Читать книгу Centratur - zwei Bände in einer Edition - Horst Neisser - Страница 5

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Die Geschichte vom Kampf um Hispoltai

Osten

Nun beginnt die eigentliche Saga von Centratur. Zuerst begleiten wir Marc, Mogs Sohn, auf seiner Wanderung nach Waldmar zum Schloss seines Paten. Er soll dort warnen und um Hilfe bitten. Doch er kommt zu spät. In dem Land jenseits des großen Flusses erwartet ihn furchtbares Elend. Zusammen mit der Grafentochter Akandra muss er vor den Orokòr fliehen. Sie gelangen in eine seltsame Welt und erhalten einen wichtigen Auftrag.

Die Reise nach Waldmar

Marc kam er rasch voran. Am frühen Vormittag befand er sich schon jenseits der Oststraße, die er unbemerkt überquert hatte. Auf seinem Weg war er bisher niemandem begegnet und fühlte sich einsam. Gegen Mittag setzte er sich in den Schatten einiger Bäume und aß mit gutem Appetit von dem mitgebrachten Proviant. Der junge Erit genoss es, außerhalb der Enge des Elternhauses durch die Welt zu ziehen. Nun, nachdem die Mahnungen und Ratschläge von Mutter und Vater verstummt waren, fiel ein Druck von ihm ab. Er streckte sich und atmete tief durch. Marc bereit für das Abenteuer.


Noch immer war die Gegend wie ausgestorben. Dies verwirrte ihn. Wenn hier er früher gewandert war, hatte er Holzfäller, Jäger und Bauern getroffen, die mit ihren Ochsenfuhrwerken auf die Felder fuhren. Schließlich erreichte der junge Erit das Ende des Waldes im Osten. Von hier fiel der Weg steil ab. Die ausgefahrenen Spuren des Weges schlängelten sich in kurzen Serpentinen hinunter zur Mooraue.

Als Marc einmal stehen blieb und nach Osten blickte, sah er in der Ferne schwarzen Rauch wie von großen Bränden. Er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen und kümmerte sich nicht weiter darum. Weit nach Mittag erreichte er die Ebene. Er war inzwischen fußwund. Aber irgendetwas trieb ihn vorwärts, gönnte ihm keine Ruhe.

Früher als gedacht erreichte er Loidl eine kleine Arbeitersiedlung. Die Gegend um Loidl war sumpfig. Von dieser Unbill der Natur lebte die Bevölkerung des Ortes. Die Männer gruben lange, tiefe Entwässerungsgräben und stachen mit besonderen Werkzeugen den Torf. Der getrocknete Torf wurde zu Ballen verpackt und im ganzen Heimland verkauft. Reichtümer waren mit diesem Geschäft zwar nicht zu gewinnen, aber die Leute hatten ihr Auskommen.

Die Straße führte am Ort vorbei. Arbeitshütten säumten den Weg. Immer wenn Marc früher in dieser Gegend war, hatte er dort stets fleißige Männer gesehen. Heute war alles leer und verlassen. Nur Torfziegel lagen in langen Reihen zum Trocknen ausgebreitet. Verwirrt blieb er stehen und sah sich um. In dem trüben Licht des verhangenen Tages sah alles so trostlos und gespenstisch aus. Niederes Gesträuch und dunkle Weiden gaukelten gefährliche Tieren vor. Fliegen und Stechmücken hatten sich zu Schwärmen über den Wassertümpeln vereint. Marc machte, dass er weiterkam.

Als es dann dunkel wurde suchte er sich ein Lager zwischen Büschen. Seine Kleider waren klamm und er schlief schlecht. Deshalb war er über den neuen Tag froh und machte sich schon bei den ersten Sonnenstrahlen auf den Weg.


Am späten Nachmittag erreichte er endlich Moordorf. Vor Stunden hatte Nieselregen eingesetzt, und Nebel war aufgezogen. Der Wanderer war nass und erschöpft. Voller Hoffnung auf eine trockene Unterkunft lief er die Dorfstraße entlang. Er hatte Hunger wie ein Bär und freute sich auf das weit gerühmte Bier, das hier gebraut wurde. In Moordorf, so hatte sich Marc vorgenommen, wollte er übernachten, um am nächsten Morgen nach Waldmar überzusetzen.

Allzu große Eile schien ihm noch immer nicht geboten. Sicher, dem Heimland drohten Gefahren, und seine Aufgabe war es auch, die Grafenfamilie zu warnen. Aber Waldmar war durch den Wilden Wald auf der einen Seite und den Großen Fluss auf der anderen gut geschützt. Die Menschen dort galten zudem als kampferprobt und gelassen im Umgang mit Gefahren. Bisher hatten sie noch jedes Unheil abzuwenden vermocht.

Wie er so zwischen den Häusern hindurch schritt, fiel ihm die seltsame Ruhe auf, die über Moordorf lag. Straßen und Gassen waren leer. Niemand ließ sich sehen. Auf den Höfen der Bauern pickten keine Hühner und schnüffelten keine Schweine. Alle Fenster und Türen waren geschlossen und manche sogar verrammelt. Eine vergessene Forke steckte in einem Misthaufen.

Auch der Gasthof sah verlassen aus und seine Fenster waren mit festen Holzläden verschlossen. Hungrig und müde klopfte er dennoch an das grün gestrichene Tor. Da niemand antwortete, pochte er stärker und begann zu rufen. Es konnte doch nicht sein, dass das ganze Dorf verwaist war. Seine Hand tat ihm schon weh, als er hinter der Tür etwas hörte.

Er solle nicht solch einen Lärm machen, rief eine ärgerliche Männerstimme. Ob er denn nicht merke, dass der Gasthof geschlossen sei. Er solle schleunigst weitergehen. Fremde seien in Moordorf zurzeit unerwünscht. Wenn er diesem Rat nicht umgehend Folge leiste, so werde man es ihm mit Knüppeln beibringen.

Marc versuchte zu erklären, dass er eine weite Wanderung hinter sich habe und Verpflegung und Ruhe brauche. Die Stimme hinter der Tür wurde immer wütender. Doch erst das Gebell von zwei Hunden, mit denen, zumindest dem Kläffen nach, nicht zu spaßen war, schreckte den Wanderer vollends ab. Hinkend und enttäuscht machte er sich wieder auf den Weg. Mit eingezogenem Kopf durchquerte er den trostlosen Ort. Trotz der Nebelschwaden, die mehr und mehr die Häuser und Höfe verhüllten, fühlte er die Blicke, die aus allen Ritzen und Läden auf ihn gerichtet waren.


Er ließ Mooraue hinter sich und erreichte nach einer Viertelstunde den Tabakweg. Der Begriff ‘Weg’ war irreführend. Es handelte sich dabei um eine breite Straße, die im Norden von der Oststraße abzweigte und nach einem eleganten Schwung am Erfstrom entlang nach Süden führte. Der Nebel war nun so dicht, dass der junge Erit kaum noch seine Hand vor den Augen sehen konnte. Brandgeruch hing in der nassen Luft, aber er konnte nicht ausmachen, woher er kam.

Beinahe wäre Marc in die Falle gelaufen, denn plötzlich hörte er ganz nahe Stimmen und sah den Schein eines flackernden Feuers.

„Wie lange sollen wir in dieser Waschküche noch hocken?" beschwerte sich eine schrille Stimme. „Wir müssen die Straße bewachen, während sich die andern beim Plündern die besten Stücke unter den Nagel reißen. Unsere Wache hier ist völlig unnötig. Es kommt doch niemand vorbei."

Marc blieb starr im Nebel stehen. Zu gern hätte er gewusst, mit wem er es zu tun hatte. Aber er wagte sich nicht näher heran. Stattdessen versuchte er, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich konnte er wieder ruhig atmen und kehrte nach kurzer Überlegung nach Moordorf zurück. Er verstand nun die Menschen und ihre Angst. Im Ort klopfte er doch noch einmal an die eine oder andere Tür. Er hoffte noch immer auf ein wenig Wärme und Nahrung. Aber wie beim ersten Mal hatte er keinen Erfolg, sondern wurde mit Flüchen und Verwünschungen verscheucht.


Er machte sich nun doch große Sorgen um die Familie seines Paten. Besonders Akandra, dessen Tochter, ging ihm nicht aus dem Sinn. Ganz deutlich hatte er ihr Gesicht vor Augen, die braunen Augen und die Stupsnase.

‚Ich muss nach Waldmar’, dachte er, ‚koste es, was es wolle. Wenn ich hier nicht an den Fluss komme, weil die Straße bewacht ist, dann pirsche ich mich eben über die Felder. Das ist zwar ein Umweg, aber es bleibt mir wohl nichts Anderes übrig.’

Er bog in der Mitte des Ortes, dort wo der Brunnen stand, nach Westen ab. Ein schmaler Weg führte zwischen zwei Bauernhöfen hindurch und hinaus auf die Felder. Das letzte Haus, an dem er vorbeikam, war klein und grau, der Vorgarten mit dünnen Stecken eingezäunt. Auch hier waren die Läden geschlossen. Aus dem Inneren hörte man Hühner und Enten.

Marc entschloss sich zu einem letzten Versuch und klopfte. Einsam stand er vor der Tür und wartete, während der milchige Nebel ihn umfing. Endlich hörte er Geräusche über sich und schöpfte Hoffnung. Zuerst öffneten sich ein Laden und dann das Fenster. Er sah hinauf und wollte schon freundlich grüßen, als ein eiskalter Schwall Wasser auf ihn niederging. Jemand hatte einen Kübel über ihm ausgekippt und riegelte nun geräuschvoll das Haus wieder ab. Der junge Erit war nun zu allem Überfluss auch noch nass bis auf die Haut.


Bald taumelte er nur noch in einer Art Halbschlaf dahin. Seine letzte Wegzehrung hatte er längst gegessen, den letzten Tropfen Wasser getrunken. Endlich, als er bereits überlegte, ob er sich nicht einfach in das nasse Gras am Wegrand werfen sollte, lichtete sich der Nebel. Zuerst konnte er nur wenige Meter weit sehen. Dann erkannte er Felder zur Linken und zur Rechten. Er sah abgeerntete Apfelbäume auf den Wiesen. Aus ihren Früchten wurde der in ganz Centratur berühmte Apfelwein gebraut. Direkt vor Marc aber türmten sich große schwarze Blöcke auf. Neugierig trat er näher. Der Geruch von verbranntem Holz wurde stärker. Darunter mischte sich ein Gestank, den er nicht kannte. Der Wanderer sah näher hin und stellte mit Schrecken fest, dass er vor den Trümmern eines Bauernhofs stand.

