Читать книгу Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle - Holger Weinbach - Страница 17
ОглавлениеAnno 962 – Neue Gedanken
Der Wagen bahnte sich wieder polternd seinen Weg über die alte, staubige Straße. Das dichte Grün des Waldes zog an Faolán vorüber, ohne dass er es wahrnahm. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie lange sie schon unterwegs waren.
Faolán saß schon eine ganze Weile nachdenklich da, als der Cellerar das Schweigen brach und ihn mit einem Wortschwall in die Wirklichkeit zurückholte. Erst nach einem Augenblick der Orientierung gelang es dem Novizen, seine Konzentration auf den Mönch zu lenken und den Sinngehalt der Worte zu begreifen.
„… auch einen Schluck dieses wunderbar kühlen Wassers kosten? Ich hoffe nicht, dass du es einzig für mich geholt hast! Eine Erfrischung täte dir gut. Du siehst erschöpft aus.“
Faolán nickte beiläufig und trank ein wenig. Als sich das Wasser in seinen Mund ergoss wurde ihm klar, dass seine Gedanken die ganze Zeit um die Ereignisse am Tümpel gekreist hatten. Er war ratlos, wie ihn eine so simple Angelegenheit wie das Gespräch mit dem Mädchen derart ins Grübeln bringen konnte, und er fragte sich, ob er einer dieser gefürchteten Verlockungen der Außenwelt erlegen war.
Vor allem beschäftigte ihn der Inhalt des Gesprächs und die Art und Weise, wie Svea ihre Worte formuliert hatte. Seine Vorstellung, sie sei nur ein armes Mädchen, unwissend und hungrig, hatte sie damit zunichte gemacht. Svea war in Wirklichkeit wortgewandter als so mancher Novize und schien sich zudem in der Bibel auszukennen. Beides war ungewöhnlich für ein Mädchen.
Plötzlich fiel Faolán der Apfel wieder ein. Er hatte ihn heimlich in einer aufgegangenen Naht seines Ärmelsaumes verschwinden lassen, als Bruder Ivo auf der Lichtung erschienen war. Mit Erleichterung stellte er fest, dass sich die Frucht dort noch immer befand. Als sei dieser schon ein wenig vergammelte Apfel etwas Kostbares, dachte er nicht im Entferntesten daran, ihn zu den anderen zurück zu legen oder ihn gar zu essen. Die Idee, dem Cellerar von dem Apfel zu berichten, tat er sofort ab. Weshalb er daraus ein solches Geheimnis machte, war ihm selbst schleierhaft und unweigerlich dachte Faolán an die verbotene Frucht im Garten Eden, den Apfel vom Baum der Erkenntnis. War dieser Apfel von Svea auch eine verbotene Frucht, ein Symbol der Versuchungen? Oder wollte Gott ihn auf die Probe stellen?
Nach einer Weile stellte Faolán eine Frage, die ihn selbst überraschte: „Meister, weshalb leben in unserem Kloster keine Frauen?“
Bruder Ivo, der gerade aus dem Wasserschlauch trank, verschluckte sich und rang prustend und hustend nach Luft. Als er wieder sprechen konnte, fiel ihm nichts Besseres ein, als die Frage zu wiederholen. „Weshalb in unserem Kloster keine Frauen leben?“
„Ja, warum nicht?“
„Nun ja … ist das nicht offensichtlich? Nein, wohl nicht. Sonst würdest du diese Frage ja nicht stellen … Nun ja, ich weiß nicht, es war einfach schon seit jeher so.“ Das war eine äußerst unbefriedigende Antwort. Ivo war sich dessen bewusst und suchte schnell nach einer besseren Erklärung. „Eine Bruderschaft mit Mönchen ist eine Gemeinschaft, die jener der zwölf Apostel gleichzukommen sucht. Auch wir versuchen dem Leben Jesu und dem seiner Jünger nachzueifern. Nur so können wir dem Herrn uneingeschränkt dienen. Jesus hat keine Frau in seinen erlesenen Kreis aufgenommen und sich selbst auch niemals einem Weib verschrieben. Deshalb leben auch wir Mönche in einer Gemeinschaft ohne Frauen. Sie ist für uns der beste Schutz, um gegen die Versuchungen der Welt zu bestehen. Deshalb wirst du im Kloster nur zu besonderen Anlässen einem Weib begegnen.“
„Aber es gibt doch auch Nonnenabteien!“, stellte Faolán fest, der in der Erklärung des Kellermeisters einen Widerspruch sah. „Diese Frauen haben sich auch einem enthaltsamen Leben im Dienste des Herrn verschrieben. Weshalb können sie und die Mönche dem gleichgesinnten Dienst nicht gemeinsam nachkommen?“
Dieser Vorschlag schien den Cellerar noch tiefer zu erschüttern als die einfache Frage nach Frauen im Kloster. Mönche und Nonnen gemeinsam in einer Abtei würden das absolute Chaos innerhalb kürzester Zeit bedeuten, dessen war sich Bruder Ivo sicher. Doch wie sollte er das seinem Gehilfen klarmachen, der noch nicht wusste, zu welchen Verlockungen das weibliche Geschlecht fähig war?
„Nun, wie soll ich es sagen …“, begann er unsicher. „Die Versuchungen durch die Anwesenheit von Frauen wäre für die meisten Brüder auf Dauer unerträglich. Sie würden ihnen mit Sicherheit eines Tages erliegen.“
„Welche Versuchungen sind das?“
„Das wirst du schon noch früh genug erfahren. Genieße die Zeit, in der du noch vor dem tückischen Weib gefeit bist, bevor es Einfluss auf deine Seele und deinen Leib nehmen kann.“
„Wie meint Ihr das, Meister? Was hat es mit Frauen auf sich, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen soll?“
Ivo fühlte sich bedrängt und versuchte den Spieß umzudrehen. Er war nicht darauf vorbereitet, seinem Schützling die grundlegenden Fakten und Reize der menschlichen Fortpflanzung darzulegen. Deshalb versuchte er hinter die Ursache dieser Neugier zu gelangen. „Wieso fragst du nach Frauen, Faolán?“
Faoláns Blick flüchtete zur Seite. Bruder Ivo kombinierte schnell und ahnte fremden Einfluss. „Wer hat derartige Gedanken in dir gesät? Waren es die gotteslästerlichen Huren in Neustatt? Haben sie dich angesprochen?“
Obwohl Faolán dies nicht bestätigte, begann der Cellerar leise und ohne Rücksicht auf seine Wortwahl vor sich hin zu schimpfen. „Diese verfluchten Weibsbilder! Gottverlassene Huren und Metzen mit ihren angemalten Gesichtern, die selbst die Beine für einen unschuldigen Jungen spreizen würden. Ihre Punzen sind wie der schweflige Abgrund der Hölle. Wenn ich das nächste Mal sehe, wie sie meinen jungen …“
„Nein! Es waren nicht die Huren. Sie haben nichts dergleichen getan“, rief Faolán.
