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Kapitel 6

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Dorothea Merten verkaufte gerne Schreibmaschinen und hatte ein quasi erotisches Verhältnis zu vielen von ihnen, jedenfalls durchströmten sie angenehme Gefühle, wenn sie die monströsen Gebilde anschauen und probieren durfte. Eben hatte sie ein Wort gedacht, da stand es auch schon auf dem Papier. Wie gedruckt und für die Ewigkeit geschaffen, ein Wunderwerk von Menschenhand, ein Geschenk der Götter. Obwohl sie die Mechanik bis ins Einzelne durchschaute, war das Ganze etwas Magisches für sie. Zauberei. Nur wer eine Schreibmaschine besaß, zählte bei ihr, wer seine Briefe mit der Hand verfasste, war auf der Stufe der Primaten und der Neandertaler verblieben. Berührte sie die Tasten, war sie so glücklich wie ein Kind, dem man Farbstifte und einen Block gegeben hatte: Sie konnte sich öffnen und ihrer Phantasie freien Raum lassen, sich so richtig austoben und alles herauslassen, was sich in ihrem Unbewussten angesammelt hatte. Urschreie ausstoßen, Märchen erzählen, schöpferisch sein, sich eigene Welten schaffen. Immer wieder versuchte sie es in freien Stunden mit Gedichten, Kurzgeschichten und nun sogar einem richtigen Roman. Blind schreiben konnte sie nicht, das Ein-Finger-Such-System musste ihr genügen. Doch lustvoll wie ein Raubvogel, der nach unten stieß, um einen fetten Hasen zu schlagen, fuhr ihr rechter Zeigefinger auf den richtigen Buchstaben hinunter, war der endlich gefunden. Die Beute war gemacht, wenn der Hebel auf die Walze schlug und seinen Abdruck hinterließ. Blau oder schwarz, je nach eingelegtem Farbband. Sofern es kein älteres Modell mit verdeckter Walze war. Schrieb sie zu schnell, verhakten sich die Typenhebel und mussten vorsichtig wieder voneinander getrennt werden. Hatte sie Pech und verbog sie die dabei, hing Günther Beigang, der Chef, vor Wut an der Decke. Da war also Vorsicht geboten. Auch wenn sie zu viel radierte und die Maschinen, die den Kunden vorgeführt wurden, dadurch unansehnlich wurden. Sie war 46 Jahre alt, fast 1,65 Meter groß und von kräftiger Gestalt, hatte braune Augen und rotbraun gefärbte Haare und ließ beim Lachen eine Goldkrone blitzen.

Schreibmaschinen-Beigang war seit fast 25 Jahren eine gute Adresse. Das Geschäft lag in der Linkstraße, einer nicht unwichtigen Verbindung zwischen Reichpietschufer und Potsdamer Platz, die allerdings im Krieg überdurchschnittlich stark gelitten hatte. Die Hausnummern gingen von 1 bis 46, und zerstört waren die Häuser 1 bis 15, 17, 20, 22 und 25. Neue Schreibmaschinen waren Mangelware, denn überall lagen die Fabriken in Schutt und Asche. Von »Olympia« in Wilhelmshaven hieß es, dass die Produktion erst wieder 1951/52 anlaufen werde. Aber Beigang hatte so seine Verbindungen zu Händlern, die Maschinen über die Zonengrenze schmuggelten. In der DDR, wo man in Sömmerda schon wieder arbeitete, kostete eine Reiseschreibmaschine vom Typ Erika mit Kunstlederkoffer an die 350 DM-Ost. Beigang bekam sie für 250 DM-West, was für den, der sie über die Grenze gebracht hatte, beim Tageskurs von etwa 1:6 eine hübsche Summe einbrachte, für die er dann viele neue Ost-Maschinen kaufen und verscherbeln konnte …

Der wichtigste Kunde an diesem Tag war der Inhaber eines kleinen Verlages in der Potsdamer Straße. Nicht weil Dorothea Merten beim Verkauf einer Schreibmaschine mehr eine Provision bekommen hätte oder vom Chef besonders gelobt worden wäre, behandelte sie ihn mit besonderem Vorrang, sondern wegen der besseren Chancen für ihren großen Roman, wenn er denn zu Ende geschrieben worden war.

Der Verleger war am Klagen. »Wir haben Autoren, die liefern ihre Manuskripte in einem Zustand ab … Ich kann Ihnen sagen! In Sütterlin und mit Kopierstift geschrieben. Wenn ich damit zum Setzer gehe, tritt der in’n Streik. Also muss ich eine meiner Damen bitten, das Ganze vorher abzutippen. Was die aber sehr ungern tun …« Er warf einen prüfenden Blick zu ihr hinüber. »Wenn Sie sich nach Feierabend ein paar Mark dazuverdienen möchten …«

»Das schon, aber ich schreibe selber …« Dorothea Merten errötete. Als würde sie jemandem ganz verschämt ihre Liebe eingestehen.