Das Bild, das sich ihm bot, war trostlos. Die Dächer der Häuser waren eingebrochen und verbrannt. Einige der dicken Balken rauchten noch. Die hohe Umfassungsmauer des Gehöftes war eingerissen, das schwere Tor hing schief in den Angeln. Voller Entsetzen sah Marc in der Haustür eine zusammengesunkene Gestalt und auf dem verwüsteten Hof die Kadaver von großen Hunden liegen. Alle waren sie von schwarzen Pfeilen durchbohrt. Nun wurde ihm schlagartig bewusst, wo er war. Dies war einstmals der Hof vom Bauer Sturm gewesen. Ein freundlicher Bauer, den sein Vater auf seinen Wanderungen oft besucht hatte. Einmal hatte ihn Marc dabei begleiten dürfen. Der Bauer war damals schon alt gewesen und inzwischen längst gestorben. Seine Söhne hatten die Wirtschaft übernommen und weiterhin dafür gesorgt, dass lichtscheues Gesindel um den Sturmhof stets einen Bogen machte.

Nun gab es den Hof nicht mehr. Seine Bewohner waren tot und ihre scharfen Hunde ermordet. Marc schauderte. Wer hatte dieses Verbrechen begangen? Gab es gegen diesen Feind überhaupt eine Chance? Angst krampfte sich um sein Herz. Er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte, wenn er die Waldmarer noch rechtzeitig warnen wollte. Wahrscheinlich war bereits alles zu spät und seine Mission gescheitert. Wieder dachte er an Akandra, die Tochter des Grafen Marrham. Sicher, sie war eine hochmütige junge Dame, aber sie durfte auf keinen Fall in die Hände der Bestien fallen, die das hier angerichtet hatten.

Der Gedanke an Akandra gab seinem müden Körper wieder Kraft. Er richtete sich auf und zwang sich zur Ruhe. So leise er konnte, ging Marc weiter. Dabei spähte er aufmerksam nach allen Seiten. Aber die Vorsicht war unnötig. Weit und breit war außer ihm kein Wesen zu entdecken. Wahrscheinlich hatte das schlechte Wetter alle Angreifer in einen Unterschlupf getrieben. Ungehindert bog Marc nach zwei Stunden auf den Pfad zum Fluss ein.


In der letzten halben Stunde hatte der Brandgeruch wieder zugenommen. Die Nacht hatte sich inzwischen herabgesenkt. Regenwolken verdeckten das trübe Mondlicht. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte. Endlich war er am Ziel und stand auf einem Anlegesteg am Ufer des Erfstrom, den er mehr ahnte als wahrnahm. Der Brandgeruch war nun beinahe unerträglich. Marc stieg die drei Holzstufen zum Wasser hinunter. Aber nirgendwo lag ein Kahn, mit dem er den Fluss hätte überqueren können.

Müde, enttäuscht und ratlos ließ er sich unter einem Busch am Ufer nieder. Vor ihm rauschte und gurgelte der große Fluss. Nieselregen kam auf und drang durch seine Kleider. Trotzdem wäre er beinahe eingeschlafen, als er plötzlich in der Ferne das Getrappel von Pferdehufen hörte. So klangen keine Ponys, dies war der schwere Gang eisenbeschlagener großer Pferde.

Einem plötzlichen Impuls folgend erhob sich Marc, lief zur Uferböschung und zog seinen dunklen Mantel eng um sich. Es dauerte nicht lange, und die Pferde kamen näher. Marc hielt den Atem an. An der Abzweigung zum Landungssteg blieben die Reiter stehen. In diesem Augenblick kam der Mond hinter den Wolken hervor. In seinem fahlen Lichtschein konnte Marc silberne Rüstungen und hohe Helme erkennen.

„Wir kommen zu spät“, sagte der eine Reiter. „Dem Geruch nach zu urteilen, ist dort keine Hilfe mehr nötig."

„Hier kommen wir nicht über den Fluss. Ich kann kein Gefährt entdecken. Weiter unten aber sind die Orokòr."

„Armes Heimland! Es bräuchte so dringend Hilfe, aber wir sind zu schwach."

Marc wollte schon aufspringen und die Fremden grüßen. Sie schienen Freunde zu sein. Er wollte sie fragen, was geschehen sei, wollte sie um Rat und Hilfe bitten. Aber sie waren schon weiter geritten, und er sah nur noch ganz fern ihre Rüstungen blitzen.


Während er noch über die Reiter nachdachte, rissen die Wolken gänzlich auf und im fahlen Licht des Mondes sah der Erit flussabwärts ein kleines Boot. Es war abgetrieben und hatte sich in den Ästen einer Weide verfangen, die tief über dem Wasser hingen.

Marc schlich am Ufer entlang und kletterte vorsichtig hinein. Unversehens stand er bis zu den Knöcheln im Wasser. Das Schiffchen leckte. Mit so einem morschen Kahn den großen Strom zu überqueren, war ein waghalsiges Unterfangen. Doch Marc zauderte keinen Moment. Die Sorge um Akandra trieb ihn vorwärts. So setzte er sich auf die Ruderbank und nach kurzer Zeit sah er um sich nur noch Wasser.

Mit aller Kraft legte er sich in die Ruder. Doch so sehr er sich auch sich auch abmühte, der alte Kahn wurde mehr und mehr von der starken Strömung abgetrieben. Das Ufer, zu dem er wollte, kam und kam nicht näher. Angst breitete sich in seinem Kopf aus. Mit einem Mal wurde ihm klar, in welcher großen Gefahr er sich befand. Doch einer Eingebung folgend hörte er auf gegen den Fluss zu kämpfen. Er hatte die Hoffnung aufgegeben bei dem Anlegesteg unterhalb des Schlosses anzukommen. Stattdessen ließ er sich treiben und ruderte nur noch Meter um Meter auf das andere Ufer zu. Diese Taktik ging auf. Endlich legte der Kahn weit entfernt vom Schloss an Land an. Er hatte inzwischen so viel Wasser aufgenommen, dass es bis an die Knie des Erits reichte. Hätte die Überfahrt noch länger gedauert, so wäre das Boot wahrscheinlich gesunken. Erleichtert sprang Marc ans Ufer und atmete tief durch.

Vor vielen Generationen waren die Vorfahren der Familien in Waldmar über den Erfstrom gerudert und hatten dort das Land urbar gemacht. Keiner weiß mehr, was sie dazu veranlasst hatte. War es der Wunsch, ein eigenes Reich zu gründen oder einfach nur Ärger mit den Nachbarn im Heimland? Wie auch immer, sie nahmen das Land an der Stelle in Besitz, wo der Wilde Wald nicht bis zum Flussufer reichte. Es handelte sich um ein recht ansehnliches Areal. Der Wilde Wald akzeptierte die neuen Nachbarn, und noch heute fragte man sich im Heimland, welcher Pakt damals mit den Bäumen geschlossen worden war.

Es entstanden neue Ortschaften ‘Heuhof’ und ‘Wiesloch’. Dazwischen lagen Felder und Wiesen und auch Mühlen, denn die Leute in Waldmar waren fleißig und brachten es bald zu beträchtlichem Reichtum. Die Bauern in der Mooraue standen freundschaftlich mit den Leuten aus Waldmar. Man konnte mit ihnen gute Geschäfte machen, und dies war auch so geblieben, nachdem der König Marrham zum Graf ernannt hatte. Im Grunde war alles unter seiner Regentschaft gleich geblieben, man fühlte sich nur noch ein wenig vornehmer als früher. Dies alles ging Marc durch den Kopf, als er die Böschung hinaufkletterte und eilends zu der mit Bäumen gesäumten Chaussee eilte.


Das Massaker


Seinen Marsch durch das verbrannte Land und die rauchenden Ruinen würde Marc wohl nie vergessen. Bald begann es zu dämmern, und das bleiche Tageslicht enthüllte ein furchtbares Grauen. Wo früher heimelige Häuser gestanden hatten, sah der junge Erit jetzt nur noch Trümmer und glimmende Balken. Die Orokòr hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen. Das Schlimmste aber waren die Leichen. Sie hingen aus ausgebrannten Fensteröffnungen, lagen zusammengesunken in den Vorgärten oder waren auf der Flucht mit schwarzen Pfeilen im Rücken zusammengebrochen. Viele der Toten waren verstümmelt und grausam gefoltert worden. Selbst die Kinder hatten die Bestien nicht am Leben gelassen.

Nun erkannte der Wanderer auch, woher dieser süßliche Geruch gekommen war, den er schon auf der anderen Seite des Erfstrom bemerkt hatte. Es war der Gestank verwesender Leichen. Marc wurde es schlecht. Er erbrach sich würgend. So etwas Entsetzliches hatte er noch nie in seinem Leben gesehen und sich bisher nicht einmal vorzustellen vermocht. Ein ungeheurer Hass auf die Orokòr erfüllte sein Herz. Sie sollten für ihre Verbrechen büßen, dafür wollte er, Marc, Mogs Sohn, sorgen. Er dachte an die Familie seines Paten und ganz besonders an Akandra. Er wusste, dass er zu spät kam. Dafür trug er die Schuld, er hatte auf dem Weg zu sehr getrödelt. Aber hätte er das Gemetzel tatsächlich verhindern können, wenn er rechtzeitig da gewesen wäre? Wahrscheinlich wäre er auch umgebracht worden! Was suchte er noch in diesem Chaos? War es nicht höchste Zeit, zurück nach Heckendorf zu eilen? Er musste dort von den Verbrechen, die hier verübt worden waren, berichten. Alle Erits mussten umgehend gewarnt werden. Die Morde in Waldmar waren sicher erst der Anfang. Bald würde das ganze Heimland überfallen und das Töten weitergehen. Grausame, mitleidlose Mörder waren in seine Heimat eingedrungen. Dieser Wahrheit musste man ins Auge sehen, und es gab niemanden, der Schutz hätte bieten können.

Die Sonne stand noch nicht an ihrem höchsten Punkt, als Marc endlich das Schloss erreichte. Auch der einst so stolze Sitz des Grafen lag in Schutt und Asche. Die Blumenrabatten um das Herrschaftsgebäude waren zertrampelt. Von der ganzen Pracht, dem Stolz der Waldmarer, war nichts mehr übriggeblieben. Die Fensterhöhlungen glotzten leer und rußgeschwärzt, die Türen waren eingetreten und zersplittert. Auf ihrer Suche nach Schätzen hatten sich die Orokòr wenig Zeit gelassen und waren rücksichtslos vorgegangen. Überall lagen Leichen.

‚Akandra? Wo ist Akandra?’ fragte sich der einsame Erit immer besorgter.

Sie durfte nicht tot sein. Zwischen ihnen war noch etwas, das ausgetragen werden musste. Diesem Mädchen wollte er noch etwas beweisen. Wie vom Schlag getroffen wurde ihm plötzlich klar, dass er Akandra gernhatte.

Nun gab es für Marc kein Halten mehr. Er stürmte ins Schloss und rannte keuchend durch die langen Gänge und zerstörten Räume. Immer wieder musste er über tote Waldmarer steigen. Der Leichengestank war kaum zu ertragen. Zerbrochene Möbel versperrten seinen Weg. Er räumte sie mühsam beiseite. Türen hingen schief in den Angeln oder waren verklemmt. Einige der Erits hatten versucht, sich zu verbarrikadieren; andere hatten aus den Fenstern fliehen wollen und waren hinterrücks erstochen worden. Wie viel Leid und Schrecken hatten sich hier abgespielt! Verzweifelt fragte sich Marc, wie es möglich war, dass lebende Wesen so grausam sein konnten. Wenn es eine höhere Ordnung in der Welt gab, warum wurden dann derartige Verbrechen zugelassen? Wo war die Macht des Guten gewesen, als hier das Böse gewütet hatte?