„Wer war es dann? Ein Mädchen auf dem Markt?“
Faolán schüttelte den Kopf, doch der Kellermeister ließ sich nicht beirren. Er spürte, dass er der richtigen Spur folgte und begriff schließlich, dass es mit Faoláns Marsch zur Quelle zu tun haben musste. „Wen hast du am Tümpel getroffen? Was ist dort geschehen?“
Der Novize erstarrte augenblicklich und schaute stur auf den Weg, der Elle um Elle unter dem Wagen verschwand. Bruder Ivo wusste sofort, dass er mit seiner Vermutung richtig lag und er erinnerte sich an die Frage seines Schützlings, ob er selbst schwimmen könne. „War es ein Mädchen oder eine Frau? Wollte sie dich etwa dazu überreden, mit ihr ins Wasser zu steigen?“
Keine Antwort. Bruder Ivo blieb äußerlich ruhig, obwohl es in ihm brodelte. Er durfte jetzt keinen Fehler machen, wenn er Faoláns Vertrauen behalten wollte. Jungen in seinem Alter waren schwierig, das wusste er aus eigener Erfahrung. Er hatte einst, wie jeder Knabe der zum Manne reift, ebenfalls die Verlockungen und Leiden des Fleisches durchleben müssen. Es waren nicht gerade die schönsten Erinnerungen, die er an jene Zeit hatte.
Der Cellerar versuchte auf andere Art Faolán zum Sprechen zu bringen und ergriff überraschend gelassen das Wort. „Genau das ist es, Faolán, was ich mit der Versuchung meinte. Zuerst verdrehen dir die Frauen mit ihren Blicken den Kopf, dass nur noch schiefe Gedanken daraus hervorkommen. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis sie alles mit dir machen können, wonach ihnen der Sinn steht.“
„Wie meint Ihr das? Was können Frauen schon mit mir machen wollen?“
„Zum Beispiel mit dir baden oder schwimmen gehen. Vielleicht auch manch andere Dinge, von denen du noch nicht einmal die leiseste Ahnung hast, dass sie überhaupt existieren. Es kommt nicht so sehr darauf an, zu was sie dich bewegen könnten, sondern dass sie es schaffen, völlig neue Wünsche in dir hervorzurufen. Wenn sie sich erst einmal auf diese Art deiner bemächtigt haben, dann dauert es nicht mehr lange und du würdest die Regularien unseres Klosters in Frage stellen, sie sogar missachten, nur um der Urheberin dieser Wünsche zu gefallen. Wenn es erst einmal soweit ist, dann wirst du selbst den einfachsten Versuchungen erliegen. Sei also gewappnet.“
Obwohl Bruder Ivo nicht gerade in bester Laune für Fragen war, konnte Faolán dennoch eine weitere nicht zurückhalten.
„Was ist, wenn die Regularien in manchem Bezug keinen Sinn ergeben?“
Abrupt zog Bruder Ivo die Zügel an und brachte den Wagen zum Stehen. Faolán wusste, dass er seine Grenzen überschritten hatte, doch es war zu spät. Streng blickte der Cellerar seinen Gehilfen an. Seine Stimme zitterte leicht und Faolán spürte förmlich die Anspannung des Mönches.
„Ist es bereits so weit? Es gehört sicherlich nicht zu deinen Aufgaben die Regularien unserer Gemeinschaft in Frage zu stellen. Weder hast du bis jetzt die notwendige Weisheit dazu erlangt, noch die entsprechende Stellung hierfür. Wäre ich nicht der, den du kennst, und würde ich dich nicht besser kennen, als du dich selbst, so würde ich dich unverzüglich zum Abt bringen. Deine Äußerungen könnten dir in Gegenwart anderer sehr leicht zum Verhängnis werden. Es ist eine ungeheuerliche Anmaßung, den heiligen Benedikt und seine Regeln in Frage zu stellen.“
Nachdem sich der Mönch vergewissert hatte, dass sein Schützling ihn richtig verstanden hatte, trieb er das Pferd an und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Nach langem Schweigen wagte Faolán doch noch eine Frage:
„Wie habt Ihr das gemeint, Meister, dass Ihr mich besser kennt als ich mich selbst?“
Der Mönch wurde plötzlich verlegen. Sein Gehilfe kannte ihn gut genug um zu erkennen, dass er nach einer ausweichenden Antwort suchte. Instinktiv wusste Faolán, dass hinter der Bemerkung mehr stecken musste als eine Floskel.
„Nun ja …“, begann der Cellerar zögernd. „Immerhin arbeitest du schon seit einigen Jahren unter meinem Amt und da kenne ich dich eben besonders gut. Und ich kenne dich in mancher Hinsicht sogar besser als du dich selbst. Das denke ich zumindest.“
Faolán nickte und ließ es dabei bewenden, auch wenn er mit der Antwort nicht zufrieden war. Der Kellermeister war darüber sichtlich erleichtert. Die Gedanken des Novizen blieben jedoch rastlos, suchten nach dem, was Bruder Ivo tatsächlich über ihn zu wissen glaubte. Diese Neugier behielt Faolán allerdings für sich, wohl wissend, von Bruder Ivo heute keine bessere Antwort zu erhalten. So fuhren sie weiter, schweigend und nachdenklich, ein jeder für sich.
Zurück im Kloster, wies der Kellermeister seinen Gehilfen an, die Waren zu entladen, das Pferd abzuschirren und in den Stall zu bringen. Obwohl letzteres nicht zu Faoláns Aufgabenbereich gehörte, hielt der Mönch ihn damit für längere Zeit beschäftigt, um seinen eigenen Absichten in Ruhe nachgehen zu können.
In Gedanken versunken eilte Bruder Ivo zu den Räumlichkeiten des Abtes. Dort schilderte er seinem Freund die Vorkommnisse auf dem Markt, die Rast im Wald und das seltsame Gespräch mit Faolán auf der Rückfahrt. Bruder Ivos Besorgnis war unverkennbar. Am Ende fielen seine Worte ähnlich hart aus wie schon Faolán gegenüber.
Degenar versuchte Ivo zu besänftigen.
