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Kapitel 3

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Hannes Seidelmann, gelernter Telegraphenbauhandwerker, war Störungssucher bei der Post und als solcher ein ziemlich freier Mann. Sein Vorgesetzter saß in der Skalitzer Straße am Prüfschrank und konnte nur schwer kontrollieren, wie schnell ein kaputtes Telefon repariert war und was er zwischen zwei Aufträgen so alles anstellte – zum Beispiel mal eben schnell nach Hause fuhr und Kaffee trank. Oder in seiner Laube nach dem Rechten sah. Oder seine Geliebte kurz beglückte. Heute aber hatte er sich offiziell abgemeldet.

»Sie wissen ja, was mit meinem Bruder los ist …« Seit mehr als fünf Tagen warteten sie auf ihn. Vergeblich. Am 3. Dezember hatte Hermann Seidelmann die Wohnung verlassen. Mit über 3000 DM-Ost in der Tasche … Und da war mit dem Schlimmsten zu rechnen. Obwohl … Von der Vermisstenstelle im Britischen Sektor, zu der sie gleich am nächsten Tag gegangen waren, hatten sie noch nichts gehört; was hoffen ließ. Zu Hause war der Bruder im sächsischen Plauen, doch wiederholte Anrufe bei seiner Frau Irma hatten nichts ergeben. »Nein, Hermann ist hier nicht wiederaufgetaucht.« Sehr zu bedauern schien sie das nicht. Am 17. November war Hermann nach Berlin gekommen. Zur Beerdigung seiner Mutter, ihrer Mutter. Mit der Heimreise hatte er sich Zeit lassen wollen. Er wollte noch Geld tauschen, Ost gegen West, und in West-Berlin Ersatzteile für seine Fahrgeschäfte einkaufen. Schausteller war er und hatte seine Karussells, Schiffschaukeln und Losbuden in Leipzig, Dresden, Chemnitz und anderswo in Sachsen stehen. Offenbar war er aber auch nach Berlin gekommen, um galante Abenteuer zu suchen. Jedoch bis jetzt, wie es schien, ohne Erfolg.

»Mit siebenundvierzig ist der Lack auch schon ’n bisschen ab«, sagte Hannes Seidelmann.

Seine Schwester winkte ab. »Bei dem Männermangel heute, da gibt et viele Frauen, die jeden nehmen. Erst nehmen … und dann tüchtig ausnehmen. Wie ’ne Weihnachtsgans. Aber bei Hermann würde’s mir auch nicht leid tun. Vier Kinder hat er und dann …«

Gerda, Fahrkartenknipserin bei der Berliner S-Bahn, war ein sehr misstrauischer Mensch. Schon von Berufs wegen. Saß sie am Bahnhof Wedding in ihrer Wanne, dann hatte sie nicht nur die gelben Pappkarten der abfahrenden Fahrgäste zu knipsen, sondern auch die der ankommenden zu kontrollieren – dass sie die richtige Preisstufe gelöst hatten. I war mit 20 Pfennigen die billigste, galt aber nur auf und innerhalb der Ringbahn. Und wie oft kam es vor, dass jemand nur I gelöst hatte, aber beispielsweise von Gartenfeld oder Wollankstraße kam. »Ich traue allen Menschen alles zu«, war ihre stehende Wendung. »Auch dir, Hannes …« Das bezog sich darauf, dass ihre beiden Brüder sich nie so recht verstanden hatten, ganz im Gegenteil. »Denk mal an Kain und Abel.«

Hannes Seidelmann fuhr auf. »Spinnst du wohl?!«

»Tu doch nicht so. Als er vor dir eingezogen worden ist, hast du gleich was mit seiner Irma angefangen. Und jetzt, wo er wieder zurück ist, da ist er dir doch ’n Dorn im Auge.«

Hannes Seidelmann war perplex. »Ich würde doch nie meinen eigenen Bruder …«

»Nein, würdest du nicht. Aber Tatsache ist ja mal, dass er verschwunden ist.«

»Mit mächtig viel Geld in der Tasche. Auf das du immer scharf gewesen bist …«

Hannes Seidelmann stand auf, trat ans Fenster, zog die Gardine zur Seite und sah auf die Straße hinunter. »Ach, Unsinn alles. Jeden Augenblick wird er auftauchen und … Wahrscheinlich hatte er doch irgendwo ’ne Frau aufgegabelt und kommt nun gar nicht mehr los von der. Irma liebt er ja schon lange nicht mehr. Oder er ist im Puff gelandet, und sie behalten ihn da, bis er alles Geld vervögelt hat.«

»Hannes, bitte!« Gerda Seidelmann war empfindlich gegen alles Obszöne.