Mutlos, aber noch immer verbissen suchte er im ganzen Schloss nach der Tochter seines Paten. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er unter die umgeworfenen Tische und in die zerbrochenen Schränke sah. Er wäre schon glücklich gewesen, wenn er wenigstens die tote Akandra gefunden hätte. Die Ungewissheit über ihr Schicksal marterte ihn. Bald gab es im Schloss keinen Raum mehr, den er nicht untersucht hatte. Aber außer Verwüstung und einer Unzahl unbekannter Toten hatte er nichts entdeckt. Mit hängenden Schultern verließ er die zerstörte Wohnstatt und streifte ziellos durch das verheerte Land. Irgendwann gelangte er auch zum Wilden Wald.

Gedankenverloren starrte er auf die Bäume. Plötzlich hatte er eine Idee, und dieser Gedanke machte ihm Hoffnung. Sein Körper straffte sich, er erwachte aus seinem Dämmerzustand. Vorsichtig ging er am Waldsaum entlang, bis er eine Lichtung fand. Und wirklich saß dort, mitten im Gras zwischen den hohen Bäumen, Akandra. Sie war unversehrt, aber so verstört, dass sie ihn nicht erkannte. Sie hatte rechtzeitig fliehen können und sich an den einzigen Ort gerettet, an den ihr die Orokòr nicht zu folgen wagten. Der Wilde Wald rief gerade bei den bösen Geschöpfen Furcht und Entsetzen hervor.

Marc ging langsam auf das geistesabwesende Mädchen zu und redete begütigend auf sie ein. Dann half er ihr vorsichtig auf die Füße, nahm ihre Hand, und sie wehrte sich nicht. Ihre Augen waren trocken und stumpf. Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Schulter, doch sie schüttelte ihn unwirsch ab. Marc sagte nichts, sondern blieb ruhig neben ihr. Lange standen sie stumm und unbeweglich im Wilden Wald, bis die Sonne tief am Himmel stand und ein kühler Wind aufkam. Da endlich bäumte sich der Körper des Mädchens auf. Sie zitterte wie im Fieber. Tränen liefen ihr über die Wangen, und mit einem verzweifelten Schluchzen warf sie sich an die Brust des Jungen. Irgendwann hatte sie sich ausgeweint, löste sich von ihm und trocknete ihre Augen. Dann, ganz überraschend, sagte sie ruhig, als wäre nichts geschehen: „Es wird Zeit, dass wir zurückkehren und nach dem Rechten sehen!“

Schweigend machten sie sich auf den Rückweg in das furchtbare Chaos. Akandra trug einen zerfetzten, mit Dreck und Blut beschmierten weißen Rock und einen langen dunklen Umhang. Sie war einen Kopf kleiner als Marc, hatte einen energischen Mund und eine zierliche Figur. Sie wirkte so zerbrechlich, dass der junge Erit an sich halten musste, um nicht beschützend den Arm um sie zu legen.

Die junge Gräfin steuerte wortlos auf Waldlust zu. Es war der Sommersitz ihrer Familie gewesen. Graf Marrham hatte dort vom Regieren ausgeruht und seine Bücher geschrieben. In Waldlust hatten sie alle glückliche Tage und Wochen verbracht. Hier mussten sie nicht repräsentieren, waren privat und unbeobachtet gewesen. Auch dieses Anwesen mit all seinen Anbauten war verwüstet, geplündert und gebrandschatzt worden. Doch der traurige Anblick hielt Akandra nicht zurück. Sie eilte rasch auf das Haus zu und ließ Marc zurück. Als er sie in der großen Eingangshalle eingeholt hatte, blieb er versteinert stehen. Vor ihnen auf dem Boden lag Akandras Mutter, die Gräfin. Sie hatte sich Waldlust, diesen Platz der Heiterkeit und des Frohsinns, als Fluchtort ausgesucht, und Waldlust war ihr zum Verhängnis geworden. Ihre zerrissenen Kleider waren überall verstreut. Sie selbst lag verstümmelt in ihrem Blut.

Marc versuchte, Akandra sanft aus dem Haus zu ziehen. Aber sie riss sich von ihm los, lief zu der Leiche und fiel vor ihrer toten Mutter auf die Knie. Dort stammelte sie immer und immer wieder: „Meine schöne Mutter, meine schöne Mutter, was haben sie dir angetan!“

Dabei streichelte sie das blutverkrustete Haar der Gräfin. Endlich stand die Grafentochter auf, und ihr Gesicht war hart.

„Ich werde alles tun, um sie zu rächen“, sagte sie dumpf und entschieden.

Marc wusste, sie würde nicht ruhen, bis sie ihr Versprechen wahrgemacht hatte. Dann durchsuchte Akandra ruhig das verwüstete Haus und schnürte aus dem, was sie an Brauchbarem fand, ein Bündel. Marc wartete auf dem zertrampelten Rasen vor dem Eingang. Später kam das Mädchen heraus und legte die Habseligkeiten bei dem Jungen ab. Dann kehrte sie noch einmal zurück, und schlug mit einem Stein Feuer. Rasch waren die Vorhänge in der Halle in Brand gesetzt. Sie flammten sogleich lichterloh auf. Dann griff das Feuer auf die alten hölzernen Deckenbalken über. Eine Zeit lang standen die beiden jungen Leute vor dem einst so prächtigen Gebäude und sahen dem Brand zu. Schließlich wandten sie sich ab und verließen die Stätte des Grauens. Das Mädchen sah sich nicht einmal um.

„Wir können uns auf den Weg machen“, sagte sie, „hier gibt es nichts mehr zu tun."

Die hoch in den Himmel züngelnden Flammen beleuchteten ihren Weg.

„Wohin gehen wir eigentlich?" fragte Akandra.

„Wir müssen uns nach Heckendorf durchschlagen. Dort sind meine Familie und ein Freund, dessen Namen ich hier nicht nennen darf. Wir müssen alle warnen. Von Heckendorf aus können wir den Widerstand gegen diese Bestien organisieren."

„Und wie willst du dort hinkommen?" fragte sie spöttisch. „Alle Straßen und Brücken sind doch sicher bewacht."

„Da magst du Recht haben. Dennoch will ich es im Osten versuchen. Vielleicht haben wir Glück, und die Orokòr sind bereits abgezogen, weil sie hier kein lebendes Wesen mehr erwarten."

„Ich muss sagen, du hast mir einen bis in die kleinste Einzelheit durchdachten Plan unterbreitet. Wenn wir ihn befolgen, kann einfach nichts mehr schiefgehen." Das Mädchen sprach mit triefender Ironie.

„Hast du einen besseren Vorschlag?"

Wildes Geschrei unterbrach den Disput. Von Westen und Süden sahen sie Orokòr herbei stürmen. Die schwarzen Feinde hatten die Flammen des Hauses gesehen und rannten nun, um nach den Brandstiftern zu fahnden.

„Ein besseres Leuchtzeichen hätten wir nicht setzen können, um auf uns aufmerksam zu machen."

Aber Akandra sagte nur: „Dieses Begräbnis war ich meiner Mutter schuldig."

„Und wohin sollen wir uns nun wenden? Bisher hatten wir wenigstens eine kleine Hoffnung, nun sehe ich keine Chance mehr für uns zu entkommen."

Sie hatte sich bereits wortlos umgewandt und rannte ohne auf ihn zu warten nach Süden. Es war klar, sie wollte zurück in den Wilden Wald. Doch die Orokòr hatten sie inzwischen gesehen und jagten ihnen mit Geheul nach. Orokòr sind ausdauernde und schnelle Läufer, und der Vorsprung, den das Mädchen und der Junge hatten, verringerte sich rasch. Marc hatte das Gefühl seine Lungen würden gleich platzen, aber das Stakkato der eisenbeschlagenen Stiefel hinter ihm spornte ihn an, das Letzte aus seinem Körper herauszuholen. Er lief nun auf gleicher Höhe mit Akandra und sah, wie sie taumelte. Sie war am Ende ihrer Kräfte, und der Wald war noch vierzig Fuß entfernt. Mit festem Griff fasste er sie unter dem Oberarm und zog sie mit sich. Auch die Orokòr hatten gesehen, dass ihre Opfer am Zusammenbrechen waren, und stießen triumphierende Schreie aus. Nun waren es noch zwanzig Fuß bis zu den Bäumen, und die Verfolger hatten sie beinahe eingeholt.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte das Mädchen.

„Du musst! Denk an deine Mutter!"

Die Angst gab ihnen einen letzten Antrieb. Sie stürmten durch Büsche und Bäume. Im Wald war es kühl und so dunkel, dass sie nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnten. Noch immer stützte Marc das Mädchen. Akandra warf sich plötzlich auf den Boden und blieb keuchend liegen. Auch der Junge sank auf die Knie und schnappte nach Luft. Ihm war schwindlig, und er hatte entsetzliches Seitenstechen. Doch sie konnten sich keine Ruhe gönnen, denn sie hörten die Orokòr lärmend näherkommen. Diesmal hielt sie die Angst vor dem Zauberwald nicht zurück. Der Jagdtrieb ließ die schwarzen Gestalten alle Vorsicht vergessen. Sie brachen Äste von den Bäumen und steckten sie in Brand. Im Nu war die ganze Lichtung hell erleuchtet. Die Erits rafften sich auf und schleppten sich weiter.

„Der Wald mag Feuer nicht“, raunte Akandra. „Ich hoffe, den Orokòr wird das Fürchten beigebracht."

„Was können Bäume diesen schwer bewaffneten und gepanzerten Schurken schon anhaben?"

„Der Wald ist mächtiger, als du dir vorstellen kannst."

Sie zwängten sich vorsichtig und so lautlos wie möglich durch das Unterholz. Dabei achteten sie nicht auf die Richtung, sondern flohen vor dem Licht und dem Lärm. Noch immer hörten sie die Verfolger, die rücksichtslos Sträucher und kleine Bäumchen nieder trampelten. Ihre Fackeln entfachten da und dort kleine Brände. Bald würden sie die Erits einholen. Diese verbargen sich hinter zwei mächtigen Bäumen. An eine weitere Flucht war nicht zu denken. Es blieb ihnen nur noch die Hoffnung, dass die Orokòr an ihnen vorbei stürmen würden, ohne sie zu bemerken. Da hörten sie einen Ruf aus rauer Kehle, der alle Hoffnungen zerstörte: „Hierher, ich kann sie riechen!"

„Mutter, hilf!" flüsterte Akandra und Marc stöhnte laut auf.