Der Verleger lachte. »Was schreiben Sie denn: Rechnungen, Mahnungen?«

»Nein: kleine Geschichten … und jetzt einen Roman.«

»Oh … Wenn Sie mir das nötige Papier dafür mitliefern, drucke ich ihn gern. Haben Sie diesbezügliche Beziehungen zu Alliierten?«

Dorothea Merten war zutiefst verwirrt. »Nein, ich … Es ist die Geschichte der Laubenkolonie, in der ich aufgewachsen bin. Eine Familie wird ausgebombt und wohnt dann da … Im Baumschulenweg. Daher kommt dann auch der Titel: Kolonie Südpol … Es ist eine Liebesgeschichte, die …«

»Machen Sie mal …« Der Verleger gab sich jovial. »Ich lese’s gerne mal, wenn es fertig ist.«

Als er gegangen war, kam ihr Chef zu ihr und sah sie tadelnd an. »Bitte, Fräulein Merten, Sie verscheuchen mir ja die Kunden. Der Herr Doktor Düker kommt doch bestimmt nicht wieder, wenn Sie ihn mit Ihren Anliegen behelligen.«

»Entschuldigung, aber …«

»Ich möchte das nicht noch einmal erleben.«

»Jawohl, Herr Beigang.«

Der Chef war nicht gut auf sie zu sprechen, nachdem sie ihn mehrmals abgewiesen hatte. Obwohl er immer wieder beteuerte, wie glücklich er mit seiner Erna sei und gerade erst silberne Hochzeit gefeiert hatte, wollte er ihr in einem fort an die Wäsche. Ihre Schwester sagte immer: »Der sollte Beischlaf heißen und nicht Beigang.« Da er im Krieg einen Arm verloren hatte, den rechten noch dazu, konnte sie sich aber immer schnell wieder befreien, wenn er sie zu umarmen suchte. Zudem hatte er ein Glasauge, das immer herauszufallen drohte, wenn er allzu stürmisch wurde. Nun ja, sie konnte froh sein, überhaupt Arbeit zu haben. An sich war sie gelernte Buchhalterin, aber da es im Schreibmaschinenladen nicht viel zu verbuchen gab, war sie zumeist als Verkäuferin im Einsatz. Kinder hatte sie keine, verheiratet war sie zwar, lebte aber von ihrem Mann getrennt, wenn auch noch in derselben Wohnung. Doch insgesamt war sie alles andere als depressiv. Krieg und Blockade waren zu Ende, sie hatte überlebt und sie konnte jeden Abend in andere Welten flüchten, wenn sie zu Hause an ihrer alten Maschine saß und schrieb.

»Feierabend!« Punkt 18 Uhr gab ihr Beigang die Weisung, die Jalousien herunterzulassen. Das Geschäft konnte sie dann nur noch durch Hintertür und Flur verlassen. Zu Zeiten der Stromsperren war das immer grässlich gewesen, nun aber, da die Birnen alle wieder brannten, genoss sie es. Sie wohnte in Spandau, in der Pichelsdorfer Straße, doch heute ging es nicht nach Hause, sondern zu ihrer Schwester nach Weißensee hinaus. Der Adventskaffee war nachzuholen.

Ilse zuliebe fuhr sie nicht mit der S-Bahn vom Potsdamer Platz nach Weißensee, sondern setzte sich in die 74. Ihre Schwester war Fahrerin bei der Straßenbahn, stationiert auf dem Betriebshof Treptow/Elsenstraße der BVG-Ost, der BVB. Die Sache war außerordentlich kompliziert. Seit dem 20. März 1949 galt in Berlin-West nur noch die D-Mark als Zahlungsmittel, und auf den durchgehenden Linien wechselten deshalb an den Sektorengrenzen die Schaffnerinnen und Schaffner. Die Wagenführer hingegen blieben dieselben. Saß Ilse Breitenstein in den Wagen der Linie 3 an der Kurbel, die eine solche Gemeinschaftslinie war, so fuhr sie von Treptow/ Elsenstraße (Ost) zur Seestraße (West) und erlebte den besagten Schaffnerwechsel an der Bösebrücke. Sie erzählte viel von dem, was sie im Dienst erlebte, denn Straßenbahn, das war ihr Leben. Es ging schon los, kaum dass sie sich begrüßt hatten.

