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Kapitel 8

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Gregor Göltzsch wollte eigentlich die Zeit zwischen Ladenschluss und Mitternacht nutzen, um mit seiner Inventur voranzukommen, doch immer wieder ließ er sich ablenken. Zumeist von der Reklame für Miederwaren, wie er sie in seiner Lesezirkel-Mappe fand. Was ihn aber noch stärker anheizte, war eine Reportage in einem schon leicht vergilbten Stern über Die »Fräuleins« von Celle. Während der Blockade hatten an die dreitausend von ihnen im Städtchen an der Aller gewartet, um den GI’s zu Diensten zu sein. »Hoch das Leben, hoch die Liebe …« Gin, Zigaretten, Schokolade und 1500 Mark Lohn im Monat waren eine gute Grundlage für einen vergnügten Abend, bevor die amerikanischen Piloten am nächsten Morgen mit ihrer Skymaster wieder in die eingeschlossene Frontstadt fliegen mussten. A very risky job. Come on, baby!

Göltzsch öffnete seinen Wandtresor und erfreute sich an den gebündelten Scheinen, die er dort angehäuft hatte. Das hätte x-mal gereicht, um in eine Bar zu gehen und sich das teuerste Mädchen Berlins ins Bett zu holen. »Verdammt, ich hab’s wieder mal nötig.« Schon aus medizinischen Gründen, um keinen Krebs zu kriegen. Seine Hoden schmerzten, und sein andauernd erigierter Penis hatte sich am rauen Stoff der Unterhose schon rot und wund gerieben. Es selber auszulösen, verbot er sich. Dafür hatte er als Kind von seiner Mutter, waren die Flecke in Nachthemd oder Bett entdeckt worden, zu viel Prügel bezogen. Dachte er daran zurück, verging ihm jede Lust. Auch das Rückenmark wurde vom Onanieren angegriffen. Ein Mann hatte seinen Samen auf natürliche Art und Weise loszuwerden, das heißt beim ehelichen Beischlaf. Was aber, wenn die Ehefrau seit vielen Wochen in der Klinik lag, um zu verhindern, dass sie ihr Kind verlor? Natürlich stimmte es nicht, was sie sich in der Schule erzählt hatten: dass der Samen, floss er unten nicht ab, langsam nach oben stieg und das Gehirn zersetzte – und dennoch hatte Gregor Göltzsch gerade dieses Bild immer wieder vor Augen. Als ihn ein alter Freund anrief, brachte er es auf den Punkt: »Helga geht’s gut, aber ich leide langsam unterm Samenkoller.« Gute Ratschläge, wie kalt zu duschen oder sich »Hängolin« ins Essen zu tun, also Soda, halfen auch nicht viel, und Kinobesuche machten die Sache nur noch schlimmer, denn Filme ohne Frauen gab es nicht. Also stürzte er sich wieder in die Arbeit.

Auf der Kantstraße rollte eine Straßenbahn vorüber, die an der Dachkante die Reklame seiner Firma trug: Möbel von GG

– eine Pfundsidee. Es lohnte sich, denn langsam begannen die Leute wieder zu kaufen. Auch in Berlin. Die neue D-Mark machte es möglich. Mochte die Fresswelle auch noch nicht zu Ende sein, so dachte man doch auch schon wieder an seine Wohnungseinrichtung. Da gab es einen wahnsinnigen Nachholbedarf. Besonders Sofas und Sessel waren furchtbar verschlissen. Und war jemand ausgebombt worden, so lebte er zumeist inmitten von Möbeln, die ins Museum oder in den Ofen gehört hätten. Nun aber ging alles wieder aufwärts, nun konnte man auf das Wirtschaftswunder hoffen. Bald schossen die Neubauten wie Pilze aus dem Boden, und wer jetzt noch möbliert in Untermiete wohnte, der brauchte morgen neue Schränke, Kommoden, Tische, Stühle und Sitzgarnituren. Göltzsch wusste, dass die Jahre, die jetzt kamen, goldene sein würden. Für ihn jedenfalls. Was aber sein augenblickliches Problem auch nicht lösen konnte, das Gefühl, »unten herum« ganz einfach zu platzen.