„Mein lieber Freund, beruhige dich. Deine Sorge könnte ebenso gut unberechtigt sein. Schließlich hast du nicht das Geringste gesehen, was deine Mutmaßungen bestätigen könnte.“
Ungläubig blickte Ivo den Abt an, als habe er sich verhört. „Verstehst du denn nicht, dass der Junge jemandem begegnet sein muss, der einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübt? Obwohl es nur kurz gewesen sein kann, wurden ihm aufwühlende Wünsche und Fragen in den Kopf gepflanzt. Nun beginnt er sogar, die Regeln des heiligen Benedikt anzuzweifeln! Das vermag nur der Leibhaftige oder ein Weibsbild zu vollbringen. In Faoláns Fall vermute ich das Zweite.“
Nachdenklich ließ sich der Abt neben den Cellerar auf einer Bank in der Exedra nieder. Er konnte Ivos Bedenken gut nachvollziehen. „Nehmen wir einmal an, deine Vermutungen treffen zu: Was könnte dann schlimmstenfalls geschehen? Dass er die Welt etwas kritischer betrachtet? Das sollte er auch. Wir beide streben doch an, dass sich Faolán eines Tages den Gegebenheiten außerhalb des Klosters stellen kann. War es nicht deine ureigene Idee, den Jungen mit auf den Markt zu nehmen, um ihm neue Perspektiven und Anregungen zu vermitteln? Du hattest Recht mit deinem Vorhaben. Deine Absicht, den Jungen wieder mehr für sein Leben zu begeistern, trägt erste Früchte. Die Fahrten nach Neustatt haben aber noch mehr bewirkt, weil Faolán ein schlauer, aufgeweckter Bursche ist. All die neuen Eindrücke treiben ihn zu neuem Denken an. Darin beweist er sich als echter Sohn des einstigen Grafen.“
„Aber was wird geschehen, wenn ihn die neuen Eindrücke übermütig werden lassen? Wenn er seine neuen Gedanken und Zweifel eines Tages statt uns einem anderen Mönch preisgibt? Sollte der Prior davon erfahren, wird er sich nicht scheuen, den Schützling des Abtes offen zu attackieren.“
„Noch ist dergleichen nicht geschehen. Was aber Frauen angeht, wird auch Faolán früher oder später auf eine treffen, die ihm gefällt. Und er wird nicht der Erste im Kloster sein, dem das widerfährt. Ich muss dich wohl nicht an Elizabeth erinnern. Schließt du sie nicht selbst heute noch in deine Gebete ein?“
Bruder Ivo errötete mit einem Mal. „Ich bitte dich, Degenar. Das ist schon viele Jahre her. Zudem trug sich die Angelegenheit lange vor meinem Mönchsgelübde zu.“
„Genauso verhält es sich bei Faolán.“
„Ich fürchte auch nicht, dass er irgendwann ein Mädchen kennen lernen wird. Vielmehr fürchte ich seine neuen Gedanken, die er heute geäußert hat. Sie sind in meinen Augen sehr beunruhigend und gefährlich.“
„Faolán hat nur ein paar neugierige Fragen gestellt und einige unserer Regeln kritisch betrachtet. Doch welcher kluge, junge Mensch wird die ihm auferlegten Einschränkungen nicht anzweifeln? Wenn du mich fragst, ist diese Kritik sogar Ausdruck von Faoláns Willensstärke und Intelligenz.“
„Aber gerade solche Kritik könnte für ihn gefährlich werden, sollte er sie zur falschen Zeit am falschen Ort äußern!“
„Da stimme ich dir zu. Es darf uns auch nicht egal sein, was er tut und denkt. Wir müssen nur weiterhin ein wachsames Auge auf ihn haben und sollten das zweite ab und an wohlwollend schließen. Ich bin mir sicher, dass Faolán an den Herausforderungen und Erfahrungen in Neustatt nicht scheitern, sondern an ihnen wachsen wird. Früher oder später muss er sich dieser Welt stellen. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Wenn wir ihm jetzt nicht die ersten Schritte zutrauen, wie soll er dann später zurecht kommen?“
„Dennoch sorge ich mich um ihn!“ Der Kellermeister dachte über die Worte seines Freundes nach, dann sprach er mit Entschlossenheit weiter. „Du verlangst viel von mir, Degenar! Einfach ein Auge zudrücken, das liegt mir nicht und das weißt du ganz genau. Vielleicht wird es mir aber etwas leichter fallen, wenn du mir im Gegenzug ebenfalls einen Gefallen erweist. Sprich bitte mit Faolán über alles. Erkläre ihm die Situation und die Gefahren, denen er ausgesetzt sein wird. Erläutere ihm auch mögliche Folgen, ohne dabei zu viel preiszugeben.“
Nun war es an Degenar über die Worte seines Freundes nachzudenken. Schließlich nickte er.
„Gut, ich werde noch heute mit ihm sprechen. Allerdings nur, wenn du mir versprichst, dass der nächste Marktgang für Faolán genauso abläuft wie heute, mit allen Privilegien und Freiheiten!“
„Weshalb?“, entfuhr es Ivo entsetzt, während er von der Bank aufsprang und mit großen Augen Degenar fassungslos anstarrte. „Das wird die Lage nur verschlimmern! Sollten wir ihn nicht lieber einschränken?“
„Du bist sein Mentor, vergiss das nicht. Er hält große Stücke auf dich. Wenn du ihm bisherige Privilegien nimmst, so wird er dir bald nicht mehr vertrauen. Sein Vertrauen in uns darf aber nicht erschüttert sein, wenn er sein Erbe einfordern wird. Wenn er dann unsere Führung und unseren Rat abschlägt, wird er wenig Aussicht auf Erfolg haben, wenn nicht sogar in sein Verderben rennen. Lassen wir ihm allerdings jetzt seine Freiheiten, wird er dadurch Selbstständigkeit erlernen, die er später benötigt. Soll er doch mit der Außenwelt konfrontiert werden. Gerät er jetzt dort draußen in Schwierigkeiten, sind wir da, um ihn zu behüten und um ihn wieder auf den rechten Weg zu führen. In ein paar Jahren, wenn er zum Manne gereift ist, wird uns das wesentlich schwerer fallen.“
Der Cellerar brummelte unzufrieden vor sich hin. Doch allein die Vorstellung, Faoláns Vertrauen verlieren zu können, war schmerzlich. Nach reiflicher Überlegung willigte er schließlich ein. „Gut, ich werde es tun. Im Gegenzug solltest du allerdings noch heute mit Faolán sprechen. Seine Eindrücke sind noch frisch. Und halte unsere Abmachung geheim.“
„Sei unbesorgt, mein Freund. Ich werde mit Faolán sprechen und unsere Unterredung für mich behalten. Vertrauen solltest du nicht nur in Faolán, sondern auch in mich haben.“
Ivo erwiderte Degenars Lächeln. „Natürlich, alter Freund.“
Mit diesen Worten verließ der Cellerar den Abt. Es gab einiges, worüber Ivo nachzudenken hatte, denn die Situation mit Faolán war nicht einfacher geworden. Degenar hatte ihn sogar dazu angehalten, noch mehr zu wagen als ihm lieb war …
* * *
Die Dunkelheit hatte sich schon lange des Firmaments bemächtigt und die Bruderschaft lag zum größten Teil in den Betten des Dormitoriums, um die wenigen Stunden bis zur Matutin für den Schlaf zu nutzen. Nur wenige Mönche waren um diese Zeit noch auf den Beinen und so herrschte Stille in den Hallen des Klosters.
Die Ruhezeiten für die Gottesdiener waren karg bemessen, vor allem in den Sommermonaten. Sie richteten sich strikt nach Morgengrauen und Abenddämmerung. Aus diesem Grunde war Faolán sehr verärgert, dass er noch immer nicht eingeschlafen war. Mit jedem Herzschlag schien er sich mehr darüber aufzuregen, da der kommende Tag nur schwer zu meistern wäre, sollte er nicht bald einschlafen.
Während Faolán dem mehr oder weniger geräuschvollen Atmen der Mönche und älteren Novizen im Schlafsaal lauschte, drehte er sich immer wieder hin und her, um die beste Position auf seinem Lager zu finden. Vergebens! Schließlich lag er hellwach und resigniert auf dem Rücken, seinen Blick starr auf die Gewölbedecke gerichtet, die vom Licht des tief stehenden Mondes erhellt wurde.
Schuld an seiner Unruhe waren diese unablässig durch seinen Kopf wandernden Gedanken. Sie kehrten immer wieder zu dem heutigen Gespräch mit dem Abt zurück. Es war schon sehr außergewöhnlich, dass Faolán nach nur einem Tag erneut zu ihm gerufen worden war. Sicherlich war Bruder Ivo der Anlass hierfür gewesen. Anfangs hegte Faolán deshalb einen Groll gegen den Kellermeister, doch im Nachhinein betrachtete er die Dinge etwas nüchterner.
Die ermahnenden Worte des Abtes hatten dazu beigetragen, dass Faolán sich mit Bruder Ivo wieder versöhnte, zumindest im Geiste. Faoláns Befürchtung, der Cellerar könnte über die Rückfahrt gesprochen haben und der Abt würde daraus Konsequenzen ziehen, bewahrheitete sich nicht. Oder hatte das Klosteroberhaupt dies lediglich verschwiegen? Immerhin hatte der Abt merkwürdig oft nachgefragt, ob ihm sonst noch etwas auf dem Herzen läge. Beinahe hätte der Novize sich sogar hinreißen lassen, von der Begegnung mit Svea zu berichten. Nur den Apfel hatte er dem Abt übergeben. Es war offensichtlich, dass dies der gestohlene Apfel des Markthüters war, über den sie lange gesprochen hatten. Faolán hatte den Abt jedoch im Ungewissen gelassen, wie er in seinen Besitz gekommen war. Danach war die Unterredung beendet gewesen und Faolán hatte Svea mit keinem Wort erwähnt.
