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Einer war zu viel

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Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war im Volkseigenen Gut (VEG) Sommerfeld ein Reserveoffizier der Nationalen Volksarmee (NVA) Direktor. Das war ein fähiger Mann, der alle Voraussetzungen hatte den Betrieb wieder in die Gewinnzone zu führen. Er hatte jedoch den Fehler, dass er den Kasernenton nicht ablegen konnte. Das hat vielen Mitarbeitern nicht gefallen.

Im Frühjahr 1963 musste der Direktor für drei Monate zum Reservistendienst einrücken. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade ein halbes Jahr im Betrieb und erst 22 Jahre alt. Mir traute man deshalb die alleinige Führung des Betriebes in dem Vierteljahr nicht zu. Es wurde ein kommissarischer Direktor eingesetzt. Der war das ganze Gegenteil vom eigentlichen Chef. Seine fachlichen Fähigkeiten waren begrenzt, er trat nicht wie ein Chef auf sondern wirkte eher wie ein Seelsorger. Das wiederum gefiel einigen Mitarbeitern.

In einer Belegschaftsversammlung sollte der Betriebskollektivvertrag (BKV) abgeschlossen werden. Der BKV wird zwischen der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) und der Betriebleitung abgeschlossen. Er beinhaltet im Wesentlichen die sozialen Leistungen, die der Betrieb erbringt. Rechtlich gesehen hatte der BKV wenig Bedeutung, da die meisten Dinge gesetzlich geregelt waren. Er dokumentierte aber ein demokratisches Mäntelchen und war deshalb politisch hoch angebunden.

In der Versammlung haben sich einige Mitarbeiter, die den Seelsorger als Direktor behalten wollten, über den alten Chef beschwert. Nach dem Abschluss der Diskussion sollte der BKV feierlich von BGL-Vorsitzendem und dem Direktor unterzeichnet werden. Als dazu die im Präsidium sitzenden zur Tat schreiten wollten, ging die Tür auf und der eigentliche Direktor erschien in voller Ausgehuniform mit dem Dienstgrad eines Majors. Es trat eine Totenstille ein. Alle senkten die Köpfe, besonders die, die vorher noch über den Chef geschimpft hatten.

Nach der Überwindung der Schrecksekunde sollte nun der BKV unterschrieben werden. Als der kommissarisch eingesetzte Direktor das tun wollte, stürzte der Major nach vorn und brüllte: „Hier bin ich noch der Direktor“. Wir hatten jetzt zwei Direktoren. Einer war zu viel, aber welcher war das. Der anwesende Mensch vom Kreisvorstand der Gewerkschaft schlug eine Auszeit vor. Ein Krisenstab, die beiden Direktoren, der BGL-Vorsitzende, der Vertreter vom Kreis und ich, zogen sich in ein Bürozimmer zur Beratung zurück. Es wurde der Kompromiss gefunden, dass ich als Stellvertreter den BKV unterschrieb. So kam ich als 22 Jähriger zu meiner ersten Unterzeichnung eines Dokumentes.

Kurzgeschichten vom Land aus Vergangenheit und Gegenwart

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