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1. Kapitel

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16. Juli, 12:00 Uhr mittags, Manhattan Beach, Los Angeles

Die Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Ich krallte die Hände um meine dampfende Kaffeetasse und las die Schlagzeile ein zweites Mal: Mädchen Nummer Vier. Eine Stadt unter Schock.

Der Duft meines morgendlichen Wachmachers stieg mir in die Nase. Obwohl die Wärme meiner Tasse bis in meine Ellbogen kroch und ich mich in einen gemütlichen Frottee-Bademantel gewickelt hatte, fröstelte es mich.

"Mädchen Nummer Vier", sprach ich leise vor mich hin, während mein Blick aus dem Küchenfenster wanderte, wo die Sonne am Horizont sich langsam in den wolkenlosen Himmel schob. Das mediale Interesse an den Mädchen wurde immer größer. Jeder Artikel brachte weitere Details zutage, eines grauenvoller als das andere.

Mädchen Nummer Vier.

Wie die anderen drei galt auch sie eine Weile als vermisst, bevor man sie gefunden hatte. Jedoch, und das war das Besondere an diesen Fällen, fand man nie die Leichen in einem Stück, sondern stets nur ihre Arme. Sie lagen auf einer Parkbank. Nicht achtlos zurückgelassen, damit die Raben das Fleisch von den Knochen picken, nein, der Mörder hatte sie immer über Kreuz gelegt und sie zuvor, wie es hieß, "beinahe liebevoll" in Aluminiumfolie eingewickelt. In der Stadt sprach man über kein anderes Thema, die Nachrichten dudelten es rauf und runter, jeder hatte zu den Morden eine Meinung, es gab Spekulationen und Verdächtigungen, doch ganz gleich wie seriös oder reißerisch die Medien darüber berichteten, in einem waren sich alle einig: dass man es in dieser Angelegenheit mit einem verdammt gefährlichen Menschen zu tun hatte.

Es begann damit, dass im letzten Frühjahr ein Mädchen verschwand. Man hatte ihren Rucksack, bis an den Rand gefüllt mit Klamotten, in einem Schließfach in der Union Station gefunden, also ging man davon aus, dass sie von zu Hause abhauen wollte. Ein paar Wochen später fand man ihren Ausweis zwischen einem Sitz in einem Zugabteil eines Fernzuges in Richtung San Diego. Damit stand für die Polizei fest, dass sie in den Zug eingestiegen war, die Vermisstenanzeige der Eltern wurde zu den Akten gelegt. Warum sie ihren Rucksack in einem Schließfach zurückließ, blieb ein Rätsel. Die Presse spekulierte, dass ihr Ausweis absichtlich in den Zug gelegt wurde, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu locken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit aber war die Sechzehnjährige nie in den Zug eingestiegen. Als drei Monate später zwei abgetrennte Arme gefunden worden waren, die per DNA-Analyse dem verschwundenen Mädchen zugeordnet werden konnten, wurde aus einem Vermisstenfall ein Mordfall. Die Polizei ermittelte unter Hochdruck. Dann wurden die Arme eines zweiten Mädchens gefunden und wieder gab es keine Leiche. In den Medien geisterten Gerüchte herum, die angeblich aus einer sicheren Quelle des Los Angeles Police Departments stammen sollten. Diese Gerüchte besagten, dass etliche Ermittler davon ausgingen, dass die Mädchen trotz des Verlustes ihrer Arme noch leben könnten.

Bei dieser Vorstellung lief mir ein eiskalter Schauer über den Nacken. Zuerst hatte ich den Fall nicht verfolgt, als waschechte New Yorkerin war ich einiges gewöhnt, doch das Verschwinden eines dritten Mädchens weckte mein Interesse.

Und jetzt hatte es Mädchen Nummer Vier getroffen.

Zu meinem Entsetzen wurden die Arme des letzten Opfers zwei Blocks entfernt von meiner Wohnung - ich wohnte damals in Manhattan Beach – gefunden.