In diesem Augenblick begann ein dumpfes Dröhnen. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Die Bäume bogen sich schwingend hin und her. Über das Brummen und Dröhnen erhob sich nun ein schrilles Pfeifen. Die Erits umarmten sich in Panik, ihr Herz schlug ihnen bis zum Hals. Auch die Orokòr wurden von Furcht gepackt und heulten und schrien wild durcheinander. Einige ließen ihre Fackeln fallen, und das dürre Laub des Bodens entzündete sich. Das Vibrieren wurde noch stärker, und das Brummen und Dröhnen war nun so durchdringend, dass alle das Gefühl hatten, der Kopf müsse ihnen bersten.

Neben Marc war ein riesiger Orokòr aufgetaucht. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die Arme erhoben. Gerade als er mit seinen Klauen zuschlagen wollte, stürzte ein mächtiger Ast von einem Baum und erschlug den schwarzen Angreifer. Nun brachen von vielen Bäumen Äste, und jeder Ast traf einen Orokòr. Sie klagten und wimmerten. Plötzlich erwachten auch die Schlingpflanzen, die überall herum hingen, zu eigenem Leben. Sie schlängelten sich von den Bäumen und vom Boden, sie umklammerten hier einen Fuß in groben Lederstiefeln und dort einen Hals und zogen sich mit unwiderstehlicher Gewalt zusammen. Die erdrosselten Orokòr konnten nicht mehr schreien. Sie stöhnten dumpf und brachen dann zusammen.

Noch immer nahm das Brummen und Dröhnen zu. Die Fackeln der nachströmenden Orokòr entfachten mehr und mehr Brände. Es war zu spüren, dass der Wald immer wütender wurde. Holzstücke durchbohrten die Orokòr trotz ihrer Rüstung. Schwarzes Blut spritzte auf Laub und Stämme. Doch das Grausamste kam zuletzt. Kleine unscheinbare Dornen schossen als Pfeile durch die Luft. Sie bohrten sich in Gesichter, in das nackte Fleisch der Arme und die Hälse. Die Dornen taten nicht besonders weh, aber sie hatten eine furchtbare Wirkung. Sie waren vergiftet, und wer von ihnen getroffen wurde, konnte sich von diesem Moment an nicht mehr rühren. Er erstarrte bei vollem Bewusstsein.

Bald war von den Orokòr kein Ton mehr zu hören. Auch die Brände erloschen einer nach dem anderen. Dann war es wieder ganz dunkel und still im Wald. Akandra und Marc sanken zu Boden, unfähig einen Gedanken zu fassen, unfähig etwas zu sagen, noch immer von dem furchtbaren Grauen ergriffen. Beide schluchzten und klammerten sich aneinander. So fielen sie in den Schlaf und erwachten erst, als der neue Tag schon weit fortgeschritten war.


Verwundert blickten sie sich um. Die Ereignisse der Nacht erschienen ihnen im hellen Licht des Tages wie ein böser Traum. Als sie aber die alten Bäume drohend über sich aufragen sahen, schlich sich wieder Furcht in ihre Herzen. Vorsichtig richteten sie sich auf und gewahrten sogleich die erstarrten Orokòr. Mit einem Aufschrei rannten sie los und wagten es nicht sich umzusehen. Blindlings stürmten sie durch die Büsche, bis sie zerkratzt, erschöpft und außer Atem gemeinsam wieder zu Boden sanken. Mühsam bezähmten sie ihre Angst.

„Wo sind wir?" flüsterte Marc.

„Ich weiß es nicht."

„Ob die Orokòr wohl noch hinter uns her sind?"

„Ich glaube, sie sind alle tot."

„Das war eine furchtbare Nacht."

Akandra nickte.

„Wie kommen wir nur wieder aus diesem Wald heraus. Weißt du, wo wir sind?"

Akandra schüttelte den Kopf.

„Du bist nicht sehr gesprächig."

Akandra nickte.

„Aber was sollen wir tun? Wir können hier doch nicht ewig sitzen bleiben."

Akandra zuckte mit den Schultern. Nun war es Marc leid.

„Akandra“, sagte er wütend. „Du sitzt genauso in der Tinte wie ich. Ich nehme nicht an, dass du hier in diesem grauenhaften Wald deinen Lebensabend verbringen willst. Oder verlangst du etwa von mir, dass ich ein paar Bäume fälle und dir eine Hütte baue?"

„Pst“, flüsterte sie erschreckt. „Sag’ so etwas nicht an diesem Ort, nicht einmal im Spaß. Der Wald hört alles, und er kann sehr wütend werden, wie du gestern selbst erlebt hast."

„So erzähl mir doch endlich etwas über diesen seltsamen Wald. Du musst doch etwas über ihn wissen."

Akandra lehnte sich vorsichtig gegen einen Stamm und schloss versonnen die Augen.

„Der Wilde Wald“, begann sie, „existierte schon als die Erde noch ganz jung war. Geschöpfe haben ihn gepflanzt, deren Namen längst vergessen sind. Zuerst waren die Bäume noch unbeholfen und offen. Sie liebten alle Lebewesen und sie ließen sich hegen. Die Tiere des Waldes durften an ihren Trieben nagen, und die Menschen und Achajer sogar hie und da einen Stamm fällen. Aber die Bäume erlebten auch mit Schrecken und Verachtung die Kriege, auf die sich die Menschen später einließen. Sie sahen, dass alle zweibeinigen Lebewesen, wenn es um ihren Vorteil geht, brutal und grausam sind."

„Einige“, warf Marc ein. „Einige, doch nicht alle!"

„Das weiß ich besser und habe deshalb eine andere Meinung als du. Aber lassen wir das! Während sich die Bäume anderer Wälder durch die Zeiten domestizieren ließen, wurde der Wilde Wald durch die Äonen immer mächtiger und weiser, aber auch tückischer. Die Bäume wollten von all den Geschöpfen, die auf dieser Erde leben, nichts mehr wissen. Sie kapselten sich ab und wehe, wenn sich seit dieser Zeit jemand zwischen ihre Stämme verirrt. Nur wenige haben bisher den Wald lebend wieder verlassen. Ich glaube, der Wilde Wald verachtet uns alle."

„Du meinst, die Bäume sind seit Menschengedenken ganz allein unter sich. Keine Tiere, keine Menschen durchstreifen diesen Forst?"

„Du hast Recht. Niemand wird hier geduldet außer Vögeln und..."

„Und...?"

„Und ROM."

„ROM?"

„Nun eben ROM."

„So lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!"

„Ich sollte hier im Wald nicht so viel reden. Unser Aufenthalt ist schon gefährlich genug. Ich habe dir doch gesagt, hier haben die Bäume Ohren."

„Ich will es aber jetzt wissen. Wer oder was ist ROM? Vielleicht kann er uns helfen?"

„Nun gut, damit du Ruhe gibst, erzähl ich dir ein wenig. Viel weiß ich nicht. Also, ROM war schon immer da. So lange Lebewesen sich erinnern können, gibt es ROM. ROM ist der Herr der Wälder. Ihm gehorcht der Wald, und von ihm wird der Wald gehütet und gepflegt. ROM ist unbegreiflich mächtig. Er könnte uns natürlich mit Leichtigkeit helfen. Wenn er wollte, hätten alle Orokòr dieser Welt ausgespielt. Aber er hat ebenso wie sein Wald das Interesse an den Menschen, den Orokòr und sogar an den Achajern verloren."

„Wir müssen diesen seltsamen ROM für uns gewinnen“, sagte Marc rasch und eifrig.

„Wenn das nur so einfach wäre! Er zeigt sich keinen Zweibeinern, und wenn er neben dir stünde, so würdest du ihn nicht bemerken."

„Dann ist dieser ROM also eiskalt und gefühllos?"

„Still! Sage so etwas nie wieder“, Akandra war erschrocken.

„Aber mein Urteil ist doch nicht falsch, wenn er all dem Leid auf der Welt zusieht, obgleich er helfen könnte! Wenn er uns hier in diesem Wald umkommen lässt! Wenn er zulässt, dass das ganze Heimland vernichtet wird!"

„ROM ist sicher nicht gefühllos. Er ist uns nur so fremd. Er ist mit nichts vergleichbar, was wir kennen. Mein Vater sagte immer: ROM ist der ganz Andere."

Da dröhnte der Wald von einem tiefen, durchdringenden Lachen. Das Lachen wechselte ständig seine Richtung. Mal kam es von rechts, dann wieder von links und dann wieder von einer anderen Seite. Die Erits drehten sich verwirrt und verschreckt um sich selbst und versuchten, die Quelle dieses Lachens zu entdecken. Aber es war nichts zu sehen außer Bäumen, Sträuchern und ein paar Fliegenpilzen. Endlich, es war ihnen schon ganz schwindlig, tippte ihnen jemand von hinten auf die Schulter. Sie fuhren beide gleichzeitig herum, und da stand vor ihnen ein Mensch, nicht groß aber sehr stämmig. Auf dem Kopf trug er einen Schmuck aus Federn, um die Schultern hatte er einen blauen Mantel gelegt, und seine Füße steckten in alten Stiefeln. Das Gesicht war umrahmt von einem langen, braunen Bart und zerknittert von hundert Lachfalten.

„Wer bist du?" stammelte Marc.

„Ich bin der, von dem ihr die ganze Zeit geredet habt“, lachte die Gestalt. „Es ist wirklich interessant, was ihr über mich zu sagen wisst."

Weil Marc sich nicht mehr zurückhalten konnte, platzte er heraus: „Wenn du so mächtig bist, wie Akandra sagt, dann musst du uns helfen!"

„Euch helfen?" ROMs Stimme klang verwundert.

„Ja, das Heimland ist in Gefahr. Orokòr haben uns überfallen, und sie haben alle Erits in Waldmar bestialisch umgebracht. Und sogar den Hof von Bauer Sturm haben sie überfallen und alle getötet. Es muss sofort etwas geschehen, sonst sind alle Erits verloren."

„Ja“, sagte ROM ernst, „ich habe gesehen, was geschehen ist. Es war furchtbar. Ihr tut mir leid."

„Von deinem Mitleid haben wir nichts“, entgegnete Marc erbittert, „was wir brauchen, das ist Hilfe."

„Damit kann ich euch leider nicht dienen. Ich weiß nicht, wie ich euch helfen könnte. Doch nun lasst uns von etwas anderem reden. Der Tag ist so schön, und das Laub der Bäume so grün."

ROM lachte wieder, und sein Lachen übertönte sogar das Zwitschern in den Ästen.

„Mein Gott, bist du gefühllos“, sagte Marc erbittert. „Aber so kommst du mir nicht davon. Eine alte Weisheit sagt, wer nicht hilft, obgleich er könnte, macht sich genauso schuldig wie der Täter."

ROM lachte noch immer. „Das ist nicht nett, was du mir sagst. Ich weiß wirklich nicht, was ich für euch tun könnte. Ihr überschätzt mich! Meine Macht ist begrenzt. Ich habe überhaupt keine Macht, um die Welt zu verändern. Auf der Erde geschieht nämlich nichts, was nicht geschehen soll. Selbst wenn ein Schmetterling stirbt, so gehört dies zum großen Plan. Wie könnte ich da so vermessen sein und eingreifen wollen?"