Viele Gedanken um das Mädchen überschlugen sich in seinem Kopf. Unter anderem die Tatsache, dass Svea Bruder Ivos Auftauchen auf der Lichtung vorhergesehen hatte. Das bereitete ihm Kopfzerbrechen, und er fragte sich, ob es wirklich Menschen mit solch einer Fähigkeit gab. Faolán hatte schon von Menschen mit einer besonderen Gabe gehört, die allgemein als ‚das Gesicht’ bezeichnet wurde. Getroffen hatte er bisher allerdings noch keinen. War Svea eine von ihnen?
Hätte der Novize den Abt darauf angesprochen, hätte das wahrscheinlich zu einem heftigen Disput geführt. In der Kirche genossen diese Menschen kein gutes Ansehen. Götzenanbetung, Zauberei und Teufelei lagen dieser Fähigkeit angeblich zugrunde.
Nein, den Abt darauf anzusprechen, hätte zu nichts geführt. Faolán war auf sich allein gestellt, und er schwor sich, die Antworten um dieses rothaarige Mädchen eigenständig herauszufinden. Ganz gleich was er hierfür zu wagen hätte und welche Strafen er hierfür auferlegt bekommen würde, er wollte Antworten.
Seine Gedanken kehrten immer wieder zu Svea zurück. Am Ende blieben sie ganz bei ihr, und mit den Augen zur Decke gerichtet, versuchte Faolán sich ihr Gesicht vorzustellen. Er versetzte sich in Gedanken auf die Lichtung zurück, wo er Svea überraschend angetroffen hatte. Noch einmal badete sie vor seinem geistigen Auge im Tümpel. Stünde er jetzt erneut vor der Wahl, würde er vielleicht seine Gewandung ablegen und ins Wasser steigen. Überrascht stellte Faolán fest, dass er tatsächlich bereit war, gegen die Regularien des Klosters zu verstoßen. Obwohl ihn der Cellerar gerade in diesem Punkte ausführlich belehrt hatte, kam ausgerechnet dieser Gedanke in ihm auf.
Je länger Faolán an Svea dachte, umso besser gelang es ihm, sich ihre Gesichtszüge wieder in Erinnerung zu rufen. Das freche Lächeln und das kurze, rote Haar waren ihm schon bald so gegenwärtig, als stünde das Mädchen vor ihm. Noch einmal entstieg sie nackt dem Wasser, streifte sich das Kleid über, kam auf ihn zu und führte mit ihm dieses merkwürdige Gespräch.
Und dann erinnerte Faolán sich an ihre Augen! Dieses faszinierende Grün, in das er am liebsten eingetaucht und verschwunden wäre, wie Svea im Wasser des Tümpels. Das Mädchen vermochte mit diesen Augen in ihn hineinzublicken und das Innerste seines Wesens zu ergründen. Faolán fragte sich, ob auch andere Menschen dem Zauber ihrer Augen erlagen und ob es sich dabei tatsächlich um einen Zauber handelte.
Ein Schauer durchlief den Novizen. Vergeblich versuchte er seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Es gelang ihm nicht. Zu seinem Ärger wurde auch noch der Druck seiner Blase immer stärker. Faolán schlug vorsichtig das Leintuch zurück und entstieg seinem Lager. Nur mit dem Nachtgewand bekleidet schlich er barfuß über den kalten Steinboden zum Ausgang des Dormitoriums und schloss die Tür hinter sich. Im Arkadengang entzündete er die kleine Laterne und machte sich auf den Weg zum Abtritthaus.
Jeder Schritt ließ die wirren Gedanken um Svea mehr und mehr verblassen. Am Ziel angekommen, schlug Faolán sein Wasser ab. Und mit der Erleichterung zog endlich Müdigkeit in seinen Körper.
Er wollte sich gerade auf den Rückweg begeben, als er Schritte vernahm. Mit einem Mal wieder hellwach, hielt Faolán inne und lauschte angestrengt. Vielleicht war es ein Mönch, der einem ähnlichen Drang wie er nachgeben wollte. Oder war es jemand, der gar keine Erleichterung, sondern ihn suchte? Die Schritte kamen näher. War es Drogo, der ihm eine Abreibung verpassen wollte? Sozusagen als Ausgleich für seine heutige Fahrt nach Neustatt?
Nach kurzem Zögern ging Faolán vorsichtig weiter. Er hatte keine Wahl, denn im Aborthaus säße er in der Falle. Er wollte noch das Licht seiner Lampe löschen, doch bevor er zur Tat schreiten konnte, traf er auf den nächtlichen Wanderer. Erschrocken blieb Faolán stehen.
„Da bist du also!“, zischte die dunkle Gestalt bedrohlich.
Faolán hob langsam die Lampe, um das Gesicht seines Gegenübers zu erhellen. Er war bereit, Drogo oder gar Prior Walram in die Augen zu blicken. Doch dann stellte er erleichtert fest, dass sein Freund vor ihm stand.
„Ering, was um Gottes Willen machst du denn hier?“
„Ich wollte nur nachsehen, ob du gotteslästerliche Reden hältst oder gar den Namen des Herrn missbrauchst“, flüsterte Ering mit einem Lächeln.
Faolán kam dieses Lächeln in dem flackernden Licht der Lampe eher wie ein hämisches Grinsen vor. Daher schlug er einen schärferen Tonfall an: „Stellst du mir etwa nach?“
„Nein, natürlich nicht“, versuchte Ering seinen Freund zu besänftigen. „Ich gehöre nicht zu Drogos Gefolgschaft, sondern habe lediglich bemerkt, dass du dich aus dem Dormitorium geschlichen hast. Da habe ich mir Sorgen gemacht und wollte mich vergewissern, ob alles in Ordnung ist.“
„Heute scheinen sich ja alle um mich zu sorgen“, zischte Faolán gereizt. Man ließ ihn noch nicht einmal auf dem Abort in Ruhe. „Wie nett von dir! Du solltest mir noch einen Strick um den Hals binden und mich wie einen Ziegenbock anpflocken! Dann wüsstet ihr immer, wo ich mich befinde und was ich so treibe.“
Ering war es nicht gewohnt, von Faolán auf diese Weise angegangen zu werden und war daher sehr überrascht. „Entschuldige, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Es ist mir nun einmal nicht entgangen, dass der Abt dich heute schon wieder zu sich gerufen hat. Dass ich mir darüber meine Gedanken mache, ist wohl nicht verwerflich.“
„Was hat es schon zu bedeuten, wenn ich öfter vom Abt gerufen werde?“
„Nichts hat es zu bedeuten! Und jetzt beruhige dich wieder. Ich bin dir in freundschaftlicher Absicht gefolgt, glaube mir. Wenn nicht, kann ich auch wieder kehrt machen.“
Als Faolán darauf nichts erwiderte, sprach Ering noch einmal die heutigen Geschehnisse an. „Was war der Grund für dieses Gespräch? Steckst du in Schwierigkeiten?“
Faolán blickte zu Boden und dachte kurz nach. Die anfängliche Anspannung fiel von ihm ab und sein Kopf wurde wieder klarer. „Entschuldige bitte mein Aufbrausen, Ering. Nein, ich stecke nicht in Schwierigkeiten. Zumindest noch nicht, soweit ich das beurteilen kann.“
„Wie soll ich das verstehen? Entweder steckst du in Schwierigkeiten oder nicht. Oder hast du etwa vor, in welche zu geraten? Berichte doch einfach, was vorgefallen ist. Vielleicht kann ich dir eine Hilfe sein, mein Freund.“
Faolán zögerte mit einer Antwort wie bereits bei Abt Degenar. Eine innere Stimme riet ihm, nicht zu viel zu verraten. Doch ebenso verspürte er auch den Impuls, sich jemandem anzuvertrauen. Wenn nicht Ering oder Konrad, wem sonst könnte er sich noch anvertrauen?