Ich legte die Hände enger um meine Tasse. Der Gedanke daran, dass ich an der Stelle, an der die Körperteile entdeckt wurden, nur Stunden zuvor noch entlang geschlendert war, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Wann denkt man darüber nach, dass so grauenhafte Dinge vor der eigenen Haustür geschehen? Man fühlt sich zuhause sicher, es ist die Gegend, die man kennt, wo man womöglich aufgewachsen ist. Und immer dort, wo man sich heimelig fühlt, können Häuser gebaut werden oder Restaurants pleitegehen, aber ein Mord geschehen? Nein, ein Mord ist das letzte, was einem als Erstes in den Sinn kommt, wenn man an seine Gegend und seine Nachbarschaft denkt. Ich bildete da keine Ausnahme. Ich redete mir - wie die meisten Menschen - ein, dass schlimme Dinge überall auf der Welt passieren, nur nicht dort, wo man lebt. Unheimlich naiv, wenn man bedenkt, dass die grausamsten Taten in den eigenen vier Wänden geschehen, verübt von Leuten, die hübsche Blumentapeten haben und einen süßen Hund.

Ich nahm einen Schluck Kaffee und blätterte weiter, ich brauchte Ablenkung. Das Feuilleton würde mich über die neuesten Kinofilme informieren. Wie wäre es mit einer Komödie? Oder mit einem Liebesfilm? Irgendein Film, in dem das Leben bejaht wird! Das Problem: Aus solchen Filmen machte ich mir nicht das Geringste. Seit ich ein kleines Mädchen war, fürchtete ich mich, wie viele Kinder, im Dunkeln und bekam ein flaues Gefühl in der Magengegend, wenn im Treppenhaus das Licht kaputt war. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass ich Psychothriller liebte und auf Horrorfilme stand. Im echten Leben würde ich es nicht eine Sekunde nachts auf einem Friedhof aushalten, aber ich verschlang Filme, die an genau solchen Orten spielten. Angst hatte auf mich eine wechselhafte Wirkung. In der Realität schockierte sie mich, aber als Entertainment war ich von ihr fasziniert. Obwohl ich noch vor einer Minute über einen Serienmörder gelesen hatte, der Frauen verstümmelt, vermieste mir das nicht die Lust auf den neuesten Horror-Streifen.

Doch die Seite mit den Kinokritiken fehlte.

"Mensch Kolberg, du lernst es nie", schimpfte ich vor mich hin und verdrehte die Augen.

Die Zeitung wie ein normaler Mensch zu lesen und anschließend wieder ordentlich zusammenzufalten, war scheinbar zu viel verlangt. Aber ich wollte nicht meckern, schließlich bekam ich sie von ihm geschenkt.

Arvid Kolberg wohnte ein Stockwerk unter mir. Als Journalist arbeitete er bei einem stadtbekannten Nachrichtensender. Ich fand es wirklich nett von ihm, wenn er mir auf dem Weg zur Arbeit seine ausgelesene Zeitung auf meine Fußmatte legte. Wie im Fünf-Sterne-Hotel fühlte ich mich jedes Mal, wenn ich die Tür öffnete. Genauso nett war es von dem Kauz, wenn er mir hin und wieder Artikel mit Kugelschreiber ankreuzte, solche, von denen er wohl meinte, sie könnten mich interessieren. Da waren dann Kringel um Artikel über Kunst-Workshops oder Restaurants.

Die Texte über die verschwundenen Frauen waren nie gekennzeichnet.

Ich zweifelte daran, ob Kolberg die Passagen überhaupt für mich und nicht doch für sich selbst ankreuzte - wie Journalisten das hin und wieder machen - aber ihn deswegen anzusprechen, fand ich übertrieben. Außerdem kannte ich ihn nicht gut genug, naja, ich kannte ihn, wie man seine Nachbarn eben so kennt. Was ich von ihm wusste, war, dass er nachts gern spazieren ging und nicht nur beruflich, sondern auch privat viel schrieb. Und ich vermutete, dass er zu viel trank. Jedenfalls sahen seine Augen aus, als würde seine Leber nicht mehr lange machen.