»Am liebsten fahr’ ich ja auf den Verbundzügen, die mit dem Mitteleinstieg – TM 31, 33 und 36 –, weil die immer schnell anziehen, neulich hab’ ich aber mal wieder ’n T 33 U abbekommen – ›Stube und Küche‹ …« Diese Triebwagen hießen bei den Berlinern so, weil ihr großer Innenraum durch eine Mitteltür in ein größeres Abteil für Nichtraucher (die Stube) und ein kleineres Abteil für Raucher (die Küche) unterteilt war. »… morgens, alle auf dem Weg zur Arbeit, und alle hatten’s eilig. Aber fast nur Raucher an Bord … und das Raucherabteil in Fahrtrichtung vorn. Ich rufe immer wieder: ›Durchtreten bitte, sonst kippen wir!‹ Doch die Leute sind stur. Und was passiert? Erst wippt der Wagen, dann knallt mir der Fangkorb auf die Schienen und verhakt sich da … Aus und vorbei.«

Dorothea Merten liebte ihre Schwester. Ilse war drei Jahre älter als sie und das, was die Berliner einen Gemütsathleten nannten. Waldemar, ihr Mann, war noch immer in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und arbeitete irgendwo bei Workutsk in den Wäldern. Ihre Schwiegermutter kam jeden Tag vorbei, um die beiden Kinder zu versorgen, Jörg und Hannelore. »Uns geht’s eigentlich ganz gut. Wenn’s uns besser ginge, wär’s kaum auszuhalten.« Mit Walter Ulbricht und der SED hatte sie keine Schwierigkeiten. »Die tun mir nischt, und ick tu’ ihnen nischt.« Was sie am Arbeiter-und-Bauern-Staat so schätzte, war ganz einfach: »Bei die haben wir Frauen noch die meisten Chancen. Im Westen sitzen nur Männer anne Kurbel.« Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie auch richtig Deutsch, doch warum sollte sie sich Mühe geben, wenn sie bei sich zu Hause an der Kochmaschine saß und Muckefuck trank. »Da könn’n se mir ma alle.«

Für Dorothea Merten war Ilse schon immer die Glucke gewesen, und so fühlte sie sich auch heute pudelwohl bei ihr. Erst einmal wurde tüchtig geklatscht und getratscht.

»Wat macht’n Rudi? Hockta noch imma bei dir rum?«

»Ja, aber nur, weil er keine Wohnung findet. Margot hat ihm ja die Stelle bei Siemens verschafft, als Bürobote im Schaltwerk, aber …«

»Wenn det ma gut geht: der als gelernta Schlächta.«

»Das hat er doch nur lernen müssen, um mal das Geschäft seines Vaters zu übernehmen. Er ist doch viel zu intelligent dazu.«

»Nachtigall, ick hör dir trapsen: Du liebst ihn imma noch.«

»Nein, Ilse!« Sie bestritt das ganz energisch.

»Na, hoffentlich. Ick hab’ ja imma ’n bisschen Angst um dich, wenna in deina Nähe is. Der Kerl hat so wat … Und bei dem Beruf, den er gelernt hat, da kommta denn mit dem kleenen Hackebeilchen und macht Schabefleisch aus dir. Wie bei die Leiche, die se da neulich am Stettiner Bahnhof jefunden ham, so schön in kleene Portionen zerlegt.«

Dorothea Merten zog sich der Magen zusammen. »Hör auf, mir vergeht der Appetit.«

»Keene Angst, meine Kleene, bei mir jibtet nur Rohkost heute.« Obwohl sich die Versorgungslage der Berliner Bevölkerung schon entscheidend verbessert hatte, schwor Ilse Breitenstein noch immer auf die Rezepte der Nachkriegszeit, denn: »Jesünda kannste ja nich leben.« Heute hatte sie für ihre Schwester Erbsenbratlinge aufgehoben. »125 Gramm Erbsen, fünf Viertelliter Wasser, drei gekochte und geriebene Kartoffeln, drei Esslöffel Semmelmehl, Salz, Thymian. Erbsen zu dickem Brei kochen, durch ein Sieb rühren, mit allen Zutaten mischen, flache Buletten daraus formen und backen. Fertig. Und schmeckt! Gleich kannste präpeln.«

Gerade hatte Dorothea Merten zu essen begonnen, da schrillte die Klingel, und Margot erschien. Ihre Lieblingscousine wohnte in Rudow bei Berlin, wie Ilse immer sagte, und so kam ihr Besuch völlig überraschend. Welcher Wind sie denn nach Weißensee geweht habe?

