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Kapitel 4

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Elisabeth Kusian war noch im OP geblieben, um ein wenig Ordnung zu schaffen. Allein mit der Toten, die noch immer von den Lampen über dem Operationstisch angestrahlt wurde wie eine Schauspielerin vor der Kamera. Wieder einmal hatte alle ärztliche Kunst nichts genutzt. Zu weit war das Karzinom an der Gebärmutter fortgeschritten. Sie beugte sich über die Frau und schloss ihr die Augen. »Da, wo du jetzt bist, wirst du’s besser haben als hier …« In ihren langen Berufsjahren, zumal im Krieg, hatte sie zu viele Menschen sterben und zu viele Tote so liegen sehen, um noch irgendwie beeindruckt, geschweige denn erschüttert zu sein. Es war so, wie es war, und sie war mit dem Tod auf Du und Du. Jeden Abend ging die Sonne unter und jeden Winter war es kalt, was sollte man sich darüber aufregen.

Andererseits … Die Operation selber, die nahm sie ganz schön mit. Wenn das Blut in Fontänen herausspritzte aus den geöffneten Leibern, wenn die Chirurgen wie die Schlachter in den Gedärmen wühlten. Und dann … Die Frau, die die Operation nicht überlebt hatte, war in ihrem Alter gewesen, auch Jahrgang 1914. Eine Serviererin aus Tiergarten. Was hatte sie bisher vom Leben gehabt – nicht viel. Und nun war alles aus, keine Chance mehr, sich auch mal ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Apropos Kuchen. Elisabeth Kusian dachte an die Lebkuchen, die sie für die Weihnachtsfeier der Krankenschwestern besorgen sollte. Das hatte sie glattweg vergessen. Ebenso wie das Julklapp-Geschenk für ihre Freundin Anni.

Ihre Kolleginnen kamen, sie zum Mittagessen abzuholen. Sie war überaus beliebt bei ihnen, weil sie an allem Anteil nahm und Mittelpunkt der Gruppe war. Alle hatten Respekt vor ihr, denn in ihrem Personalfragebogen stand, wie sie längst herausgefunden hatten, dass sie die Frau des im Krieg gefallenen Chirurgen Dr. med. Wilhelm Kusian war und sogar angefangen hatte, selber Medizin zu studieren. Scherzend und schnatternd zog man durch die Gänge und aß dann in der Kantine zusammen Kartoffelsalat und gebratenen Fisch. Auch da ging es hoch her.

Das Gespräch verstummte erst, als Oberschwester Anita an ihren Tisch getreten war. Ansonsten sehr zugänglich und alles andere als ein alter Drachen oder Dragoner, gab sie sich heute streng und inquisitorisch.

»Der Ramolla macht mir die Hölle heiß, weil schon wieder etliche Geräte und Spritzbestecke verschwunden sind. Und sein Verdacht, meine Damen, richtet sich vor allem gegen Sie. Wenn mir eine was zu sagen hat, dann bitte nachher in meinem Zimmer.«

Annemarie Gruschwitz verbat sich diese Anschuldigungen.

»Der saubere Herr Verwaltungsleiter soll sich bloß vorsehen, dass er nicht bald mal ’ne Verleumdungsklage am Hals hat. Von dem lasse ich mich nicht länger beleidigen.«

»Tatsache ist nun mal, dass bei uns gestohlen wird. Geräte, Medikamente …«

»Zehn Prozent Schwund gehört zu jedem Laden«, lachte jemand.

»Wir hören noch voneinander.« Die Oberschwester rauschte davon.

Ihr Auftritt war schnell vergessen, man hatte Wichtigeres zu bereden, sowohl Dienstliches wie auch Privates. Wer mit wem den Dienst tauschen wollte, welche Patienten ganz besondere Probleme hatten oder machten, wer in welchen Arzt verknallt war: Herta, Gerda, Christa. Langsam löste sich die Gruppe wieder auf, Elisabeth Kusian und Anni Gruschwitz blieben als Letzte zurück.

»Ich muss dir noch was erzählen …« Elisabeth Kusian beugte sich zur Freundin hinüber. »Du, ich hab’n Neuen. Er heißt Kurt und ist ganz wunderbar.«

»Verheiratet?«

»Ja, aber ich krieg’ ihn schon los. So einen hab’ ich mir immer gewünscht, seit mein Mann gefallen ist, mit dem möchte ich noch einmal ganz von vorn anfangen. Alles nachholen.«

»Was macht er denn?«

»Kriminalsekretär ist er.«

Anni nickte. »Nicht schlecht. Wenn er dich nach Hause bringt, bist du wenigstens sicher.«

»Wieso denn das?«

»Na, wo sie jetzt die Leichenteile gefunden haben, da hab’ ich immer Angst um dich.«