»Wir müssen wirklich was unternehmen. Wenigstens noch mal zur Vermisstenstelle gehen.«

»Das ist mir irgendwie peinlich.«

»Dann lass uns mal gucken, ob wir in seinen Sachen was finden.«

Gerda winkte ab. »Das ist doch Quatsch, das haben wir doch schon x-mal gemacht.«

»Vielleicht haben wir wirklich was übersehen?«

»Na schön …«

Das Ziehharmonikabett, auf dem Hermann Seidelmann genächtigt hatte, stand in einem schmalen halben Zimmer, das sie als Kammer bezeichneten. Früher hatte es als Mädchenkammer gedient, jetzt war es die Rumpelkammer. Hermanns Koffer war aufgeklappt und bot den Anblick von langen Unterhosen, schlecht gebügelten Oberhemden und zusammengerollten Socken. Darüber hing an einem locker in der Wand sitzenden Nagel ein Anzug, der arg nach Kneipe roch.

»Hast du denn in dem schon nachgesehen?«, fragte Hannes seine Schwester.

»Ja, na klar, was hast du denn gedacht.« Sie konnte nicht anders, als barsch zu sein. »Guck mal, was der Hermann für schöne Schlipse hat.« Sie hielt zwei hoch.

»Den schönsten hat er doch umgehabt, als er weggegangen ist: den blauen mit den gelben und den roten Streifen. Den hat er schon früher immer umgebunden, wenn er zu einem Rendezvous gegangen ist. Mensch, du …« Hannes Seidelmann fiel ein, dass sein Bruder ihn gleich nach seiner Ankunft gefragt hatte, wo er denn hier in West-Berlin am besten Präservative herbekam. »›Männerschutz‹? Beim Friseur, wenn du Haare schneiden gehst.« Und wo verbarg ein Mann die, wenn er sich ins Nachtleben stürzte? In einem kleinen Geheimtäschchen am Hosenbund, rechts unter dem Gürtel. Da also sah er nach.

Und richtig, da steckte etwas drin. Aber kein »Fromms«, sondern ein kleiner Zettel, von einer Zeitung abgerissen. Vier Worte waren hingekritzelt: Schöne Frau am Zoo. Zweifellos Hermanns Handschrift. Er wandte sich zu seiner Schwester hin. »Sieh mal hier …«

»Da hat er sich bestimmt mit einer treffen wollen. Los, nichts wie hin! Und steck ’n Foto von ihm ein.«

Sie machten sich auf den Weg. Die Haltestelle der 21 war ganz in der Nähe, und so fuhren sie mit der Straßenbahn bis zur Gotzkowskystraße, wo in die Linie 2 umzusteigen war. In einer knappen Viertelstunde waren sie am Bahnhof Zoo. Hier war Berlin fast schon wieder so quirlig wie in den Goldenen Zwanzigern. Das lag weniger an der Zahl der Fernreisenden, denn noch gingen die meisten der nur fünf bis sechs Interzonenzüge täglich von den alten Kopfbahnhöfen ab, als an seinem legendären Ruf: »Chia, chia, cho, Schieber steh’n am Bahnhof Zoo …« Mit dem Ende der Blockade und der Währungsreform war es zwar weithin vorbei mit dem Schwarzen Markt, doch das Geschäft der Geldwechsler blühte noch immer und nun erst recht. Abgesehen davon stiegen Zehntausende hier um, kreuzten sich doch mehrere S- und Straßenbahn-Linien mit der U-Bahn-Linie A. Kamen jene hinzu, die nebenan im »Garten« sehen wollten, welche Elefanten, Löwen, Bären und Affen, alles alte Bekannte, bei Kriegsende übriggeblieben waren. Wie sie selbst. Das stählerne Skelett der Bahnhofshalle hatte den Bomben standgehalten, nur fehlte alles Glas. Trotzdem wirkte es wie ein Fremdkörper inmitten all der Ruinen. Nein, auch das Oberverwaltungsgericht war relativ unbeschädigt geblieben. Doch ausgebrannt waren die Rundkuppel des Zeiss-Planetariums und des Ufa-Palastes, und vieles andere lag in Schutt und Asche.