Er stand auf und hoffte, dass sich sein Druck verringern würde, wenn er sich bewegte. Nein, tat er nicht. Im Gegenteil, denn seine Buchhalterin hatte auf der Aktenablage eine Zeitung mit einer großformatigen Anzeige von C & A Brenninkmeyer liegen lassen: Start in den Herbst – Ein Kleiderkauf wird immer zum Vergnügen. Abgebildet war eine glückliche Familie – Vater, Mutter, Sohn –, die im Wald spazieren ging. Gregor Göltzsch stellte sich nun vor, wie er der Frau den Mantel auszog und entdeckte, dass sie nichts darunter trug. Jetzt war seine Phantasie nicht mehr zu bremsen. Sie lief davon, er ihr hinterher. Sie kamen in einen Garten, in dem eine leere Wäscheleine hing. Er blieb an ihr hängen, riss sie herunter und nahm sie mit, um im Laufen eine Schlinge zu binden und die Leine zu einem Lasso zu machen. Ein Wurf – und die Frau war gefangen, war seine Gefangene. Als sie sich wehrte, zog er die Schlinge zu und drang von hinten in sie ein. Seine Lust war gigantisch, war einmalig, war unvorstellbar. Er schrie auf, so sehr zerriss es ihn. Polizisten rissen ihn hoch. Er sah die Schlagzeilen in den Zeitungen: Ein Möbelhändler als Lustmörder.

Er schlug sich mit den Händen gegen die Schläfen, rechts, links, um die Bilder zu verscheuchen. Zugleich waren es Ohrfeigen. Als Strafe dafür, dass er derart Unzüchtiges gedacht hatte. »Du musst dich irgendwie ablenken!« War er zu lange allein, sprach er oft selber mit sich, wobei er aber keine Dialoge führte, sondern sich immer nur Befehle gab und dabei die Diktion seiner Mutter nachahmte.

Wo war das Buch geblieben, das ihm seine Frau geschenkt hatte? »Damit du an deinen einsamen Abenden was zu lesen hast.« Doch er las nicht gerne Bücher, höchstens Kriminalromane. Oben auf dem Grammophonschrank lag es. Julius Stinde, Die Familie Buchholz. 1883 erschienen und mächtig vergilbt. Ein Erbstück oder antiquarisch. Er verzog das Gesicht. Kleopatra hätte er gebraucht oder etwas über eine große Kurtisane.

Er ging in den Ausstellungsraum, wo er gleichsam unter öffentlicher Kontrolle stand, denn die Jalousien waren noch nicht heruntergelassen. Die abendlichen Spaziergänger sollten ja stehenbleiben und sich durch die ausgestellten Stücke anlocken lassen. Doch zum Flanieren war es den Leuten wohl zu kalt, alles hastete vorüber, zur Straßenbahnhaltestelle, zum Bahnhof Zoo. Niemand interessierte sich für seine Schaufenster. Göltzsch ließ sich in einen Sessel fallen, von dem aus er die Kantstraße Richtung Zoo am besten im Blickfeld hatte. Paare gingen vorüber, und die Nylonbeine der Frauen schimmerten im Licht der Straßenlaternen. Er dachte sich die Nähte hinauf … die Strumpfbänder … das nackte Fleisch … der Hüfthalter … die Schlüpfer … Sie waren weit geschnitten, und man konnte leicht mit den Fingern hineinfahren … Er schloss die Augen, damit die Bilder noch lebendiger wurden.

Als er sie wieder öffnete, stand eine Frau vor seiner Schaufensterscheibe und musterte ihn, sich wohl fragend, ob sie da einen Menschen vor sich hatte, der gerade eingeschlafen war, oder eine Schaufensterpuppe. Ihr Kopftuch war ihr im Wege. Sie schob es zur Seite und suchte es hinter den Ohren zu fixieren. Ihre Blicke trafen sich. Was ihn elektrisierte, waren die Augen der Frau. Im Licht der Deckenstrahler funkelten und glitzerten sie wie zwei nahe beieinanderstehende Sterne am dunklen Firmament. Da waren nur Augen und gar kein Gesicht. Sie ließen alles andere verschwinden. Er kannte das nur von Schauspielerinnen, wenn sie vorne an der Bühne standen. Nachdem sie sich vorher Belladonna in die Augen geträufelt hatten. War die Frau eine solche Schauspielerin, kam sie gerade aus der Vorstellung? Glühte es noch immer in ihr, suchte sie jemand, mit dem sie etwas trinken gehen konnte, um die Erregung langsam abklingen zu lassen? Oder war es nur die Garderobenfrau, die hohes Fieber hatte? Er musste es herausfinden. Er stürzte zur Tür. Der Schlüssel steckte im Schloss. Sie war weitergegangen und kam gerade an seiner Tür vorbei, als er sie aufgezogen hatte.