Nach kurzer Überlegung offenbarte Faolán seinem Freund alles. Er ließ nichts aus, weder die Geschichte mit den Wachen auf dem Markt, noch die Begegnung mit Svea. Ering erfuhr beinahe alles, sogar woher Faoláns nächtliche Ruhelosigkeit rührte. Nur eines erwähnte Faolán nicht: den Namen des Mädchens. Diesen wollte er ganz für sich behalten, wollte ihn hüten wie einen Schatz.
Als Faolán seine Schilderung beendete, fanden sich beide Novizen auf dem Boden wieder, den Rücken an eine angenehm kühle Steinwand gelehnt. Das Licht der Lampe war bereits erloschen, so lange hatte Faolán gesprochen. Er fühlte sich sehr erleichtert und er spürte, dass sich die Welt für ihn verändert hatte. Oder hatte sich nur sein Blick für die Dinge geändert?
Ering schwieg nachdenklich, was Faolán wiederum nicht ertragen konnte. „Was denkst du? Was hat das alles zu bedeuten?“
„Möglicherweise macht sich Bruder Ivo zurecht Sorgen um dich. Zumindest könnte die Situation für dich gefährlich werden.“
„Jetzt fang du nicht auch noch damit an! Was kann denn an der ganzen Angelegenheit gefährlich werden? Dass ich ein Mädchen im Wald getroffen habe, wird wohl nicht die Grundfesten der Welt erschüttern.“
„So würde ich das nicht sehen. Es kann durchaus die Grundfesten deiner Welt erschüttern, wenn es nicht bereits geschehen ist. Wenn ich mich nicht täusche, fühlst du dich bereits zu diesem Mädchen hingezogen – jetzt bleib’ ganz ruhig und lass’ es mich erklären.“
Faolán setzte sich wieder, nachdem er bei Erings Behauptung aus Protest aufgesprungen war. Wie konnte man nur auf eine so aberwitzige Idee kommen, er könne sich zu einem fremden Mädchen hingezogen fühlen?
Ering fuhr indes fort: „Nach allem, was du berichtet hast und was ich in den Büchern unseres Klosters gelesen habe, würde ich deine Gefühle für dieses Mädchen als Zuneigung zum weiblichen Geschlecht bezeichnen. Im Allgemeinen nennt man diese Gefühle auch Liebe. Mir fehlt diesbezüglich natürlich einschlägige Erfahrung, um alles richtig verstehen zu können. Sollte es sich bei dir aber tatsächlich um diese Art der Liebe handeln, hast du als Novize ein beträchtliches Problem! Diese Liebe allein könnte sich bereits als Gefahr erweisen. Bei der Zuneigung eines Mannes zu einer Frau verhält es sich wohl so, dass der Mann alles dafür erbringen würde, um die Gunst der Angebeteten zu erlangen. Vieles in den Büchern deutet darauf hin. In diesem Falle wärest du am Ende sogar bereit, die Regula Benedicti zu missachten und alle Strafen auf dich zu nehmen, nur um dieses Mädchen wiedersehen zu können. Frage mich nicht, weshalb es sich so verhält, darüber schweigen die Schriften. Fakt ist, dass du durch eine solche Liebe deine Mönchsweihe gefährdest, vielleicht sogar mehr!“
„Und was ist, wenn ich ohnehin kein Mönch werden möchte?“, antwortete Faolán trotzig. „Was kümmert mich da noch die Weihe?“
Ering wollte seinen Ohren nicht trauen. Seine Augen weiteten sich, als handele es sich bei dieser Bemerkung um die unmöglichste aller Vorstellungen. Dennoch blieb er ruhig, als er sprach. „Es besteht natürlich die Möglichkeit, sein Dasein außerhalb des Klosters zu bestreiten. Deinen Worten entnehme ich allerdings, dass du noch unschlüssig bist. Falls du unvorsichtig und übereifrig handelst, könntest du dir jedoch alle Wege in eine hoffnungsvolle Zukunft in diesem Kloster verbauen. Du hast hier einige Fürsprecher!“
„Und noch mehr Gegner!“
Ering nickte zustimmend. „Und trotzdem solltest du genau bedenken, was du tun wirst, ganz gleich wie deine Entscheidungen ausfallen werden.“
„Ich tue nichts anderes mehr als bedenken, doch es hilft nicht weiter. Bedenke dies und bedenke jenes! Wie oft habe ich das heute schon zu hören bekommen! Ich drehe mich im Kreis bei all dem Nachdenken. Und um eine Entscheidung geht es mir im Augenblick auch gar nicht. Zwischen welchen Möglichkeiten soll ich mich denn entscheiden? Es gibt nur mein bisheriges Leben, das zur Wahl steht!“
„Jede kleine Entscheidung, kann dazu führen, dass du dein Leben in eine Bahn lenkst, die dich eines Tages vor eine viel schwerwiegendere Entscheidung stellt. Spätestens dann wirst du dich meiner Worte erinnern. Aber solange du noch keine Alternative zum jetzigen Weg siehst, würde ich diesen an deiner Stelle weitergehen, statt einen vagen Irrweg einzuschlagen. Vielleicht liegt deine Bestimmung ja doch hier im Kloster.“
„Du sprichst beinahe schon wie Bruder Ivo und Abt Degenar in einer Person! Wenn ich immer nur auf Sicherheit gesetzt hätte, so wäre ich schon lange Drogos Freund. Und bei dir verhält es sich ähnlich. Wenn du immer nur den sicheren Weg gewählt hättest, hättest du dich für Drogo entschieden, als die Wahl bestand!“
Der ernst gemeinte Kommentar rief zu Faoláns Überraschung bei Ering ein langsam anschwellendes Lachen hervor. Der versuchte erst jeden Laut zu unterdrücken, doch dadurch wurde der Lachreiz nur noch stärker. Schließlich prustete er los. Faolán wurde von der Heiterkeit angesteckt und begann ebenfalls vor sich hinzukichern. So saßen die beiden glucksend auf dem Steinboden und versuchten möglichst keinen Lärm zu machen, der sie am Ende noch verraten würde.
Als ihr Lachen langsam versiegte, wischte sich Faolán Tränen aus den Augenwinkeln. „Ich danke dir, Ering. Es hat gut getan, mit dir zu lachen. Ich weiß zwar noch immer nicht, wie ich die heutigen Erlebnisse deuten soll, doch ich bin froh, dass ich mich dir anvertrauen konnte.“
„Jederzeit wieder. Ist ein Freund nicht genau dazu da, selbst wenn er sich wie der Abt und der Cellerar in einer Person anhört?“
Faolán musste erneut lachen. Die beiden Freunde standen nun auf und machten sich auf den Rückweg zum Dormitorium. Kurz bevor sie sich trennten, um den Saal nicht gleichzeitig zu betreten, hielt Faolán Ering noch einmal zurück.