Eines Tages hatte er mich gefragt, ob es mir etwas ausmachen würde, ein paar Pakete für ihn in Empfang zu nehmen. Im Gegenzug, so schlug er vor, könnten wir uns seine Tageszeitung teilen. Ich erschrak furchtbar, denn ich hatte sie zuvor manchmal aus seinem Briefkasten geklaut. Aber ich war mir sicher, dass mich niemand gesehen hatte. Was war Kolberg noch außer Journalist? Detektiv etwa? Obschon ich die Pakete für meinen Nachbarn auch aus reiner Nachbarschaftshilfe angenommen hätte, nahm ich das Angebot gern an.

Es stellte sich heraus, dass Kolberg ständig Pakete bekam. Aus Asien, Afrika, sogar aus Deutschland. Manchmal klingelte die Post bis zu drei Mal am Tag. Und irgendwann fragte ich mich, was da zum Geier nur ständig für ihn geliefert wurde. Darauf angesprochen, winkte er mit einer gleichgültigen Geste ab und sagte: "Kindchen, da sind Manuskripte drin, nichts weiter".

Das Merkwürdige aber war, dass diese Päckchen schwer wie Blei waren. Wie viele Seiten waren da drin? Zehntausend?

Kolberg war als Schreiberling ein Blattmacher der alten Schule und schwor immer noch auf bedrucktes Papier. All seine Texte, so hatte er mir einmal stolz berichtet, tippte er noch auf einer uralten Schreibmaschine, von denen er mehrere besaß. Auf die Frage, was er damit vorhätte, lächelte er stolz und sagte, dass er es einfach nur schön finden würde, sie zu sammeln, wie er überhaupt alles, was ihn interessierte, gern aufhob. "Sind Sie so etwas wie ein Messi?", hatte ich leicht übergriffig gefragt und Kolberg entgegnete in seiner leicht schrulligen Art: "Ach, Kindchen, du hast doch keine Ahnung."

Wahrscheinlich hortete er, außer Schreibmaschinen und Manuskripten, auch Briefmarken, Modellautos, getragene Slips und Körperteile seiner Mutter.

In Gedanken versunken schlürfte ich meinen Kaffee weiter. Plözlich huschte mir die Frage durch den Kopf: Und was, wenn Kolberg die Mädchen auf dem Gewissen hatte? Also seltsam genug war er jedenfalls. Diese Vorstellung versetzte mich schlagartig in eine grausig morbide Stimmung, doch bevor meine Kopf begann, verschiedenste Szenarien über Kolbergs mögliche Mordlust zu kreieren, maßregelte ich mich selbst: "Oh Mann, Juliet du guckst einfach zu viele Filme!"

In jener Zeit bekam ich nicht das Geringste auf die Reihe. Die letzten zwölf Monate hatte ich mich gehenlassen. Ich umschiffte meine Alltagsprobleme mit Tagträumereien oder betäubte sie, wie mein werter Nachbar, mit gutem Wein.

Als ich vor zwei Jahren mit Anfang dreißig von New York nach L.A. zog, hatte ich, wie die meisten die in die Stadt der Engel kommen, große Pläne. Zuerst versuchte ich einen Job in der Filmindustrie zu ergattern. Den Platz für meinen Oscar hatte ich vorsichtshalber im Bücherregal schon mal freigeräumt. Doch schnell merkte ich, dass ich nicht die einzige bin, die Drehbücher schreibt und man in der Branche nur Erfolg hatte, wenn man hineingeboren wurde oder gut genug aussah, um sich hochzuschlafen. In der Regel bekam ich nicht mal Antwort, wenn ich ein Skript verschickte. Mein Traum war geplatzt! Nach unzähligen Papierkorbprojekten hatte ich aufgegeben und war, um es optimistisch auszudrücken, in der Selbstfindungsphase angelangt. Als erfolglose Drehbuchautorin trieb ich also ohne festes Einkommen von Tag zu Tag desillusionierter durch die Stadt. Und das monatelang. Auf Anraten meiner Eltern entschloss ich mich, "etwas Anständiges" zu machen. In einem schwachen Moment schrieb ich mich tatsächlich für ein Wirtschaftsstudium ein. Ich und Wirtschaft - der Witz schlechthin! Aber wie sagt man: In der Not frisst der Teufel Fliegen.

