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2. Kapitel

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16. Juli, 12:00 Uhr mittags, Manhattan Beach, Los Angeles

Seit die Verbrechen bekanntgeworden waren, malte ich mir die schlimmsten Szenarien aus. Wurden ihnen die Arme bei lebendigem Leibe abgetrennt oder post mortem? Die Schmerzen, die sie gehabt haben müssen, die Angst in ihren Augen, das viele Blut und die Einsicht, dass niemand mehr kommen wird, um sie zu retten - ich konnte an nichts anderes mehr denken. Hatte der Mörder die Knochenfräse angesetzt, als sie noch lebten? Ergötzte er sich an ihrem Todeskampf? Sog er ihre letzten Atemzüge in sich ein? Beruhigte er sie womöglich wie eine Mutter ihr Kind, wenn es schlecht geträumt hat? Und wenn sie in ihrer Verzweiflung wimmerten: Hat er ihnen ein in Verdünnung getränktes Taschentuch in den heiseren Mund gestopft, das Radio lauter gedreht und gesummt, während sie vor Todesangst fast krepierten?

Alles war möglich.

Der Täter, der die Stadt seit mittlerweile fast einem Jahr in Angst versetzte, konnte überall sein. Warum nicht auch in meiner Wohngegend? Schließlich wurde das zweite paar Arme nicht unweit meiner Wohnung entdeckt! Vielleicht war es der Hausmeister? Er hatte Zugang zu allen Hinterhöfen der Straße, er kannte sich aus, er hätte die Möglichkeit, die restlichen Körperteile schnell und ohne viel Aufsehen verschwinden zu lassen. Seit Wochen kamen Sägegeräusche aus seiner Garage.

Aber vielleicht lebten die Mädchen ja wirklich noch? Wenn ein Mensch sofort medizinisch versorgt wird, führt ein abgehackter Arm nicht unweigerlich zum Tod. Was war mit dem Typen, der mir schräg gegenüber in einer der heruntergekommenen Holzhütten lebte? Das Gebilde, in dem er wohnte, war vielleicht vor vielen Jahren mal ein Haus, aber das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Nixon noch Präsident war. Mit schmierigen Haaren und entzündeten Augen saß er manchmal den ganzen Tag auf seiner vom Schimmel befallenen Veranda und starrte, gelegentlich an einem Bier nippend, ziellos in die Luft. Ich bekam jedes Mal Angst, wenn ich ihm auf der Straße begegnete.

Mr. Noble, der im ersten Stock des Seitenaufgangs wohnte, war auch verdächtig, erst recht seine Gattin. Ich hatte gesehen, wie sie ihn gewürgt hatte. Mrs. Noble war so außer sich, dass sie nicht bemerkte, dass man sie dabei beobachten konnte, weil sie die Gardinen zur Seite gezogen hatte und das Fenster sperrangelweit offenstand.

"Hör auf, ich krieg keine Luft", hatte Mr. Noble gebrüllt, aber das animierte sie nur dazu, noch fester zuzudrücken. Man hatte von den beiden nicht gerade den Eindruck, dass sie gute Menschen waren.

Und so tat ich, vor allem seit die Morde geschehen waren, kaum etwas anderes, als vor meinem Küchenfenster zu sitzen und in die Häuser und Appartements der mutmaßlichen Mädchenmörder zu schauen. Ich beobachtete Pärchen, die sich erst küssten und dann schlugen, einsam wirkende Tanten, die mit ihren Katzen dinierten, eine Frau, die nackt Gymnastik machte und einen jungen Mann, der Fleisch verdächtig beackerte, bevor er es briet.

Was sich jedoch hinter den halb zugezogenen Vorhängen des Appartements abspielte, das seitwärts meines Küchenfensters im zweiten Stock des Nachbarhauses lag, interessierte mich besonders. Nie waren die Fenster zum Lüften geöffnet, unten am Klingelschild war kein Name angebracht und doch war es unverkennbar, dass dort etwas Seltsames vor sich ging. Immer um die gleiche Zeit ging das Licht an. Etwa für eine Stunde. Zuerst dachte ich, es handle sich um eine dieser Zeitschaltuhren, wie man sie etwa aktiviert, wenn man verreist, doch eines Nachts, ich war gerade von meiner Schicht in der Bar heimgekommen, fiel schlagartig etwas gegen die Vorhänge. Zweimal hintereinander. Wie gebannt starrte ich auf das Fenster.

Nichts geschah. Minutenlang.

Dann fiel erneut etwas dagegen. Ich bildete mir ein, eine Frau gesehen zu haben. Dann dachte ich, dass es ein Mann war, der sich offensichtlich mit Händen und Füßen wehrte. Doch plötzlich tat sich nichts mehr und ich zweifelte schnell an meinen Beobachtungen. Hatte ich mir das etwa doch nur eingebildet? Hey, Fräulein, du solltest nicht ständig zu tief ins Glas schauen, mahnte ich mich selbst.

Eins war klar: Wenn ich an der Universität noch was reißen wollte, musste ich, erstens, damit aufhören, hinter jeder Tür ein Verbrechen zu vermuten, zweitens, meine Fensterbank abreißen und drittens, dringend weniger Alkohol trinken.

Meine Generalverdächtigungen waren auch einer der Gründe, warum ich allein lebte. Früher wohnte ich mit zwei Mitbewohnerinnen zusammen, doch das WG-Leben geriet aus den Fugen, als ich sie beschuldigte, Geld gestohlen zu haben. Obwohl sie beteuerten, nichts damit zu tun zu haben, ermittelte ich weiter vorsorglich in ihre Richtungen. Und zwar nur in ihre Richtungen. Das Geld tauchte zwar schnell wieder auf, aber das Vertrauen war zerstört. Ich musste einsehen, dass ich übers Ziel hinausgeschossen war. Doch 140-Quadratmeter für einen allein können verdammt einsam machen. Es war an der Zeit, jemanden Neues zu suchen. Mann oder Frau war mir egal, solange es bei nur einer Person bleiben würde. Wenn ich aus der Sache eines gelernt hatte dann, dass ich für eine größere Wohngemeinschaft nicht kompatibel war.

Auf der Suche nach einem neuen Mitbewohner hatte ich ein paar Anzeigen geschaltet. Aber das Feedback darauf war unbefriedigend, lediglich zwei Leute hatten Interesse bekundet - einer davon war ein heruntergekommener Typ, den ich bereits im Flur abfrühstückte, weil er mir mit seinen geweiteten Pupillen gruselig vorkam.

Die andere Person klingelte eines Nachmittags bei mir und sollte mein Leben von da an gehörig auf den Kopf stellen.

Ich hatte mich fast schon damit abgefunden, nicht so schnell jemand Geeigneten zu finden, als es plötzlich klingelte.

Leicht genervt schlurfte ich meinen langen Flur hinunter, vorbei an den Paketen, die Kolberg seit Tagen nicht abgeholt hatte, und öffnete die Tür. Als ich die Frau, die davorstand, erblickte, dachte ich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich sie zugelassen hätte.

Aluminium-Mädchen

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