„ROM, der Fatalist und sein Wald“, warf Marc spöttisch ein. „Leider haben wir Erits keinen Wald, in dem wir uns verkriechen können."

„Weil ihr euren Wald verbraucht habt. Weil ihr jeden Wald, der euch auf Dauer schützen könnte, vernichtet. Weil ihr immer nur von dem augenblicklichen Nutzen ausgeht und nicht an die Zukunft denkt. Wenn dann die Not groß ist, lamentiert ihr und fordert von den Leuten, die sich ihren Wald bewahrt haben, Hilfe.

Nein, ich bin kein Fatalist. Aber ich verstehe mehr von dieser Welt als du, denn ich habe mehr gesehen und erlebt, als du dir vorstellen kannst. Du kannst mir glauben, ich war vor langer Zeit ebenso töricht wie du. Ich wollte die Welt verändern und gestalten. Aber ich habe bald eingesehen, dass dies eitle Versuche waren, weil der große Plan dennoch seinen Lauf nahm."

„Dass man etwas tut, statt nichts zu tun, das ist nicht Eitelkeit, heißt es in einem alten Gedicht. Sicher, wir sind dumm, wir sind sterblich, wir sind schwach. Aber wir tun wenigstens etwas gegen das Böse in der Welt, gegen die Gemeinheiten. Auch wenn es vergeblich ist, und wir in diesem Kampf immer verlieren werden. Doch unser fruchtloses Mühen ist auf jeden Fall besser als dein albernes Lachen. Ich kann deine Ausflüchte nicht mehr hören."

„Marc sei still! So kannst du nicht mit Meister ROM reden!" mischte sich Akandra ein. Und zu ROM gewandt: "Bitte nehmt es ihm nicht übel. Er weiß nicht was er sagt. Er meint es nicht so. Er ist nur sehr verzweifelt."

„Ich weiß genau, was ich sage." In Marcs Stimme lag Trotz.

ROM lachte noch immer. „Ich nehme es ihm nicht übel. Dein Freund gefällt mir. Es macht Spaß mit ihm zu streiten." Dann wandte er sich wieder an den jungen Erit. „Nehmen wir an, ich wäre so mächtig, wie du sagst. Wenn ich in das Geschehen dieser Erde eingriffe, wenn ich Streitereien schlichten, Kämpfe verhindern und schlimme Herrscher absetzen würde. Was glaubst du, würde sich ändern? Die Welt würde um keinen Deut besser. Mit einem einmaligen Eingreifen wäre es doch nicht getan. Ich müsste immer wieder aufs Neue, ja ich müsste täglich, stündlich meine Kraft anwenden und ordnen und schlichten. Da, wo ich es nicht täte, würde man mich verfluchen und mir die Schuld am Elend geben. Irgendwann würde ich ganz allein die ganze Welt lenken. Ich wäre der Herr der Welt. Wie könnte ich so größenwahnsinnig sein wollen! Im Übrigen wäre ich ein schlechter Herrscher, denn das Recht ist nur selten eindeutig auf einer Seite. Wenn zwei Parteien sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen und tyrannisieren, glaubt doch jede fest, im Recht zu sein und sich nur gegen die Gemeinheiten der anderen zu wehren. Wie könnte ich Schiedsrichter spielen und für eine Gruppe Partei ergreifen?"

„Deshalb lässt du also die Orokòr gewähren? Mit dieser fadenscheinigen Begründung siehst du dem Unheil ruhig zu?"

„Nein, ich sehe nicht ruhig zu, aber gelassen. ‚Mitleidend bleibt das ewige Herz doch fest', steht in einem alten Buch geschrieben. Doch nun haben wir genug disputiert. Es ist inzwischen Mittag geworden, und es wird Zeit, dass wir gemeinsam etwas essen."

Lachend und singend nahm er einen großen ledernen Beutel von der Schulter, setzte ihn auf den Boden und schnürte ihn auf. Dann packte er Köstlichkeiten aus, wie Ziegenkäse, Brot, Salz, Butter und Quark mit frischen Kräutern. Dies alles breitete er auf einer bunten, wollenen Decke aus und lud die jungen Leute zum Sitzen ein. Die bemerkten erst jetzt, wie hungrig sie waren. Beide hatten sie seit langem nichts mehr gegessen. Sie machten sich mit Appetit über all die guten Sachen her und auch ROM hielt kräftig mit.

Endlich waren sie gesättigt, lagen faul auf dem Rücken und blinzelten in die Sonne. Es war schön, wie sie dalagen, und es war friedlich, so friedlich wie auf Gutruh in den guten Zeiten.

Vor Marcs geistigem Auge tauchte ein anderes Bild auf. Gutruh verbrannt, geschunden und besudelt. Seine Mutter und sein Vater tot. Schwarze Horden zertrampeln triumphierend den sorgfältig gepflegten Garten.

Er sprang auf und rief: „Wir haben kein Recht, hier zu liegen. Inzwischen kann das Verderben schon in Heckendorf angelangt sein. Wir müssen weiter. Wirst du uns nun helfen, ROM?"

Auch Akandra war aufgestanden. Nur der Hüter des Waldes lag noch im Moos.

„Fängst du schon wieder an?" fragte er schläfrig. „Noch ist in Heckendorf nichts geschehen, und es ist dort noch ein paar Tage sicher. Ich habe dir schon gesagt, dass ich euch nicht helfen kann. Was glaubt ihr, wie viel Leid und Schmerz ich all die Jahrhunderte und Jahrtausende miterleben musste, ohne dass ich eingreifen oder etwas verhindern hätte können? Glaubt ihr, das ist spurlos an mir vorübergegangen? Ich habe keine Tränen mehr und ich habe gelernt alles neu zu sehen. Seit ich verstehe, kann ich damit leben. Und ich weiß, irgendwann werdet auch ihr verstehen. Doch in einem hast du recht, Marc, ihr müsst jetzt aufbrechen."


Er richtete sich auf und war mit einem Sprung auf den Beinen.

„Geht in diese Richtung. Ihr werdet nach einer knappen Wegstunde auf ein Tor stoßen. Dort habt ihr die Wahl. Ihr könnt durch das Tor treten. Damit setzt ihr euch großen Gefahren aus, aber ihr gewinnt vielleicht Hilfe für euren Kampf. Oder ihr geht rechts am Tor vorbei. Ihr findet einen Pfad, der euch über kurz oder lang zur Oststraße führen wird. Bevor ihr euch aber für das Tor entscheidet, bedenkt, ihr werdet es vielleicht nicht überleben."

Die jungen Leute sahen sich überrascht an, und bevor sie sich versahen, hatte ROM alles zusammengepackt und war lachend und singend verschwunden. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt sich zu verabschieden. Dort aber, wo er hingedeutet hatte, sahen sie einen schmalen Weg zwischen den Bäumen, dem sie sogleich folgten.


Nach einer Weile fragte das Mädchen vorwurfsvoll: „Warum hast du so mit ROM geredet?"

„Warum hast du mich nicht unterstützt, als ich ihn bewegen wollte, uns zu helfen?" entgegnete der Junge mit dem gleichen Tadel in der Stimme. „Wir sind in einer Lage, die es uns nicht erlaubt, höflich zu sein. Gerade du müsstest dies doch am besten wissen, nach allem, was du mitgemacht hast. Der Verzweifelte ist von der Pflicht befreit, nett zu sein."

Akandra antwortete nicht, und als Marc aus den Augenwinkeln zu ihr hinüberblickte, liefen ihr Tränen über das Gesicht. Doch sie hatte sich rasch wieder gefangen.

Mit fester Stimme erklärte sie: „Meine Eltern haben mir beigebracht, Haltung zu bewahren und auch in schlimmen Situationen die Regeln der Höflichkeit zu beachten. ROM gebührt Ehrfurcht. Wenn er sich uns verweigert, so hat er seine guten Gründe. Seine Einsicht geht weiter als unser Begriffsvermögen. Dies hat mich mein Vater gelehrt, und ich bin auf keinen Fall bereit, meine gute Erziehung über Bord zu werfen."

Nach einer Weile fügte sie noch abfällig hinzu: „Selbstdisziplin ist die Grundlage eines jeden Sieges. Aber dies wirst du bei deiner Erziehung nie verstehen. Es gibt eben so mancherlei Unterschied zwischen uns."

Marc wusste darauf nichts zu erwidern und schwieg. Aber er ärgerte sich, dass ihm nichts eingefallen war, womit er dieser Arroganz hätte begegnen können.

Sie waren auf dem bequemen Weg rasch vorwärtsgekommen. Bald erreichten sie eine kleine Lichtung, die von riesigen Bäumen gesäumt war. Die Bäume sahen hier besonders alt und hoch aus. In der Mitte der Lichtung glitzerte im grellen Schein der Nachmittagssonne ein bronzenes Tor. Es war flankiert von zwei runden Säulen mit blumengeschmückten Kapitellen. Um die Säulen rankte sich Efeu. Dieses künstliche Bauwerk, das vor langen Zeiten von geheimnisvollen Wesen geschaffen worden war, nahm sich in diesem Urwald seltsam aus. Es war hier zwischen den Bäumen, den Blumen und dem Gras ein Fremdkörper. Das gehämmerte Metall der Torflügel glänzte noch immer und man sah, dass die Erbauer große Baumeister gewesen waren.

Vorsichtig und staunend gingen die Erits um das seltsame Tor herum. Das Bauwerk bestand aus großen, rechteckig behauenen Steinen, die ohne Mörtel aufeinander ruhten. Sie waren so vollkommen bearbeitet, dass man in ihre Fugen nicht ein Haar hätte schieben können. Wie ROM versprochen hatte, setzte sich der Pfad auf der anderen Seite der Lichtung in Richtung Oststraße fort.

„Was sollen wir tun?" fragte Marc. „Du erinnerst dich sicher an die Warnung von ROM."

„Was wir tun, weiß ich nicht“, antwortete sie ohne eine Sekunde zu zögern. „Ich kann nur für mich selbst sprechen. Ich werde das Tor durchschreiten. Wenn es eine Möglichkeit gibt, die Orokòr zu vernichten, und sei sie noch so gering und noch so gefahrvoll, so werde ich sie nutzen. Das bin ich meiner Mutter schuldig."

„Aber vielleicht ist es besser, die Leute in Heckendorf zu warnen. Wenn uns hier etwas zustößt, wird sie niemand auf das drohende Unheil hinweisen. Dürfen wir uns unter diesen Umständen in Gefahr begeben?"

„Was sollen deine Warnungen nützen?" sagte Akandra abfällig. „Glaubst du denn wirklich, dass sich Erits der rohen Gewalt der Orokòr widersetzen können? Den Heimländern bleibt als einzige Zukunft, sich in den großen Strom der Flüchtlinge einzureihen und heimatlos, gehasst und verachtet von Stadt zu Stadt und von Land zu Land zu ziehen. So lange bis ganz Centratur unterjocht ist, und die dunkle Macht sie dort, wo sie sich dann gerade aufhalten, eingeholt hat. Nein danke, da ziehe ich den Untergang vor! Gegenüber diesem Schicksal haben die Waldmarer beinahe noch Glück gehabt."