Elisabeth Kusian winkte ab. »Ich pass’ schon auf. Und das soll ja auch ’n Mann gewesen sein.«

Anni steckte sich eine Zigarette an. »Ach Gott, meine Lisbeth: die große Liebe ihres Lebens mit 35 Jahren …«

»Dazu ist es nie zu spät.«

»Womit du recht haben dürftest.«

»Ich möchte ihm so viel schenken, aber das Geld dafür …« Anni bedauerte. »Da kann ich dir auch nicht helfen.«

»Heute Abend sehen wir uns wieder, Kurt und ich. Mal sehen, was er sich zu Weihnachten wünscht.«

»Man kann Männern auch ohne Geld viel schenken, was sie juchzen lässt.«

»Das sowieso.«

Die Freundin drückte ihre Zigarette aus. »Heute ist der Doktor Weimann wieder bei uns im Haus, gehst du da hin?«

»Klar, du weißt doch, dass ich den anbete. Das ist derselbe Typ wie mein Vater in Thüringen. Wenn dessen Klinik nur mehr abwerfen würde … Dann hätte ich auch keine Geldsorgen mehr. Aber in der DDR, da treiben sie ja die Privatkliniken alle in die Pleite.«

Man trennte sich, und Elisabeth Kusian kam gerade noch rechtzeitig zum Lichtbildervortrag des renommierten Gerichtsmediziners. Heute sprach Dr. Waldemar Weimann über das gewaltsame Ersticken und über das Erdrosseln. Ach, das wusste sie alles schon.

Wieder auf der Station 14 zurück, machte sie sich daran, allen möglichen Papierkram zu erledigen. Dabei wurde sie aber sehr bald von einer Patientin gestört, der Gerda Zepter, die morgen entlassen wurde und sich noch einmal bei ihr sehen lassen wollte.

»Ganz, ganz herzlichen Dank, Frau Kusian … Wenn ich so schnell wieder gesund geworden bin, dann habe ich das vor allem auch Ihnen zu verdanken.« Sie überreichte Elisabeth Kusian eine Azalee und einen Kasten Konfekt.

»Danke, das ist mir aber peinlich … Das ist doch alles selbstverständlich, was wir für unsere Patienten tun.«

»Nein, ist es nicht.«

Elisabeth Kusian brachte die Geschenke in den Aufenthaltsraum. Das Konfekt teilte sie sich natürlich mit ihren Kolleginnen. Obwohl … Die Versuchung, es irgendwo zu verkaufen, war groß, denn sie brauchte buchstäblich jeden Pfennig. Nicht nur für ihren Kurt. Vor allem für ihre drei Kinder im Heim in Teltow. Die kosteten allein schon 225 Mark im Monat – und sie verdiente im Krankenhaus nur 285 Mark. Kam die Miete hinzu, die sie für ihr Zimmer in der Kantstraße zahlen musste. Was blieb ihr da noch für Essen und Trinken, für Kleidung und Kosmetika? Nichts, im Gegenteil. Sie kam nur über die Runden, wenn sie Schulden machte. Zum Glück gab es immer wieder Patientinnen, die nicht nur Mitleid mit ihr hatten, sondern auch Geld genug, es zu verleihen. Sie nahm den Bettenplan zur Hand und überlegte. Die Gast vielleicht. Der Mann hatte einen kleinen Betrieb, Damenoberbekleidung, und kam im Mercedes vorgefahren.

Irmgard Gast lag in einem Vierbettzimmer, und sie dort anzusprechen, war ihr nicht nur peinlich, sondern barg auch die Gefahr, dass die Zimmernachbarinnen es hörten und der Oberschwester weitererzählten. Worauf es dann garantiert Ärger gab, denn es war verboten, Patienten anzupumpen. Doch Elisabeth Kusian musste es riskieren, der Kinder wegen. So legte sie sich auf die Lauer und wartete, bis ihr Opfer auf dem Flur erscheinen und zur Toilette gehen würde.

Ein Mann etwa in ihrem Alter kam den Flur entlanggehumpelt. Unterschenkelamputation, links. Bei einer seiner Gehstützen fehlte unten der Gummi, und so verursachte er einen ziemlichen Lärm. Er trug einen umgearbeiteten Militärmantel und sah auch sonst nicht so aus, als sei er auf Rosen gebettet. War das wieder einer, der etwas klauen wollte?