„Eines ist mir vorhin ganz klar geworden. So wie du zu mir gesprochen hast, habe ich zumindest für deine Zukunft keine Zweifel. Du wirst eines Tages mehr als nur ein einfacher Mönch in diesem Kloster sein. Vielleicht wirst du eines Tages sogar der Abt dieser heiligen Hallen sein.“
„Vielleicht …“, gab Ering mit einem verschmitzten Lächeln zurück und in diesem Augenblick wurde Faolán bewusst, dass sein Freund weitaus höhere Ziele anstrebte als Abt zu werden. Faolán nickte wissend, und dann trennten sie sich endgültig, um sich wieder in die Ruhe des Dormitoriums zu begeben.
* * *
Die darauffolgenden Wochen schleppten sich zäh dahin, und Faolán konnte den nächsten Markttag kaum erwarten. Seine Pflichten ließen ihm zwar weder Zeit noch Raum für Tagträume, doch wenn er zum Nachdenken kam, befand sich immer nur Svea in seinem Kopf. Sie schien sich einen festen Platz in seinen Gedanken einzurichten.
Meist dachte Faolán nachts an sie, wenn er wach auf seinem Bett lag und gegen die Decke starrte. Das bescherte ihm zwar weniger Schlaf, doch er war machtlos dagegen. Deshalb war Faolán tagsüber oftmals so müde, dass er Drogo gegenüber unvorsichtiger wurde. So manches Mal lief er ihm in die Arme und war seiner Willkür ausgesetzt.
Nach einigen Tagen bemerkte auch Konrad, dass Faolán seinen Schutz mehr als sonst benötigte. Obwohl er nicht wie Ering in Faoláns Gedanken eingeweiht war, stand er seinem Freund dennoch treu zur Seite und akzeptierte Faoláns zunehmende Nachlässigkeit.
Faoláns größte Herausforderung bestand allerdings darin, tagtäglich unter Bruder Ivos Aufsicht weiterhin seinen Pflichten nachzukommen. Denn der Cellerar beobachtete ihn genauer als zuvor. Aber nicht, um Faoláns Tätigkeit zu kontrollieren, sondern um sich nach dessen Wohlbefinden zu erkundigen. Faolán versuchte der übermäßigen Aufmerksamkeit des Kellermeisters mit zunehmender Gelassenheit zu begegnen. Das fiel ihm mit dem stetigen Blick des Mönches im Nacken allerdings nicht leicht, und die Zeit bis zum nächsten Markttag verging deshalb noch schleppender.
Insgeheim wusste Faolán, dass er nur ungeduldig war, weil er Svea wiedersehen wollte. Er machte sich in dieser Hinsicht inzwischen nichts mehr vor, obwohl er es kurz nach ihrer ersten Begegnung noch zu leugnen versucht hatte. Zwei Wochen waren inzwischen vergangen. Dass er diese Vorfreude auf Svea anfangs noch zu unterdrücken versucht hatte, erschien ihm jetzt wie eine Dummheit.
Heute war endlich wieder Markttag. Faolán hatte alle Vorbereitungen für die Fahrt nach Neustatt getroffen. Der Wagen war beladen, die Güter gesichert und das Pferd bereits angespannt. Nur der Kellermeister fehlte noch, damit die Fahrt endlich beginnen konnte.
Kurze Zeit später kam der Cellerar in Begleitung des Abtes über den Klosterhof. Das war nichts außergewöhnliches, schließlich hatte der Abt bisher jede Marktfahrt gesegnet. Heute allerdings missfiel Faolán Degenars Anwesenheit. Mit einem Mal misstraute er diesen beiden Freunden, die scheinbar tuschelnd daherkamen. Keiner der beiden Benediktiner hatte ihm etwas angetan, und doch stieg in ihm ein ungekannter Groll gegen sie empor.
Seit der letzten Unterredung hatte der Abt kein Wort mit Faolán gewechselt, geschweige denn ihn zu sich gerufen. Der Novize wusste nicht, ob er das als ein gutes oder ein schlechtes Zeichen werten sollte. Das Gespräch der beiden Männer erstarb schlagartig, als sie in die Nähe des Wagens kamen. Sie scheuten sich, Faolán direkt anzusehen. Wortlos bestieg Bruder Ivo den Wagen, der Abt erteilte seinen Segen und die Fahrt begann.
Die Stimmung zwischen dem Cellerar und seinem Gehilfen war unterkühlt. Faolán wusste nicht, weshalb der Cellerar sich heute so anders verhielt, er bemerkte nur, dass es seine Vorfreude auf Svea trübte. Seine Hoffnung, der Tag könne sich auf dem Weg nach Neustatt noch zu einem normalen Markttag wandeln, erfüllte sich leider nicht. Bruder Ivo schwieg die meiste Zeit und wenn er sprach, dann nur in knappen Sätzen. Der Novize fragte sich, ob dies eine Art Bestrafung sein sollte.
Selbst in Neustatt änderte sich die düstere Stimmung nicht, denn dort ging es heute sehr träge zu. Es waren deutlich weniger Händler und Marktgänger zugegen als beim letzten Mal. Die größte Enttäuschung war allerdings, dass Faolán Svea nicht zu Gesicht bekam. Obwohl er stetig nach ihr Ausschau hielt, sah er sie nicht ein einziges Mal. Je weiter der Tag voranschritt, umso schlechter wurde seine Laune. Lustlos bediente er einige Käufer, wobei er durch seine Nachlässigkeit beinahe übervorteilt worden wäre.
Bruder Ivo behielt seinen Gehilfen im Auge und verhinderte Schaden. Als er die Übellaunigkeit des Jungen nicht mehr mit ansehen konnte, schickte er ihn in die Menge, damit er auf andere Gedanken käme. Doch so gut es der Mönch auch gemeint hatte, es half nicht viel. Weder traf Faolán auf Svea, noch fand er eine Ablenkung von seinen düsteren Gedanken.
Als er schließlich zum Klosterstand zurückkam, war der Kellermeister bereits damit beschäftigt, den Wagen zu beladen. Mit einem schlechten Gewissen, weil er so lange weggeblieben war, packte Faolán sogleich mit an. Bruder Ivo wirkte indes wie ausgewechselt. Er plauderte vor sich hin, als habe er heute zahlreiche gute Geschäfte abgeschlossen, obwohl genau das Gegenteil der Fall war. Er erteilte auch keine Rüge wegen Faoláns langer Abwesenheit. Dem Gehilfen sollte es recht sein, denn die plötzliche Redseligkeit war ihm wesentlich lieber als das unterkühlte Schweigen des Vormittags. Deshalb hob sich, trotz seiner Enttäuschung über Sveas Ausbleiben, seine Laune zusehends.
Nachdem der Wagen beladen und das Tuch des Vordaches verstaut war, bahnten sie sich ihren Weg aus der Stadt. Schnell ließen sie die Häuser Neustatts hinter sich und die Ruhe des Waldes hieß sie willkommen. Faolán verfiel wieder in trübe Gedanken und versuchte sich mit seiner Enttäuschung abzufinden. Doch es fiel ihm nicht leicht, denn er verspürte eine seltsame Schwere in seiner Brust.
Plötzlich gab es einen kräftigen Ruck und Faolán wurde aus seinen Gedanken gerissen wie aus einem tiefen Schlaf. Der Cellerar hatte den Wagen zum Stehen gebracht. Der Novize schaute sich um und erkannte sofort die Stelle, wo sie vor zwei Wochen schon einmal gehalten hatten. Bruder Ivo kramte im Wagen, während er zu ihm sprach: „Würdest du bitte unsere Wasservorräte auffüllen? Ich habe es in der Stadt völlig vergessen.“
Ungläubig starrte Faolán den Mönch an, als traue er seinen Ohren nicht. Vor zwei Wochen erst hatte der Cellerar noch eine Predigt über mögliche Gefahren an diesem Tümpel gehalten und jetzt bat er seinen Gehilfen genau dorthin zu gehen! Was war nur in ihn gefahren?