Ihre Worte waren hart und bitter, und sie wandte sich ab, ohne auf eine Antwort von Marc zu warten. Sie ging auf das Tor zu und rüttelte an ihm. Vielleicht war es verschlossen, verklemmt, vielleicht waren seine Angeln auch im Lauf der Jahre eingerostet, es bewegte sich nicht einen Zoll. Zögernd kam ihr Marc zu Hilfe. Doch auch zu zweit hatten sie keinen Erfolg. Sie drückten und zogen vergeblich mit aller Kraft, die sie aufbringen konnten. Schließlich sanken sie erschöpft zu Boden.

Die Treppe


Die Niederlage ließ Marc keine Ruhe. Nach kurzer Verschnaufpause erhob er sich und begann zwischen den Bäumen nach einem Werkzeug zu suchen. Mit einem großen Holzprügel kam er zurück. So fest er konnte, schlug er damit gegen das Tor. Wie Glockenschläge hallte es dumpf über die Lichtung. Aber alle Anstrengungen waren fruchtlos. Es zeigte sich nicht einmal ein Kratzer in dem Metall. Nur die geduldige Natur hatte im Lauf der Jahrtausende den Schimmer ein wenig zu trüben vermocht.

„Was können wir noch tun?" klagte der junge Mann, als er endlich kraftlos den Stock fallen ließ.

„Ich habe in alten Büchern von geheimnisvollen Türen gelesen. Jede hat einen anderen Öffnungsmechanismus, reagiert auf ein anderes Zauberwort. Keine gleicht der anderen." Akandras Stimme klang resigniert.

„Willst du damit sagen, dass wir die Tür nicht aus eigener Kraft aufbekommen?"

„Wenn der Zufall uns nicht zu Hilfe kommt, sind alle unsere Anstrengungen umsonst."

„Aber ROM hat doch gesagt, wir würden den Eingang finden. Sollen wir ihn vielleicht rufen?"

„Auf keinen Fall werden wir noch einmal ROM belästigen. Wenn er uns helfen will, kommt er von selbst, wenn er nicht kommt, hat dies seine Gründe."

„Wenn es um ROM geht, zeigst du eine seltsame Nachsicht, die ich nicht verstehe."

„Du verstehst vieles nicht, Marc. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass dies wohl an deiner Erziehung liegt. Ich weiß nicht, ob sich das jemals ändern wird, ob sich irgendwann dein Horizont erweitert. Bisher ist dieser Zeitpunkt jedenfalls nicht abzusehen."

„Ach, spiel dich doch nicht so auf. Dein blasiertes Gerede macht mich schon seit Jahren wütend."

„Und warum bist du dann immer wieder nach Waldmar gekommen, um dir mein Gerede anzuhören? Warum hast du mich und meine Familie Jahr für Jahr belästigt?"

„Weil ich kommen musste. Dein Vater, als mein Pate, hat darauf bestanden. Ja, glaubst du denn, es hat mir Spaß gemacht, mich von euch allen als einen Menschen zweiter Klasse behandeln zu lassen und mir die blöden Ratschläge von deinem Vater anzuhören?"

„Meinen Vater lasse ich nicht beleidigen“, herrschte ihn Akandra an, „und schon gar nicht von so einem Tölpel wie dir. Du hast nicht einmal das Recht, ihm die Hand zu geben. Schließlich hat er das Heimland und sogar Centratur gerettet."

„Vielleicht geholfen, aber nicht gerettet! Du vergisst meinen Vater! Weißt du überhaupt, was mein Vater getan hat? Was glaubst du, hätten alle Bemühungen deines Vaters genutzt, wenn mein Vater nicht ins Lager von Ormor gezogen wäre? Ohne meinen Vater wäre dein Vater nicht einmal Graf geworden."

Akandra sprang auf, lief empört zu Marc und schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Blut spritzte aus seiner Nase, und dieses Blut brachte sie wieder zu sich.

„Es tut mir leid“, sagte das Mädchen einlenkend. „Es bringt uns nicht weiter, wenn wir uns streiten. Mit Hader öffnen wir dieses Tor nicht und wir retten auch nicht die Heimländer."

Sie setzten sich wieder ins Gras, und Marc tupfte das Blut ab.

„Sieh mal, wie schön das Tor in der Nachmittagssonne glänzt“, sagte Akandra. „Man muss es einfach anfassen."

Sie ging hinüber und strich vorsichtig mit den Handflächen über das glatte Metall. Dann legte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihre Wange dagegen und küsste die Tür. Erschreckt sprang sie zurück, als die Flügel daraufhin lautlos nach innen schwangen und eine schwarze Höhlung freigaben. Auf ihren Schrei hin eilte Marc herbei. Gemeinsam starrten sie ins Dunkel. Im schwächer werdenden Licht des Tages konnten sie Treppenstufen sehen, die in undurchdringliche Finsternis führten.

„Sollen wir etwa da hinein?" fragte der Junge bestürzt.

Das Mädchen nickte schwach und mit bleichem Gesicht.

„Aber wir sehen doch nichts. Wir haben keine Lampen und keine Kerzen. Wer weiß, was da drinnen auf uns lauert!"

„Verdammt noch mal“, sagte sie mit verzweifeltem Zorn, „die ganze Zeit redest du davon, dass wir etwas zur Rettung des Heimlands unternehmen müssen. Du beleidigst sogar ROM. Und nun willst du kneifen? Aber du kannst draußen bleiben. Ich werde ohne dich hinuntersteigen."

Als Marc unschlüssig stehen blieb und sich nicht bewegte, schrie sie ihn an: „So geh doch endlich! Ich kann dich nicht mehr sehen. Verschwinde! Mach dich aus dem Staub! Lass mich allein! Ich muss mich schließlich vorbereiten."

„Was willst du denn vorbereiten?"

„Was weiß ich! Fackeln sammeln und so..."

„Glaubst du nicht, es wäre besser, wir würden zusammenhalten, als uns ständig zu streiten?"

Sie antwortete nicht, aber beide gingen sie und suchten nach Holz. Dann untersuchte Marc seinen Rucksack. Er fand noch einen Kanten Brot und ein paar weiche, zerdrückte Äpfel. Zuunterst entdeckte er sein Messer, das er nun befriedigt in den Gürtel steckte. Akandra hatte ihre Habseligkeiten, die sie aus Waldlust gerettet hatte, bei der Flucht vor den Orokòr weggeworfen. Sie besaß nichts mehr, außer dem, was sie auf dem Leib trug.

„Für eine schwierige und gefährliche Expedition sind wir nicht gerade gut ausgerüstet“, spottete der junge Erit. „Aber was soll's? Was uns fehlt, machen wir mit Unbekümmertheit, Missachtung der Gefahren und gutem Willen wett. Damit müsste es gehen. Komm jetzt! Es dunkelt schon. Wenn wir noch länger warten, können wir keinen Unterschied mehr zwischen drinnen und draußen erkennen. Zögern verbessert unsere Lage auch nicht."

Sie sah ihn erstaunt an und fragte verwundert: „Du kommst also mit?"

„Was dachtest du denn? Ich hatte nie vor, dich allein zu lassen. Aber man darf doch noch an die Gefahr erinnern, in die man sich begibt."

Akandra kniff den Mund zu einem schmalen Spalt zusammen, aber man sah ihr an, dass sie sehr erleichtert war.


Beiden schlug das Herz bis zum Hals, als sie sich an der Hand nahmen und gemeinsam in die furchtbare Dunkelheit schritten. Die Stufen waren aus Stein, drei Hand breit und eine Hand hoch. Vorsichtig mit den Füßen tastend stiegen die jungen Leute Stufe für Stufe nach unten. Noch verband sie der matte Lichtschein, der durch das Tor fiel, mit der Welt, die sie soeben verlassen hatten. Doch ganz plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, schwangen die beiden Türflügel lautlos zu. Nun erleuchtete nicht einmal mehr ein Lichtschimmer ihren Weg. Tiefste Dunkelheit umgab die Eindringlinge.

Hastig riss Marc Feuerstein und Zunder aus seiner Hosentasche und schlug Funken. Bald brannte einer der Äste, die sie mitgebracht hatten. Die Treppe hatte sich nach beiden Seiten erweitert, so dass sie ihre Begrenzung links und rechts nicht mehr sehen konnten. Als das Holz beinahe verbrannt war, warf es der Junge, soweit er konnte von sich. Die Fackel flog tiefer und tiefer, bis sie irgendwann weit unten erlosch.

„Die Treppe hört ja nie auf“, keuchte das Mädchen und setzte sich auf die Stufen. „Wenn wir hier ausgleiten und stürzten, fallen wir ins Bodenlose."

„Wir können nicht zurück, sondern müssen vorsichtig weitergehen. Es wird uns schon nichts passieren."

Er setzte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Sie zitterte am ganzen Körper.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Gemeinsam stehen wir das durch!"

Marc versuchte, tapfer zu sein und seine Angst nicht zu zeigen, um Akandra nicht noch mehr zu beunruhigen. Aber auch er zitterte, und seine Hände waren nass von Schweiß. Nach einer Weile machten sie sich wieder auf den Weg und waren nun noch vorsichtiger als bisher.

„Ich glaube, bei Licht könnte man diese Treppe gar nicht hinuntersteigen. Wenn man sie in ihrer vollen Länge sehen könnte, würde einem schwindelig, und man hätte viel zu viel Angst." Akandra hatte sich wieder in der Gewalt und übernahm die Führung.

Sie stiegen und stiegen. Bald begannen ihre Beine zu schmerzen. Marc bekam einen Wadenkrampf. Aufschreiend ließ er sich nieder. Eilig massierte Akandra die schmerzenden Muskeln, bis sich der Krampf gelöst hatte. Stöhnend lag ihr Begleiter quer auf den Stufen und versuchte sich zu entspannen. Das Mädchen barg sein Gesicht in stummer Verzweiflung in den Händen.

„Wie lange sind wir schon gestiegen? Ob es draußen wohl schon wieder Tag ist?"

„Bitte“, sagte sie, „zünde eine Fackel an. Ich muss unbedingt Licht haben."

„Du weißt, wir haben nur wenig Holz. Wir werden später noch Feuer brauchen."

Flehend bat sie: „Bitte!"

Da richtete er sich auf und entzündete einen der wenigen Äste. Der schwache Lichtschein erleuchtete ihre bleichen Gesichter. Die Treppenstufen aus Stein leuchteten matt, aber sie konnten weder oben, noch unten, noch an den Seiten ein Ende erkennen. Als die Flamme verglommen war, leuchtete sie noch eine Weile in ihren Augen nach. Der plötzliche Verlust des Lichtes war schlimmer als die Dunkelheit zuvor. Um die Freundin zu trösten kramte Marc in seinen spärlichen Vorräten, und sie aßen, langsam und genussvoll kauend, trockenes Brot.