Wo traf man sich zu dieser Zeit? Unter der großen Normaluhr neben der Parfümerie von Dr. E. Kuhlmann. Die Geschwister gingen in den Laden, um der Verkäuferin das Bild ihres verschwundenen Bruders zu zeigen. »War der zufällig bei Ihnen hier und hat Parfüm für eine schöne Frau gekauft? Jahrgang 1902 ist er, korpulent und sächselt etwas, manchmal spricht er auch noch ostpreußischen Dialekt.«

Kopfschütteln. »Tut mir leid, kann ich mich nicht mehr dran erinnern.«

Sonderlich enttäuscht waren sie nicht. Wäre ja wirklich ein Zufall, wenn … Mit etwas mehr Hoffnung mischten sie sich unter die Geldwechsler. Aber auch da: Fehlanzeige. »Er hat eine Menge Geld bei sich gehabt …«

Da grinsten die Angesprochenen nur: »Das wird er mit ein paar Miezen durchgebracht haben.« Man verwies sie auf die Cafés am Kudamm und die einschlägigen Pensionen in der Augsburger Straße.

Hannes Seidelmann schüttelte den Kopf. »Der Zettel mit der Notiz Schöne Frau am Zoo spricht dagegen, dass Hermann auf käufliche Liebe aus gewesen ist.«

Seine Schwester teilte seine Meinung nur bedingt. »Kann doch sein, dass die auch so eine war … Und wenn nicht: Auf alle Fälle wird er mit ihr in ein Café oder eine Bar gegangen sein.«

»Die sollen wir nun alle abklappern? Vielleicht ist er auch mit ihr in die Straßenbahn gestiegen und sonst wo hingefahren …« Das bezog sich auf einen Straßenbahnzug der Linie 77, die hinter ihnen gerade »abgeklingelt« wurde. »Lichterfelde West – Goerzallee … Die Kaiserallee runter, Steglitz … Schöne Gegenden für schöne Frauen.«

»Ach, Quatsch!« Gerda Seidelmann glaubte nicht an die Theorie vom Liebesnest. »Hermann lässt doch nicht alles stehen und liegen, was er sich mühsam aufgebaut hat, nur um sich mal wieder so richtig auszutoben.«

»Hast du ’ne Ahnung.« Und er zählte ihr alles auf, was er über »des Menschen Hörigkeit« gesehen, gelesen und gehört hatte. »Wenn da eine kommt …«

»… dann geht er mit der doch nicht gleich ins Bett, sondern erst mal was trinken.« Gerda beharrte darauf, in den umliegenden Cafés und Bars nach Hermann zu fragen. So zogen sie los. Der Kurfürstendamm lebte noch immer, trotz der Ruinen und der Lebensmittelkarten war er auch ohne Lichterglanz und Stars verführerisch geblieben. Ein Versprechen, das nicht totzukriegen war: Komm her und fühl dich im Champagnerrausch. Sogar ein so nüchterner Mensch wie Hannes Seidelmann erlag diesem Flair, und bald fühlte er sich wie im Film, wie Paul Kemp in Amphitryon, Willi Forst in Bel ami oder Willy Fritsch in Die drei von der Tankstelle. Er brachte es für sich auf den Punkt: »So als wenn’s de schwebst …«

Doch auch am Kurfürstendamm konnte sich niemand an einen Hermann Seidelmann aus Sachsen erinnern. Ihnen wurde geraten, es einmal in der Casablanca-Bar in der Augsburger Straße zu versuchen. »Wenn jemand eene abschleppen will, denn da.«

Sie machten sich auf den Weg und kamen sich immer deplatzierter vor, denn in dieser Gegend waren viele der pompösen Häuser aus der Gründerzeit stehen geblieben, und es roch noch immer etwas nach Bourgeoisie, obwohl die riesengroßen Wohnungen nun ganz sicher aufgeteilt und untervermietet waren. Dennoch: Es war nicht ihre Welt. Und sie wurden auch misstrauisch beäugt. Wohl als Gaunerpärchen, das hergekommen war, etwas auszubaldowern. Oder war das nur Einbildung? Hannes Seidelmann wusste es nicht. Wie auch immer: Er hatte große Hemmungen, an die schwere hölzerne Tür der Casablanca-Bar zu klopfen. Zu dieser frühen Stunde war noch gar nicht geöffnet. Schließlich bequemte sich ein muffliger Bediensteter, der Barkeeper offensichtlich, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. »Was’n: Die Kripo schon wieder?« Hannes Seidelmann überlegte blitzschnell, ob es schon den Straftatbestand der Amtsanmaßung erfüllte, wenn er die Frage nicht verneinte, sondern so tat, als hätte er sie gar nicht gehört.

Nein. Also reagierte er nicht, sondern hielt dem Barkeeper wortlos das Foto seines Bruders hin.

