagen, ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet.“
„Aus welchem Grund sucht Ihr ihn?“
„Ich habe geschworen, mich um den Jungen zu kümmern.“
„Und Ihr könnt diesem Eid nicht gerecht werden?“
„Ohne den Knaben wohl kaum. Habt Ihr einen Novizen in Eurer Abtei, der meiner Beschreibung entspricht?“
„Ich benötige weitere Einzelheiten, um Euch eine Antwort geben zu können. Seht Ihr denn keine Möglichkeit, mehr zu berichten?“
„Jedes weitere Wort an falscher Stelle könnte den Jungen in Gefahr bringen.“
„Traut Ihr mir nicht?“
Brandolf gefiel die Frage nicht. Unverhohlen schaute er dem Prior in die Augen: „Es gibt nur wenige, die mein Vertrauen genießen!“
Walram schien damit nicht zufrieden zu sein, nickte aber schließlich und fuhr fort: „Ich hoffe, Ihr vertraut dem Herrn! Um Eure Frage zu beantworten: Es gab in der Tat einen Knaben in unserem Kloster, der in besagtem Sommer bei uns aufgenommen wurde. Um genau zu sein sogar drei, doch nur einer von ihnen ist ein Waisenknabe. Die Gemeinschaft gab ihm den Namen Faolán. Sein richtiger Name scheint niemandem bekannt zu sein. Bedauerlicherweise muss ich Euch mitteilen, dass dieser Novize nicht mehr Mitglied unserer Gemeinschaft ist. Insofern ist Eure Suche nach ihm bei uns hoffnungslos.“
Brandolf dachte fieberhaft nach. „Wo ist der Junge jetzt?“
„Weshalb glaubt Ihr, könnte ich das wissen?“
„Wann hat er die Bruderschaft verlassen?“
„Vor einigen Tagen hat er eine sträfliche Tat begangen. Daraufhin wurde er aus der Bruderschaft verbannt.“
„Vor einigen Tagen erst? Welchen Weg ist er gegangen?“
Prior Walram schwieg. Brandolf wusste nicht, ob der Mönch keine Kenntnis darüber hatte oder es einfach nicht preisgeben wollte. Doch er spürte, dass er Rogar dicht auf der Fährte war. Der Prior hatte mit seinen Andeutungen mehr gesagt, als er es wahrscheinlich beabsichtigt hatte. „Ich danke Euch für Eure Offenheit, Prior. Es ist Zeit, zu gehen.“
„Ich werde Euch nicht aufhalten. Möge der Herr Euch auf Eurer Reise beschützen und Eure Mission mit Erfolg segnen.“
„Habt Dank.“ Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete sich der Edelherr und verließ die Gemächer des Mönches. Dabei bemerkte er das hämische Grinsen des Priors nicht, der schnell die Tür hinter ihm schloss.
Nachdenklich lenkte Brandolf seine Schritte durch die Gassen des Klosters. Er wollte gerade den Hof betreten, als er in einem Seitenweg drei Gestalten wahrnahm. Er hielt inne und schaute genauer hin. In einiger Entfernung ging ein beleibter Mönch. Ihm folgten zwei Jünglinge, gebeugt wie von einer schweren, unsichtbaren Last. Sie waren unverkennbar in schlichte Büßergewänder gekleidet.
Brandolf zog es für einen kurzen Augenblick in Erwägung, die drei aufzuhalten und den Mönch nach diesem Faolán zu befragen. Vielleicht stand das Vergehen dieser beiden Sünder ja im Zusammenhang mit dem Ausschluss des besagten Novizen. Doch wenn selbst der Prior nicht wusste, wo sich Rogar aufhielt, weshalb sollte es ausgerechnet dieser Mönch wissen? Zudem würde dieser Faolán, sollte er der gesuchte Rogar sein, sich längst irgendwo außerhalb der Abtei durchschlagen. Womöglich in einer nahegelegenen Stadt. Der Krieger verwarf den Gedanken, den beleibten Mönch zu befragen und eilte zu seinem Pferd. Er durfte jetzt keine Zeit vergeuden. Am besten wäre es, nach Neustatt zu reiten und dort nach dem Jungen zu suchen.
Zurück bei seinen Getreuen saß Brandolf auf und spornte sein Ross an. Im Galopp stoben die vier Reiter aus dem Tor des Klosters.
Das rothaarige Mädchen, das sich im nahen Unterholz des Wegesrandes verborgen hielt, fiel ihnen dabei nicht auf. Nachdem die Reiter vorbeigeprescht waren und der Staub sich wieder gelegt hatte, spähte es vorsichtig aus dem Gebüsch. Svea beobachtete das Tor der Abtei mit Neugier und Sehnsucht. Sie kam schon seit einigen Tagen immer wieder in der Hoffnung hierher, etwas über Faolán in Erfahrung zu bringen. Seit ihrem letzten Treffen spürte sie, dass er in großen Schwierigkeiten steckte. Heute war dieses Gefühl besonders stark. Eine merkwürdige Stille lag über der Abtei, die Svea Angst machte. Doch so gerne sie etwas unternommen hätte, ihr waren die Hände gebunden. Sie durfte das Klostertor nicht durchschreiten, mochte es noch so weit offen stehen. Trotz all ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten war Svea nicht in der Lage, Faolán zu helfen, ihn zu retten. Nüchtern betrachtete sie ihre machtlosen Hände. In ihren traurigen Augen spiegelten sich Hilflosigkeit und Gewissheit wider. Die Gewissheit, dass ihre Sehnsucht nicht mehr gestillt werden würde. Eine abgrundtiefe Verzweiflung überkam sie und nahm ihr jegliche Kraft und jede Hoffnung.
Noch einmal schaute Svea zu der Abtei hinüber. Dann senkte sie ihren Blick und begann sich langsam in das Unterholz zurück zuziehen …
ENDE TEIL 1