Dann erhoben sie sich und stiegen weiter. Marcs Fuß war wieder in Ordnung. Sie hielten sich von nun an fest an der Hand. So gaben sie sich gegenseitig ein Gefühl der Sicherheit. Wenn einer stürzte, so würde ihn der andere halten. Sie nahmen eine Stufe nach der anderen, und auf jede Stufe folgte eine neue Stufe. Zu Beginn hatten sie noch versucht, sie zu zählen, aber bald aufgegeben. Sie sahen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sich Feuer gönnten, niemals die Decke dieses monumentalen Treppenhauses. Stattdessen spürten sie um sich herum eine ungeheure Weite, die ihnen das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit gab. Gesprochen wurde wenig. Zum einen weil das Treppensteigen sehr anstrengend war, zum anderen weil jeder Laut hier unten einen seltsamen Klang hatte. In der Totenstille hallten ihre Worte nicht, sondern sie verloren sich einfach.

Einmal fragte Marc: „Wie bist du auf die Idee gekommen, das Tor zu küssen?"

„Ich weiß es nicht. Das Metall erschien mir auf einmal so schön, und die Berührung mit den Händen war so angenehm, dass ich es einfach tun musste."

„Die Erbauer dieser seltsamen Anlage haben sich mit dieser Geste etwas Treffliches ausgedacht. Ein Kuss öffnet schließlich auch die Herzen der Menschen. Und so haben sie beschlossen, dass er auch den Zugang zu ihrem Herzen öffnen solle. Was mag das nur für ein Herz sein?"

„Mit einem Kuss sind Leute aber auch schon verraten worden. Ein Kuss kann ein völlig falsches Signal setzen. Ich hoffe nur, dass unser Abenteuer gut endet. Je länger dieser Abstieg dauert, desto skeptischer werde ich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir hier je wieder herauskommen. Nicht nur, dass wir nicht wissen, wie das Tor von innen geöffnet werden kann. Ich bezweifle, dass wir in der Lage sind, all die Stufen wieder hinauf zu klettern. Wenn wir es versuchen, brechen wir unterwegs zusammen. Außerdem fehlt uns jeglicher Proviant, und auf eine Gaststätte werden wir hier wohl nicht stoßen. Wir sind in eine Falle getappt und werden dieses dunkle Loch nicht mehr lebend verlassen."

Marc wusste darauf nichts zu sagen, aber er drückte ihre Hand fester, und sie stiegen verbissen weiter. Immer häufiger wurden sie nun von Wadenkrämpfen überfallen und krümmten sich vor Schmerzen, obgleich sie in immer kürzeren Abständen Pausen einlegten. Ab und zu schliefen sie auch, wobei immer einer Wache hielt und aufpasste, dass der andere im Schlaf nicht die Treppe hinunterrollte. Dieses Wachen war furchtbar. In der Dunkelheit ging die Zeit nicht vorüber. Sie mussten sich mühsam wachhalten und kamen dabei immer wieder ins Grübeln. Ihre Lage erschien ihnen dann in einem so düsteren Licht, dass den Erits manchmal sogar die Tränen über das Gesicht liefen, und sie vor Verzweiflung schluchzten.

Zum Glück hatte ROM Marcs Wasserflasche mit einem stärkenden Trank aufgefüllt, so dass sie bisher keinen Durst zu leiden hatten. Aber obwohl sie die kostbare Flüssigkeit rationierten, ging sie bald zur Neige.

„Ich habe Durst“, stöhnte Marc.

„Wir werden hier jämmerlich umkommen“, klagte Akandra. „Es tut mir leid, dass ich dich in dieses Abenteuer gegen deinen Willen gezwungen habe."

„Du hast mich nicht gezwungen. Ich wäre sicher auch ohne dein Drängen hier eingestiegen. Wir hatten gar keine andere Wahl. Dem Heimland droht der Untergang, und wir hätten uns bis zu unserem Ende Vorwürfe gemacht, wenn wir dem Tor ausgewichen wären. Vielleicht, so hätten wir uns immer wieder gesagt, wäre dort Hilfe gewesen. Nein, wir mussten diesen Weg ins Dunkel wählen. Ich bin froh, dass wir es gemeinsam gemacht haben. Du warst bisher sehr tapfer, Akandra."

„Das warst du auch, Marc. Entschuldige, dass ich so überheblich war und ständig meine vornehme Abstammung herausgekehrt habe. Das war töricht und eitel von mir."

„Ach, ich habe es gar nicht so ernst genommen."

Dann kam der Augenblick, an dem ihre tastenden Füße keine neuen Stufen mehr fanden. Sie schienen, festen Boden erreicht zu haben. Glücklich fielen sich die beiden Erits in die Arme. Sogleich entzündete Marc einen der kostbaren Äste. Doch wie enttäuscht waren sie, als sie im flackernden Licht sahen, dass es nach zehn Schritten erneut in die Tiefe ging. Sie hatten lediglich einen Treppenabsatz erreicht.

Entmutigt sanken Marc und Akandra zu Boden und starrten apathisch ins Dunkel. Ein Geräusch ließ sie auffahren. War es schon immer da gewesen? Hatten sie bisher nur nicht darauf geachtet? Leise hörten sie etwas plätschern. Sie tasteten sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Zitternd steckte Marc einen der letzten Äste in Brand. Da sahen sie eine runde Vertiefung. Es war ein Wasserbecken, aus dem köstliches Nass als Fontäne sprühte.

„Ob man es trinken kann?" flüsterte Akandra und, ohne lange zu überlegen, schöpfte sie mit der hohlen Hand und kostete. Auch ihr Begleiter hielt sich nicht zurück. Beide löschten sie in tiefen Zügen ihren Durst. Es war kein gewöhnliches Wasser. Der Trank schmeckte süß und vertrieb den Hunger.

„Was ist, wenn der Brunnen vergiftet ist?" fragte er.

„Oder gar verzaubert“, fügte sie furchtsam hinzu.

„Ach, was soll's“, sagte Marc. „Wir haben keine andere Wahl. Entweder sterben wir durch das Wasser oder verdursten ohne das Wasser. Im Übrigen fühle ich mich schon viel wohler."

In der Tat strömte neue Kraft durch ihre gemarterten Körper. Sie füllten die Feldflasche bis zum Rand und setzten sich bequem und zufrieden auf den Boden. Schläfrig nickten sie ein. Keiner musste wachen, denn es bestand keine Gefahr, im Schlaf die Treppe hinunterzurollen. Seit langem schliefen sie wieder ohne Angst. Es wurde ein langer Schlaf, und sie erwachten frohgemut, naschten noch einmal aus der Quelle und machten sich dann gesättigt und ohne Durst auf den Weg. Die Müdigkeit, die bleischwer auf ihnen gelastet hatte, war wie weggeblasen. Energie und Hoffnung begleiteten sie auf dem weiteren Abstieg.

Aber schon nach einer Stunde kamen ihnen wieder Zweifel und Fragen. Welchem Zweck konnte eine derartige Treppe dienen? Wer waren die Erbauer? Wohin führte sie? Was erwartete sie an ihrem Ende? Gab es überhaupt ein Ende? Würden sie jemals wieder das Tageslicht sehen? Diese Stufen führten unter die Wurzeln der Gebirge, sie führten tiefer, als es sich lebende Wesen vorstellen konnten.

In endloser Gleichförmigkeit setzten sie Fuß vor Fuß und hielten sich an den Händen, die feucht und glitschig wurden. Immer schwieriger wurde es, den anderen festzuhalten. Die Kleider klebten ihnen am Leib. Schweiß lief ihnen über Gesicht und Arme.

Akandra sprach es zuerst aus: „Ich glaube, es wird wärmer."

„Ich habe auch das Gefühl."

„Was aber, wenn es so heiß wird, dass wir verbrennen?"

„Das glaube ich nicht. Die Erbauer dieser Treppe mussten schon zu ihrem eigenen Schutz Vorkehrungen gegen die Hitze getroffen haben."

Bald hielten sie es nicht mehr aus. Sie zogen sich nackt aus und stopften ihre Kleider in Marcs Rucksack.

„Nun bin ich doch recht froh, dass es dunkel ist“, kicherte das Mädchen.

„Ich kann es kaum erwarten, den nächsten Ast anzuzünden“, Marc nahm den Scherz auf.

Lachend stiegen sie weiter, bis die Stufen wiederum endeten. Sie hatten den nächsten Treppenabsatz erreicht. Sogleich suchten sie nach einem Brunnen. Tatsächlich, auch hier fanden sie ein Becken, aus dem köstliches Nass sprudelte. Sie labten sich und fielen bald darauf in einen tiefen Schlaf. Erfrischt und ohne Hast machten sie sich später wieder auf den Weg. Nach einigen Stunden weiteren Abstiegs begannen sie zu frösteln. Sie spürten einen kühlen Wind. Gänsehaut überzog ihre nackten Körper. Sie setzten sich und tasteten nach ihren Kleidern. Es war nicht einfach, sie in der Dunkelheit zu sortieren und überzustreifen.

„Nun habe ich doch vergessen, eine Fackel anzuzünden“, lachte Marc, als sie wieder angezogen waren.

„Wenn wir hier je wieder lebend herauskommen, werde ich für dich ganz nackt in der strahlenden Sonne tanzen“, entgegnete sie, und es war Ernst in ihrer Stimme.

„An dieses Versprechen werde ich dich erinnern. Jetzt habe ich einen guten Grund, mich wieder ans Tageslicht zu wünschen."

Sie waren beide in besserer Laune, und diese Stimmung hielt auch noch an, als sie den dritten Treppenabsatz erreichten. Hier war der Luftzug, den sie bisher nur schwach gespürt hatten, schon recht stark. Es schien, als ob zwei Türen offen standen. Der Wind wehte schräg über die Treppe.

„Es muss hier Öffnungen, wenn nicht sogar einen Ausgang geben!" rief Marc.

Beide liefen sie quer über die Treppe dem Wind entgegen. Akandra war schneller, und der Junge hörte ihre Schritte vor sich. Sie war nicht einzuholen.

Er rief: „Warte auf mich! Lass mich nicht zurück!"

Sie blieb stehen und tastete nach seiner Hand. Gemeinsam gingen sie weiter, bis ihre Füße gegen ein Hindernis stießen. Doch wie groß war ihre Enttäuschung, als sie feststellten, dass es eine neue Treppe war. Eine Treppe an der Seite, die nach oben führte. Von dort oben kam der Luftzug. Die ganze Anlage musste zumindest halbrund sein.

„Was sollen wir nun tun?" fragte Marc. „Weiter nach unten gehen oder hier nach oben steigen? Beides will mir nicht so recht gefallen."