»Ob der hier war …« Der Mann fuhr sich mit der flachen Hand über den kahlen Schädel. »Ja, gestern erst. Mit ’ner schönen Frau zusammen.«

Das kam so prompt, dass die Geschwister es unbesehen glaubten. Sie hörten, was sie hören wollten: dass ihr Bruder noch am Leben war. »Ich hatte schon gefürchtet, ihm sei was zugestoßen«, sagte Gerda, und Hannes fügte hinzu: »Du wirst lachen, ich auch. Aber: Unkraut vergeht nicht.« Erleichtert fuhren sie nach Moabit zurück und kochten sich eine Kanne Hagebuttentee.

Kaum hatten sie sich am Couchtisch niedergelassen, klingelte das Telefon. Als einer der wenigen Berliner seines Standes hatte Hannes Seidelmann einen Anschluss, aber er war ja Technischer Fernmeldesekretär bei der Post … und an der Quelle saß der Knabe. Es war die Vermisstenstelle. Man möge doch bitte in das Ost-Berliner Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße fahren.

»Hat man meinen Bruder gefunden? Ist er …«

»Weiß ich nicht. Es gibt da Gliedmaßen, die sich einem erwachsenen Mann zuordnen lassen, und wir benachrichtigen alle, die einen Mann als vermisst gemeldet haben.«

»Ach so …« Hannes Seidelmann war beruhigt.

Wieder pellten sie sich an und machten sich auf den Weg. Im Dezember bei Kälte und Dunkelheit durch die Berliner Ruinenlandschaft zu reisen, war kein reines Vergnügen, eher schon ein Abenteuer. Mit der 21 fuhren sie bis zur Invalidenstraße und stiegen dort in die 44 um, die sie bis zur Endstation Sandkrugbrücke brachte. Von dort war es nur ein Fußweg von ein paar hundert Metern. Aber die Gegend! Wenn einer das Fürchten lernen wollte, dann hier. Sie redeten nicht viel. Wozu auch.

In der Hannoverschen Straße nahm sie ein hagerer und außerordentlich mürrischer Mann in Empfang und führte sie durch ein Labyrinth von Treppen und Gängen. Alles reine Routine. Schließlich waren sie am Ziel. »Keinen Schreck kriegen«, sagte der Hagere, und man sah ihm an, dass er sich genau darauf freuen würde. Über einen der stählernen Tische war ein weißes Tuch gebreitet, und darunter lag etwas: offenbar die Leichenteile, um die es hier ging.

»Achtung!«, rief der Hagere und riss das Tuch so schnell zur Seite wie ein Zauberkünstler eine Tischdecke, wenn dabei Gläser und Geschirr nicht umstürzen sollten. »Hier haben wir zwei Unterschenkel mit Füßen dran, einen linken Oberschenkel und einen linken Arm. Der Rest, der fehlt noch … Nun gucken Sie mal, ob das Ihr Bruder ist.«

Gerda Seidelmann schlug die Hände vors Gesicht, brach in Tränen aus und stürzte aus dem Saal, weil sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.

Auch Hannes spürte ein heftiges Würgen im Hals, schaffte es aber standzuhalten. Es war entsetzlich, sich vorzustellen, dass das … Er wollte die Augen zur Decke richten, zum Fenster, zum Wasserhahn, doch er schaffte es nicht. Wie von einer magischen Kraft wurden seine Blicke von den Leichenteilen angezogen. Vom Ungeheuerlichen. Das gab es nicht, das konnte doch nicht wahr sein, solche Bilder hatten nur die Leute im Kopf, die sie ins Irrenhaus steckten: »Ich sehe immer meinen Bruder vor mir, wie er in kleinen Portionen vor mir auf dem Tisch liegt. Fein säuberlich zerlegt.«

Der Hagere wurde ungeduldig. »Na, was ist nun?«

Hannes Seidelmann schwankte, musste sich festhalten. Die Hautfarbe stimmte schon … etwas weißlich … Auch die schwarzen Haare … Alles sprach dafür, dass Arm und Schenkel zu Hermann gehörten, Hermann waren. Aber … Nein, und abermals nein. Er hatte das Gefühl, dass sein Bruder erst dann wirklich tot war, wenn er zugab, dass die Teile ihm gehörten. Also sagte er wider besseres Wissen, dass er nichts identifizieren könne. »Wer auch immer das ist, mein Bruder ist es nicht.«

Da stand seine Schwester hinter ihm, und Gerda Seidelmann war, nachdem sie sich nun wieder gefangen hatte, ganz Realistin: »Doch, das issa. Er ist doch gerade frisch am Hühnerauge operiert worden … Und hier am linken Fuß ist noch das Pflaster dran.«

Der kalte Engel

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