Er verbeugte sich leicht. »Schönen guten Abend. Womit kann ich dienen?«

Sie war einigermaßen verwirrt. »Sie haben doch schon lange zu …«

»Für ganz besondere Kundinnen haben wir bis Mitternacht geöffnet.«

»Ich habe kein Geld, ich wollte ja nur mal …«

Gregor Göltzsch war ein guter Verkäufer und so charmant wie die Männer in den alten Ufa-Filmen. »Aber gnädige Frau, bei mir haben Sie doch immer Kredit. Womit wollen Sie denn den Herrn Gemahl zum Weihnachtsfest überraschen?«

»Ich habe keinen Mann, ich bin Kriegerwitwe.«

»Oh, Pardon.« Göltzsch konnte auf Knopfdruck so voller Mitleid sein wie ein professioneller Trauerredner in der Friedhofskapelle. »Das tut mir aber leid. Da haben Sie es sicher schwer, ihre Kinder durchzubringen, so ganz allein …«

»Die Kinder sind im Heim.«

Gregor Göltzsch zog nun alle Register, um die Frau mit dem Kopftuch zu erobern. »Und Sie suchen sicherlich eine Stellung. Das trifft sich gut, denn ich bin gerade auf der Suche nach einer tüchtigen Verkäuferin …«

»Ich bin Krankenschwester.«

»Schade …« Göltzsch hatte sie inzwischen ausgiebig gemustert. Ihre Figur gefiel ihm. Er mochte Frauen, die kraftvoll und energisch waren. Und wild auf Männer. Was man sich da von Krankenschwestern alles erzählte. Sicherlich war auch diese hier so mannstoll wie die anderen. Wäre sie sonst stehen geblieben, hätte sie sich sonst ansprechen lassen? Nein. Diese Überlegung gab Göltzsch den Mut zur direkten Attacke. »Das ist so kalt hier draußen. Kommen Sie doch ’n Moment rein zu ’ner Tasse Kaffee und erzählen Sie mir ein bisschen von sich. Von der Arbeit im Krankenhaus, von Ihren Kindern …«

»Wo denken Sie hin? Ich bin eine anständige Frau!«

Da hatte er so seine Zweifel, denn wenn es wirklich an dem gewesen wäre, hätte sie nicht hier gestanden. Außerdem sah er Furchen in ihrem Gesicht, die viel verrieten: von Ausschweifungen, von Fleischeslust und Wollust. Sein Vater hatte ihn immer vor Frauen wie dieser gewarnt: »Junge, sie saugen dir das Mark aus den Knochen und treiben dich in die Pleite, denn sie kosten und kosten.« Nun, wenn dem so war, konnte es nur einen Köder geben: Geld. Und so beugte er sich ein wenig zu ihr hin. »Ich sehe, dass Sie finanzielle Sorgen haben. Da kann man leicht Abhilfe schaffen …«

»Ich bin doch keine Nutte!« Damit ließ sie ihn stehen, bog um die Ecke und lief mit schnellen Schritten die Kantstraße hinauf.

Gregor Göltzsch nahm seinen Mantel vom Haken, schlüpfte hinein, schloss seinen Laden ab und folgte ihr. Er hatte früher als Schürzenjäger gegolten und sich den sicheren Instinkt dafür bewahrt, ob eine Frau zu haben war oder nicht. Bei dieser hier war er sich absolut sicher. Dieses Flackern in den Augen, diese Gier nach stürmischer Umarmung. »Die will einen drin haben«, dachte er. »Die hat es genauso nötig wie ich.« Er war wild entschlossen, sich diese Beute nicht mehr entgehen zu lassen. Sie mochte einen Vorsprung von etwa achtzig Metern haben. Das war nicht viel. Hinter der Fasanenstraße würde er sie eingeholt haben. Und dann …

Mit jedem Schritt wurde er ein anderer Mensch. Eine dunkle Macht gewann mehr und mehr die Herrschaft über ihn und bestimmte sein Tun. Er hörte keine Stimmen, die ihm Befehle gaben, und es war ihm völlig rätselhaft, woher die Impulse kamen, die ihn von nun an steuerten: Hol sie ein, geh mit ihr nach oben auf ihr Zimmer, wirf sie zu Boden, würge sie, nimm sie, töte sie! Das ist die höchste Lust, die du erleben kannst.

Er wehrte sich dagegen. Ich bin glücklich verheiratet, Anfang nächsten Jahres bin ich Vater und … Es half nichts. »Herr, hilf mir, rette mich vor mir selber!« Er war streng religiös erzogen worden und hoffte, der Herr würde jetzt etwas geschehen lassen, das ihn noch aufhielt: dass die Ruinen vor ihm in sich zusammenstürzten und ihm die Trümmer den Weg verstellten, dass ein amerikanischer Jeep neben ihm hielt und ihn die Military Police nach seinem Ausweis fragte, dass er ausglitt und sich das Handgelenk brach … Doch nichts von alledem geschah. Seine Erregung wuchs mit jedem Meter, den er zu ihr aufschloss …

Der kalte Engel

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