An der Uni galt ich als verkorkst, meine Kommilitonen - alle bis auf Kristen Daniels - hatten mich als Eigenbrötlerin abgeschrieben. Niemand hatte Lust, mit mir zu lernen. Die letzten Klausuren hatte ich vergeigt. Nach drei lächerlichen Semestern war ich keinen Fingerbreit davon entfernt, das Studium gehörig gegen die Wand zu fahren. An das Geld, das ich meine Eltern bis dahin gekostet hatte, wollte ich gar nicht erst denken. Obwohl ich mir im Klaren darüber war, wie kurz ich davor stand, von der Uni zu fliegen, unternahm ich nichts, um diesen Umstand zu ändern. Stattdessen lungerte ich den lieben langen Tag in meiner Wohnung herum und hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, den Nachbarn in ihre Fenster zu gucken. Meine Schlafklamotten und den Bademantel zog ich oft erst am Abend aus, wenn ich in der Bar zum Spätdienst antraben musste. Wenigstens das bekam ich hin: mein bescheidenes Einkommen mit Kellnern aufzubessern. Anfangs hatte ich gedacht, dass es kein Problem sei, nachts zu arbeiten, schließlich muss man ja tagsüber studieren. Aber schon nach wenigen Nachtschichten brachte ich es nicht einmal mehr fertig, mich wenigstens in eine der Spätvorlesungen zu setzen.

Vor Mittag kam ich nie aus dem Bett. Bis zu meiner Exmatrikulation, ich zählte bereits die Tage, war es nur noch eine Frage der Zeit. Wenn ich mit meiner Tagesroutine wie Zeitung lesen und stundenlang frühstücken fertig war, machte ich mich entweder für meine Schicht in der Bar fertig oder saß bis in die Abendstunden auf der Fensterbank meiner Küche, von wo aus ich den gesamten Straßenbereich, samt angrenzender Häuser, bestens im Blick hatte. Und wie es sich für einen echten Nachbarschafts-Spion mit voyeuristischen Tendenzen gehört, hatte ich mir ein Fernglas zugelegt. Dann zündete ich mir eine Kippe nach der nächsten an und schaute wie ein Spanner in fremde Stuben.

Es hatte etwas Schmieriges, aber mein eigenes Leben fühlte sich dadurch aufregender an.

Ich wusste inzwischen einiges über meine Nachbarn. Es wirkte auf mich so faszinierend, dass mir in den Sinn kam, mein Studium sofort an den Nagel zu hängen und das zu machen, was ich wirklich wollte: Detektiv spielen, Leute beobachten, filmen. Am liebsten stellte ich mir vor, dass ich wie James Stewart in Hitchcocks: "Das Fenster zum Hof" erst einem dunklen Geheimnis und dann einem Mörder auf die Spur kommen würde. Natürlich war das nichts als eine Ausrede, um mich vor den lahmen Vorlesungen über Finanzwesen zu drücken.

Alles, was nach Verbrechen roch, zog mich an. Es wäre eine Lüge zu behaupten, die verschwundenen Mädchen würden meine Phantasie nicht beflügeln. Ich musste pervers sein. Anders konnte ich mir mein Interesse an diesen unaufgeklärten und wahrscheinlichen Morden nicht erklären.

Ich blätterte zurück zu dem Artikel und las ihn erneut. Dann schnappte ich mir meine Kaffeetasse und machte mich wieder ans Beobachten, im Hinterkopf stets die Frage, wer von meinen Nachbarn ein Mörder sein könnte. Verdächtig waren sie alle.

Aluminium-Mädchen

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