„Nun geh schon“, verlieh Ivo seiner Aufforderung Nachdruck, als Faolán sich nicht rührte. „Du kennst den Weg und weißt genau, was zu tun ist. Leer mitnehmen, voll wiederbringen. Ganz einfach.“
Skeptisch nahm Faolán die beiden Wasserschläuche entgegen und stieg langsam vom Wagen. Noch einmal wandte er sich nach Bruder Ivo um und sah ihn mit einem auffällig breiten Grinsen ihm nachblicken. Irgendetwas musste der Mönch im Schilde führen, doch Faolán hatte nicht die leiseste Ahnung, was es sein könnte. Aufgeregt lief er los und nur einen Augenblick später hatte ihn das Unterholz verschlungen. Bald war er auf dem schmalen Pfad zur Lichtung unterwegs und sein Herz schlug immer schneller.
Am Rande der Lichtung angekommen, hielt sich Faolán zunächst im Blattwerk verborgen. Nichts regte sich im Wasser, die Oberfläche war beinahe glatt und ungestört. Einzig ein paar Libellen flogen am Ufer entlang.
Faolán hatte hier auf Svea gehofft, doch er war allein. Erneut breitete sich Enttäuschung in ihm aus. Sein sehnlichster Wunsch blieb ihm heute wohl verwehrt. Traurig schaute er auf die Wasserschläuche, dann wieder auf das Wasser. Langsam ließ er noch einmal seinen Blick über die Lichtung schweifen, doch es rührte sich nichts. Er war versucht, Sveas Namen zu rufen, doch er tat es nicht. Er wollte ihn nicht einmal den Bäumen anvertrauen.
Niedergeschlagen füllte Faolán schließlich die Tierhäute an der Quelle, blickte sich ein letztes Mal hoffnungsvoll um, und machte sich dann auf den Rückweg. Bei jedem Schritt, den er sich vom Tümpel entfernte, glaubte er seinen Namen zu hören, von einer Mädchenstimme gerufen. Oder waren da Schritte hinter ihm, die ihn einzuholen versuchten?
Einige Male drehte sich der Novize um, doch er sah niemanden. Das Rauschen der Bäume im Wind hielt ihn zum Narren, als wollten sie ihn für sein Misstrauen bestrafen.
Als er zum Wagen kam, fütterte Bruder Ivo dem Pferd gerade eine Rübe. Er hatte nicht erwartet, seinen Gehilfen so bald wiederzusehen. Wortlos bestieg Faolán den Wagen und der Mönch ahnte, was geschehen war. Er war sensibel genug, die Enttäuschung des Jungen und ihre Ursache nicht zur Sprache zu bringen, stieg ebenfalls auf den Wagen und trieb das Pferd an.
Die weitere Rückreise verlief schweigsam und bedrückt. Der Kellermeister versuchte mit einigen belanglosen Kommentaren die Stimmung zu heben, doch Faolán antwortete nicht.
Plötzlich wurde es einige Ellen vor dem Pferd unruhig. Im Unterholz bewegte sich etwas, als kämpfe jemand gegen das Strauchwerk an. Bruder Ivo zügelte das nervöse Pferd und beschwichtigte es mit ein paar Worten. Kaum war der Wagen zum Stehen gekommen, erschien mit einem Satz eine zierliche Gestalt auf dem Weg.
Gekleidet in graues Leinen, mit einem Messer am ledernen Gürtel und einer Tasche über den Schultern, kam die Person zielstrebig auf den Wagen zu, als habe sie auf diese Begegnung gewartet. Bruder Ivo beäugte sie argwöhnisch.
Faolán hingegen fühlte, wie sich seine eben noch so trostlos schlaffen Gesichtszüge zu einem breiten Grinsen wandelten. Er hatte das vor ihnen stehende Mädchen mit dem roten Haupthaar und dem verschmitzten, kessen Lächeln erkannt. Schließlich hatte er es in den vergangenen beiden Wochen unzählige Male im Geiste gesehen. Es war Svea! Die beiden Klosterangehörigen verharrten regungslos, jeder auf seine Weise gespannt.
Das Mädchen blieb neben dem Pferd stehen und packte es am Zaumzeug. Das Tier senkte den Kopf und lies sich hinter den Ohren kraulen, während es mit der Schnauze an Sveas Tasche zu knabbern begann. Das Mädchen zog eine Frucht aus ihrem Beutel und gab sie dem Gaul zu fressen.
Während das Pferd abgelenkt war, griff Svea erneut in ihre Tasche und richtete dabei einen reuevollen Blick auf den Mönch. Faolán konnte nicht sagen, ob diese Reue ehrlich gemeint oder nur aufgesetzt war. Zumindest verfehlte der Blick seine Wirkung nicht. Dann brach Svea die angespannte Stille.
„Ehrwürdiger Mönch, ich habe Eure Fahrt unterbrochen, weil ich Euch noch etwas schuldig bin.“
Bruder Ivo verstand kein Wort. Dann zog Svea ihre Hand aus der Tasche und warf dem Kellermeister etwas zu. Geschickt fing er es auf und betrachtete verdutzt einen Apfel in seiner Hand.
„Vor einigen Wochen habe ich Euch einen Apfel auf dem Markt entwendet, da mich der Hunger quälte und ich nichts als Gegenwert anzubieten hatte. Ich wollte ihn nicht stehlen, sondern nur borgen. Seht diesen Apfel als Wiedergutmachung meiner Tat an.“
Der Benediktiner nickte nur kurz, erwiderte jedoch nichts, als habe es ihm die Sprache verschlagen. Die vermeintliche Diebin verstand das Schweigen als Zeichen der Zustimmung und trat dann mit wenigen Schritten an Faoláns Wagenseite. Erneut fuhr ihre Hand in den Beutel und brachte diesmal eine kleine, orangefarbene Blume hervor, die sie Faolán reichte. Der Novize verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Stumm nahm er die Blüte entgegen und betrachtete sie. Er öffnete seinen Mund um etwas zu sagen, doch wie der Mönch war auch er unfähig zu sprechen.
Svea half ihm aus der Verlegenheit. „Lass den Kopf nicht hängen, kleiner Novize. Es wird ein nächstes Mal geben, das verspreche ich dir.“
Während Faolán überlegte, was die Worte im Zusammenhang mit der Blume zu bedeuten hatten, holte das Mädchen eine zweite, identische Blume aus ihrem Beutel und steckte sie hinter ihr Ohr. Wie selbstverständlich lag sie da in dem roten Haar eingebettet. Mit offenem Mund starrte Faolán sie an.
Svea schmunzelte vergnügt und sein Mund schloss sich langsam. Auf ihre ganz spezielle Art neigte sie ihren Kopf, blinzelte Faolán zu und wandte sich zum Gehen. Nach einigen Schritten blickte sie sich noch einmal um, hob kurz ihre Hand zum Gruß und verschwand genauso plötzlich im Unterholz wie sie aufgetaucht war.
Faolán gab ein leises, beinahe nicht zu vernehmendes „Warte …“ von sich, doch es war bereits zu spät. Svea war verschwunden und nur noch das sachte Wiegen der Äste zeugte von ihrem kurzen Auftreten. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sich der Blume in seiner Hand bewusst wurde. Sie war ein Geschenk, bemerkte er schließlich. Das erste, das er jemals bekommen hatte.