»Die Liebe wieder mal.« Margot hatte am Wochenende beim Tanzen im Seecasino draußen in Rangsdorf einen Mann kennengelernt, der gleich nebenan in der Gustav-Adolf-Straße wohnte. »Der hat ein Auge auf mich geworfen … dieses hier …« Zum Entsetzen ihrer beiden Cousinen holte sie ein Auge aus ihrer Handtasche und legte es neben Dorotheas Teller. »Schreit doch nicht so, ist doch nur ’n Glasauge. Hans war früher bei IG Farben und verdient sein Geld jetzt als Vertreter für Glasaugen – selber hat er aber keines.«

»… ’n Glasauge.« Dorothea Merten nahm es in die Hand.

»Mein Chef hat auch so eins.«

Ilse wurde philosophisch. »Ja, die Oogen …« Am meisten liebte sie die Fettaugen auf der Hühnerbrühe, und ihr ganzer Hass galt den Hühneraugen. »Ick hoffe nur, det ick noch lange ohne Sehprothese auskomme, denn mit ’ner Brille uff der Neese anne Kurbel – ick weeß nich.«

Es gab viel zu erzählen. Von der Liebe, von der Arbeit, von den Kindern, von der Mode, den Mühen des Einkaufs und von dem, was in Berlin passierte. Bei Karstadt in Neukölln hatten sie begonnen, die Trümmer wegzuräumen, und wollten im Frühjahr 1950 mit ihrem Neubau starten. Auf Abschnitt 77 des Bezugsausweises war ein Kasten Brennholz aufgerufen worden. Ofenfertig gehackt 3,30 DM-West je Kasten. Aus dem Interzonenabkommen. Die Fünfte Strafkammer in Moabit hatte gegen eine weibliche Räuberbande harte Strafen verhängt. Jahrelang hatte sie unter ihrer Chefin Johanna Schulze in Neukölln ihr Unwesen getrieben. Die Hausfrauen in den Westsektoren sträubten sich trotz leerer Töpfe noch immer dagegen, das aus Norwegen importierte Walfleisch zu kaufen.

»Bei Wal muss ich immer an Lebertran denken – bah!«, sagte Dorothea Merten. Theodor Heuss lehnte die Wiedererrichtung einer deutschen Wehrmacht ab. »Der hat et nötig«, war Ilses Kommentar. »Der hat doch bei Hitlers Ermächtigungsgesetze mit Ja gestimmt. Det is ’n Steigbügelhalter – und so eenen habt ihr nu im Westen als Bundespräsidenten.«

So ging es bis 21 Uhr, dann machten sich die beiden Besucherinnen auf den Weg zurück in den Westsektor. Bis zum Bahnhof Alexanderplatz konnten sie gemeinsam mit der 74 fahren, dann trennten sich ihre Wege. Während Margot im Eingang der U-Bahn verschwand, um zum Hermannplatz zu fahren, nahm Dorothea Merten die S-Bahn.

Durch die Ruinenfelder der Innenstadt ging es nach Spandau. Am Bahnhof Spandau West angekommen, beschloss sie, nicht auf die Straßenbahn zu warten, sondern trotz der späten Stunde nach Hause zu laufen. Nach dem vielen Sitzen würde ihr ein bisschen Bewegung bestimmt gut tun. Die Klosterstraße war breit und übersichtlich, was sollte da passieren. Doch nur wenige Schaufenster waren noch beleuchtet, und von den Straßenlaternen brannten auch nicht alle. Nur wenige Passanten kamen ihr entgegen. Autos gab es noch weniger. Es war schon zum Fürchten. Langsam bereute sie ihren Entschluss. Immer schneller wurde sie, rannte fast. Da war die Pichelsdorfer Straße endlich. Hier waren kaum Bomben gefallen. Die Hausnummern gingen bis 119, und nur fünf Häuser waren zerstört. Die Nr. 5 war ihr Haus. Oben im vierten Stock hatte sie eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung gemietet, die sie allerdings mit Rudolf teilen musste. Lange waren sie ein halbwegs glückliches Ehepaar gewesen, nun aber war aus Liebe Hass geworden. Keiner wollte aus der Wohnung raus, und ein jeder gab sich alle Mühe, den anderen zu vergraulen.

Schon mit bangem Herzklopfen steckte Dorothea Merten den Schlüssel ins Schloss. Hoffentlich war Rudi schon ins Bett gegangen und schlief. Nein. Kaum war sie eingetreten und hatte Licht gemacht, da stand er im Flur, ein Beil in der Hand.

»Ich dachte: Einbrecher …« Sein Grinsen widerlegte seine Worte jedoch.

Dorothea Merten hatte fürchterliche Angst, dass er eines Nachts wirklich zuschlagen würde. Sie versuchte mit aller Kraft, ruhig zu bleiben. »Wenn du mich ermorden willst … die Nachbarn wissen alle, dass du es warst. Lass es also lieber.«

Der kalte Engel

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