Sie verstellte ihm den Weg. »Im Augenblick haben wir keine Besuchszeit.«

»Entschuldigen Sie, ich habe mich nur verlaufen.«

»Zu wem wollen Sie denn?«

»Zu einem Herrn Ramolla.«

»Das ist aber kein Arzt.«

»Nein, der Verwaltungsleiter, ich weiß …« Der Mann blieb endgültig stehen und nutzte die Gelegenheit, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Ich bin Vertreter … Prothesen, Glasaugen … Nun, nicht so schöne, wie Sie welche haben, aber …« Er stutzte und musterte sie. Dann schoss jähe Freude in ihm auf. »Gott, ja, Sie sind doch die Schwester Elisabeth aus Seelow!«

»Elisabeth schon, aber nicht aus Seelow, sondern aus Berlin.«

»Ja, aber in Seelow im Feldlazarett, da haben Sie mir das Leben gerettet. Die Ärzte hatten mich schon aufgegeben, bei mir lohne sich der Aufwand nicht mehr. Bei dem wenigen, was man hatte – Kraft, Medikamente –, da war es sinnvoller, andere auf den Operationstisch zu legen. Da sind Sie aber gekommen und haben gesagt: ›Der Karl-Heinz Gößnitz hier, der ist zu schade fürs Massengrab, bei dem versuchen wir’s noch mal!‹ Und dann haben mich Ihre Medizinmänner ja wirklich wieder zusammengeflickt. Bis auf das Bein hier. Aber trotzdem bin ich glücklich, unendlich glücklich, dass ich noch am Leben bin. Meine Frau, meine Kinder …« Die Rührung übermannte ihn. Er umarmte Elisabeth Kusian und küsste sie auf die Stirn. »Danke, danke für alles. Sie sind ein wahrer Engel! Ich weiß, dass Sie dadurch fast selber ums Leben gekommen wären. Der plötzliche Beschuss …«

Als der Mann wieder gegangen war, fühlte Elisabeth Kusian eine entsetzliche Leere in sich aufsteigen. Wozu das alles, die Opfer alle? So schön dieser Dank eben auch gewesen sein mochte: Was konnte sie sich dafür kaufen? Nichts. Und alles, was sie hatte, waren Schulden. Und Schmerzen. Wegen der Wunden von damals. Sie hatte keinen Mann, sie hatte keine Wohnung, sie hatte keine Zukunft. Oder … Wie im Traum sah sie plötzlich einen anderen Mann vor sich, ihren Kurt. Er sah diesem Gößnitz auffallend ähnlich, die beiden hätten Brüder sein können. Sollte das Schicksal doch alles wieder gutmachen, was es an ihr verbrochen hatte?

Da kam Irmgard Gast aus ihrem Zimmer, und Elisabeth Kusian wollte den Aufwind nutzen, den sie gerade zu spüren meinte.

»Na, Frau Gast, Sie haben ja schon wieder einen Schritt am Leibe! Und blendend sehen Sie aus!«

Die Patientin, Mitte der fünfzig und ziemlich schwergewichtig, zuckerkrank, blieb stehen und fühlte sich geschmeichelt. »Ja, bei der guten Pflege hier. Besonders durch Sie, Schwester Elisabeth.«

»Wir tun, was wir können.«

»Aber Sie – Sie sehen schlecht aus. Sind Sie selber krank?« Elisabeth Kusian winkte ab. »Das kann ich mir nicht leisten. Nein, nein, höchstens dass meine Narbe mal schmerzt.« Sie rieb sich über den Unterbauch.

»Auch eine Totaloperation?«

»Nein, im Krieg, im Feldlazarett hat mir ein Granatsplitter den Bauch aufgerissen, und immer wenn es kälter wird, kommen die Schmerzen.«

Frau Gast schüttelte sich. »Das ist ja entsetzlich. Und in diesem Zustand arbeiten Sie?«

»Was soll ich machen: Mein Mann ist im Krieg gefallen, meine Eltern sitzen in der DDR im Zuchthaus, Geschwister und wohlhabende Verwandte besitze ich nicht … nur meine drei Kinder im Heim draußen in Teltow, die ich allein durchbringen muss …« Sie begann zu schluchzen. »Ich kann Ihnen nicht einmal Weihnachtsgeschenke kaufen … Wo alles so teuer ist …«

Die Patientin, immer resolut im Leben, nahm sie in den Arm. »Nun machen wir’s mal umgekehrt, jetzt bin ich mal dran, mich um Sie zu kümmern. Soll ich Ihnen was borgen?«

»Das ist lieb von Ihnen, aber wir dürfen das nicht.«

»Gott, Kindchen, das merkt doch keiner. Ich habe fünfzig Mark im Schrank. Wenn ich nachher auf die Toilette gehe, dann kriegen Sie die. Bis zum neuen Jahr. Dann kommen Sie mal bei mir zu Hause vorbei und bringen mir die zurück. Ohne Zinsen.« Sie lachte, froh über ihre gute Tat.

Elisabeth Kusian konnte aufatmen. Wieder einmal. Und zugleich war sie niedergedrückt. Was war sie denn: eine Bettlerin. Da hatte sie sich auch ein anderes Leben erträumt. Aber immerhin: Zwei Stunden später hatte sie das Geld und konnte überlegen, worüber sich die Kinder am meisten freuen würden.

Der kalte Engel

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