Beglückt schaute er zu Bruder Ivo hinüber, der ihn forschend anblickte. Er war auf alles gefasst, was der Kellermeister jetzt sagen würde. Und Faolán rechnete mit dem Schlimmsten, denn der Cellerar war alles andere als schwer von Begriff. Wenn er seinen Verstand nur etwas bemühte, würde er sich jetzt einiges erklären können.
Erstaunlicherweise sagte der Mönch aber gar nichts. Dann begann er plötzlich herzhaft zu lachen. Behänd warf er den Apfel in die Luft, fing ihn wieder auf und biss hinein. Während er genüsslich kaute, schüttelte er ungläubig den Kopf und sprach leise zu sich. „Und ich hatte sie die ganze Zeit für einen Jungen gehalten, ich alter, blinder Narr! Früher wäre mir das nicht passiert …“
Erneut lachte er auf, trieb das Zugpferd zur Weiterfahrt an und biss noch einmal vom Apfel ab. „Das Beste an der ganzen Sache ist, dass dieser Apfel noch viel süßer schmeckt als unsere eigenen. Möchtest du kosten?“
Faolán lehnte das Angebot mit einem Kopfschütteln ab, doch er teilte die Freude des Mönches. Genüsslich aß der Benediktiner weiter und sprach zugleich: „Glaube mir, Faolán, ich weiß genau was in dir vorgeht.“
Faolán hätte nicht überraschter sein können, denn er verstand selbst nicht, was in ihm vorging. Wie konnte es da der Kellermeister wissen, der Svea noch nicht einmal kannte? Dennoch fuhr Ivo fort: „Frage mich jetzt nicht, woher ich das weiß. Ich kann dir nur so viel verraten, dass ich am eigenen Leib erfahren habe, was du gerade durchlebst. Daher kenne ich deine Gefühle sehr gut. Wenn du gestattest, würde ich dir gerne einen Ratschlag geben.“
Faolán war erstaunt, dass der Mönch mit einem Mal so einfühlsam über dieses Thema sprach und einen Rat sogar von seiner Zustimmung abhängig machte. Vor zwei Wochen erst hatte er über das Weibsvolk gescholten, als würde man allein durch ihre bloße Gegenwart in die ewige Verdammnis stürzen. Welche Geheimnisse barg der Kellermeister in sich? Neugierig nickte Faolán, um mehr darüber zu erfahren, und der Cellerar suchte vorsichtig nach den passenden Worten.
„Möglicherweise bist du von selbst schon zu der Erkenntnis gelangt, dass man deine verwirrenden Gefühle zu dem Mädchen Liebe nennt. Diese Liebe ist allerdings eine völlig andere als die Nächstenliebe, wie sie uns die Bibel lehrt. Sie ist auch anders als die Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus. Die Art der Zuneigung wie du sie empfindest, ist aber genauso von Gott gegeben. Es gibt sie nur zwischen Mann und Frau. Nun ja, zumindest sollte es so sein, aber auch hier gibt es Ausnahmen …“
Der Cellerar bemerkte, dass er abschweifte, räusperte sich und fuhr fort: „Nun zu meinem Rat: Halte diese Gefühle für das Mädchen geheim! Erwähne sie vor niemandem, dem du nicht voll vertraust.“
Fragend hob Faolán die Augenbrauen und Bruder Ivo sprach weiter.
„Es könnte problematisch für dich werden, wenn das Wissen um deine Gefühle in die falschen Hände gerät. Man könnte sie gegen dich verwenden und dann ihr wie auch dir Schaden zufügen.“
„Merkwürdig, den gleichen Rat hat mir Ering schon gegeben. Ich verstehe allerdings nicht, wie diese, von Gott gegebene Liebe, gefährlich werden kann?“
„Du hast dich also schon jemanden anvertraut? Gut! Es ist wichtig, dass du einen Freund hast, dem du dein Geheimnis preisgeben kannst. Doch du hast nicht nur einen Freund. Auch Konrad sollte dein Vertrauen in dieser Hinsicht genießen. Er wird das Geheimnis mit Sicherheit ebenfalls für sich behalten. Doch halte dein Geheimnis auf diesen engen Kreis beschränkt. Je mehr davon wissen, umso gefährlicher ist es.“
„Von welcher Gefahr sprecht Ihr immer? Meint Ihr, dass Drogo einen weiteren Grund bekommen könnte, über mich herzufallen? Damit werde ich schon fertig! Es wäre nicht die erste Häme und Prügel, die ich einstecken müsste.“
„Ich weiß sehr wohl, dass du damit zurechtkommst, unter anderem auch mit Hilfe deiner beiden Freunde. Doch glaube mir, der Kreis deiner Gegenspieler ist weitaus größer und einflussreicher, als du dir im Augenblick vorstellen kannst. Er beschränkt sich keineswegs nur auf Drogo und dessen Freunde.“
Jetzt verstand Faolán überhaupt nichts mehr. Welche Gegenspieler sollte er als kleiner, unscheinbarer Novize außer diesem aufgeblasenen Grafensohn denn noch haben?
Bruder Ivo lieferte unaufgefordert die Antwort.
„Es ist schwer zu erklären, warum es sich so verhält. Aber eines solltest du wissen: Es gibt im Kloster einige Mönche, die meine und des Abtes Fürsorge um dich noch nie befürwortet haben. Ich will hier nur den Namen Walram erwähnen und du wirst verstehen, was ich meine.“
Plötzlich erinnerte sich Faolán wieder an Prior Walrams brutale Züchtigungen nach dem berüchtigten Vorfall im Skriptorium. Jetzt begriff er, dass die Strafe damals nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen den Abt und den Cellerar gerichtet war. Walram war ein Gegner des Abtes, das wusste Faolán schon lange. Doch niemals zuvor hatte er geglaubt, dass Begünstigte des Abtes dadurch den Prior ebenfalls zum Gegner haben würden.
„Es gibt auch Menschen außerhalb des Klosters, die das Wissen um das Mädchen gegen dich nutzen könnten. Selbst wenn sie dieses Wissen nicht sofort gegen dich verwenden könnten, würden sie geduldig auf eine Gelegenheit warten. Je härter dich ihr Schlag trifft, umso mehr werden sie jubeln. Wer diese Personen sind und warum sie so handeln würden, kann ich dir im Augenblick nicht erklären. Eines Tages allerdings, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wirst du alles erfahren und begreifen.“
Faolán verstand zwar kein Wort des Cellerars, doch er nahm sich vor, den Ratschlag des Mönches zu befolgen. Er nickte zustimmend und der Cellerar war sichtlich erleichtert. Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich wieder auf Ivos Lippen. „Ein Mädchen war es also die ganze Zeit. Ich Narr, ha!“
Noch einmal erklang sein herzhaftes Lachen im sonst so stillen Wald, während sich der Wagen unaufhaltsam weiter von der Stätte dieser außergewöhnlichen Begegnung entfernte.
„Willst du mir nicht ihren Namen verraten?“, fragte der Kellermeister ganz beiläufig. Faolán schwieg. Nein! Er würde ihren Namen nicht preisgeben. Weder Bruder Ivo, noch seinen Freunden würde er ihn nennen. Es sollte sein Geheimnis bleiben, das er mit niemandem teilen wollte.
Der Wagen holperte weiter über Steine und Wurzeln. Noch einmal blickte Faolán zurück, sah in der Ferne die Stelle, wo Svea gestanden hatte. War es tatsächlich Liebe, die er für sie empfand? Oder war es nur eine besondere Freundschaft, die beide miteinander verband? Er wusste es nicht. Nur eines war ihm klar: Was immer es auch sein mochte, es war zumindest etwas Besonderes und Einzigartiges. Alles andere interessierte ihn im Augenblick nicht.