„Ich glaube, unser Schicksal liegt unten und nicht oben. Die Worte von ROM gehen mir durch den Kopf. 'Ihr setzt euch großen Gefahren aus, aber ihr gewinnt vielleicht Hilfe', hat er gesagt. Im Übrigen, wenn wir jetzt einen Weg nach oben suchen würden, wäre alles, was wir bisher durchgemacht haben, umsonst gewesen."

„Du hast Recht. Noch sind wir der Rettung des Heimlands keinen Schritt nähergekommen. Wir haben eine Aufgabe, und wir werden zu ihr stehen!"

„Tapferer Marc!" sagte sie leise.

„Liebe, liebe Akandra!" antwortete er.

Wieder stiegen sie in tiefster Dunkelheit ungezählte Stufen nach unten. Ihre Füße tasteten sich inzwischen automatisch von Tritt zu Tritt. Ihre Muskeln hatten sich an die Bewegung gewöhnt und die schmerzhaften Krämpfe waren ausgeblieben. Zwar hielten sie sich noch immer an den Händen, wie es ihre Gewohnheit geworden war, aber mit lockerem Griff. Es war ihnen, als wären sie schon ihr ganzes Leben diese unheimliche, riesige Treppe hinunter geklettert, und als würden sie, so lange sie lebten, weiterhin Stufe um Stufe steigen. Ihre Gedanken schweiften nach oben zum Licht, an das sie sich nur noch vage erinnerten. Marc dachte darüber nach, wie das Belüftungs- und Kühlsystem dieser Anlage wohl beschaffen sein mochte und bewunderte die Erbauer für ihre technische Leistung. Akandra hingegen versuchte wieder und wieder, den Sinn der Treppe herauszufinden.


Sie hatten, wer weiß zum wievielten Mal, geschlafen, sich auf vielen Treppenabsätzen gestärkt, sie waren ausgeruht. Flott und leichtfüßig sprangen sie von Tritt zu Tritt. Da geschah es! Marc stolperte, glitt aus und fiel. Er schrie auf. Akandra wollte ihn halten, aber seine Hand rutschte aus der ihren. Bei dem Versuch, den Fallenden noch zu fassen, verlor sie selbst das Gleichgewicht, und so stürzten beide in die unendliche Tiefe. Hart schlugen sie auf die Kanten der steinernen Stufen, suchten krampfhaft nach Halt und rollten weiter. Sie schrien nicht mehr, sie gaben keinen Laut von sich, sie hatten mit dem Leben abgeschlossen.

Ihr Fall war nur kurz, denn nach wenigen Stufen schlugen sie auf einem neuen Treppenabsatz auf. Ihre Körper schmerzten. Stammelnd riefen sie und waren erleichtert, als sie die Stimme des anderen hörten. Zum Glück waren sie unverletzt geblieben. Ein gebrochenes Bein wäre in dieser Situation das Todesurteil gewesen. Keuchend und stöhnend lagen sie nebeneinander. Das Zittern ihrer Körper ließ langsam nach, und auch ihre Herzen schlugen wieder ruhiger.

„Das war knapp“, sagte Akandra.

„Wo bist du?" fragte Marc, und seine Hand tastete zu der ihren.

Später tranken und wuschen sie sich im Brunnen des Treppenabsatzes. Das seltsame Wasser linderte die Schmerzen der Prellungen.

Bei ihrem weiteren Abstieg war die Angst wieder ihr Begleiter. Ganz langsam bewegten sie sich und tasteten erst mit dem Fuß nach der nächsten Stufe, bevor sie einen Schritt endgültig wagten. So kamen sie nur mehr langsam voran, doch einen zweiten Absturz hätten sie nicht überlebt.

In ihr dumpfes Brüten drangen plötzlich Trommeln, so als würden Pauken langsam und pianissimo geschlagen. Sie konnten nicht ausmachen, woher der Schall kam, aber mit jeder Stufe nahmen die Paukenschläge an Stärke und an Geschwindigkeit zu. Schließlich dröhnten sie so laut in ihren Ohren, dass es schmerzte. Und mit einem Mal war da auch eine Stimme. Sie vernahmen sie nicht mit den Ohren, sondern klar und deutlich im Kopf selbst.

Die Stimme flüsterte: „Kehrt um, ihr könnt nicht weiter. Kehrt um, dies ist ein verbotener Weg! Kehrt um, ihr dürft nicht weiter!"

Angstvoll raunte Marc: „Was sollen wir tun?"

„Weitergehen!" Akandra ließ keinen Widerspruch zu und zog ihn mit sich.

Die Warnung wurde mit den gleichen Worten wiederholt, diesmal jedoch lauter und energischer. Beiden lief kalter Schweiß über den Körper. Ihre Herzen schlugen bis zum Hals. Dennoch setzten sie tapfer einen Fuß vor den anderen. Die Stimme schrie nun in ihrem Kopf, und sie krümmten sich vor Schmerzen. Aber sie quälten sich vorwärts. Und endlich sahen sie einen Lichtschimmer weit unten. Er war noch schwach, wie ein Stern am Nachthimmel, aber er war da.

Im gleichen Augenblick, in dem sie das Licht sahen, verstummten das Trommeln und die Stimme. Es war wie eine Erlösung. So schwach die Helligkeit auch war, für ihre an absolute Dunkelheit gewöhnten Augen reichte sie aus, um alles um sie herum wahrzunehmen. Hoch über sich erkannten sie die Decke und rechts und links, weit entfernt, die Seitentreppen. Von Stunde zu Stunde wurde das Licht heller und heller. Sie wandten sich einander zu. Zwei bleiche, hohlwangige Gestalten starrten sich an und erschraken über ihren Anblick. Die Stufen der Treppe glänzten so hell, als wären sie aus Marmor, und als das Licht greller wurde, spiegelte es sich auf ihnen und blendeten die Besucher. Das Licht strahlte aus zwei nebeneinanderstehenden Säulen.

Endlich nach Tagen, Wochen oder Jahren erreichten die Erits die letzte Stufe der langen Treppe. Das Material, auf dem sie nun standen, war das gleiche, wie das der Stufen: weiß und glänzend und unglaublich hart. Zögernd gingen sie auf die Säulen zu. Das Licht, das ihnen entgegen quoll, war so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen und mit den Händen schützen mussten. Quer vor den Säulen sahen sie einen roten Strich auf der Erde. Das Rot leuchtete, und der weiße Boden dahinter leuchtete auch. Vorsichtig überschritten Akandra und Marc die rote Linie und zuckten sofort entsetzt zurück. Eine furchtbare Stimme hatte in ihrem Kopf gedonnert: „Weicht zurück!"

„Hast du das gehört?" stammelte das Mädchen.

Der Junge nickte verschüchtert.

„Was nun? Wir müssen weiter!"

Sie nahm ihren Begleiter an der Hand und überschritt entschlossen erneut die rote Linie. Wieder donnerte die Stimme: „Weicht zurück!"

Gleichzeitig krampften sich ihre beiden Körper unter einem heftigen Schmerz zusammen. Es war, als würden alle Nerven gleichzeitig geschunden. Marc heulte auf, riss sich los und rannte zurück zur Treppe. Akandra folgte ihm. Auf der untersten Stufe ließen sich beide gequält nieder, bis der Schmerz nachließ. Ihre Gesichter waren tränennass.

„Dahin gehe ich nicht mehr“, stammelte Marc. „Das halte ich nicht noch einmal aus."

Er begann auf mit Händen und Füßen langsam und wie verloren die Treppe hinauf zu kriechen. Akandra eilte ihm nach. Sie hielt ihn fest und umarmte ihn.

„Lieber“, sagte sie, „wir müssen dort hindurch. Wir werden auch das durchstehen. Alle Schmerzen gehen einmal vorüber, und sei es durch den Tod."

„Nein!" antwortete er und barg sein Gesicht an ihrer Brust. „Ich bin zu feige. Lieber will ich auf der Treppe sterben."

„Lieber“, wiederholte sie, „du bist nicht feige. Der Schmerz ist wirklich fürchterlich. Aber gemeinsam können wir ihn ertragen. Wir haben keine andere Wahl."

Marc nickte tapfer und folgte geduckt dem Mädchen, so als erwartete er jeden Augenblick neue Schläge. Langsam und furchtsam schritten sie auf die rote Linie zu. Akandra überquerte sie ohne Innehalten und schrie auf. Auch Marc hob ein Bein, blieb dann aber stehen. Seine Muskeln waren gelähmt, sein Körper unterwarf sich seinem Geist nicht mehr. Akandra blickte sich um und eilte zurück. Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und zog ihn in das Leiden. Sofort peitschte der Schmerz auf ihn ein, und die Stimme brüllte in seinem Kopf: „Weicht zurück! Ihr seid im Licht, und das Licht wird euch verwandeln. Weicht zurück!"

Schritt für Schritt, sich gegen ein unsichtbares Hindernis stemmend, quälten sie sich auf das Lichttor zu, bis sie zusammenbrachen. Akandra gab nicht auf und kroch weiter. Schon hatte sich halb zwischen den Säulen hindurch geschleppt, da bemerkte sie, dass ihr Begleiter draußen geblieben war. Halb von Sinnen kämpfte sie sich zu ihm zurück, fasste seine Hand und zog ihn, der sich ohnmächtig in Schmerzen wandte, mit sich. Er versuchte, sie zu unterstützen. Seine Füße glitten kraft- und haltlos über den glatten Boden. Zoll um Zoll näherten sie sich unter unsäglichen Anstrengungen und Leiden dem Ziel. Die Stimme war so unerträglich laut, dass ihnen die Augen aus den Höhlungen traten. Zu dem Schrei in ihrem Kopf und dem Schmerz gesellte sich nun auch noch das Trommeln, das sie schon kannten. Ein nicht enden wollender Paukenwirbel warf ihre Leiber in Zuckungen hin und her.

Die Kräfte Akandras schienen unerschöpflich. Trotz aller Pein gab sie nicht auf. Sie schleppte sich und Marc durch das Tor. Schlagartig verstummten die Stimme und das Trommeln und das Licht wurde schwächer. Die Schmerzen verebbten. Sie blieben liegen, wo sie waren, und verfielen in einen erschöpften Dämmerzustand.


Die Älteren


Lange lagen sie so ohne Bewusstsein. Es schien, als wollte es ihnen fernbleiben, damit sie nicht an die überstandene Tortur erinnert würden. Endlich nahmen die durchgestandenen Qualen die Form eines bösen Traumes an, und sie konnten es wagen, die Augen zu öffnen und ihre Köpfe vorsichtig zu heben.

„Ich glaube, wir haben es geschafft“, flüsterte Akandra.

„Du hast es geschafft“, berichtigte sie Marc.

„Wir sind beide hier, das allein zählt."

Gedämpftes Licht, das den Augen wohltat, dessen Ursprung sie aber nicht erkennen konnten, erleuchtete einen kreisrunden Raum, aus dem sieben Türen abzweigten. Eine Flöte spielte eine einfache, aber wundersame Melodie. Sie war so schön, dass es den Erits bei ihrem Klang wohl wurde. Sie ließ die überstandenen Schmerzen und Leiden verheilen. Die Töne drangen aus der mittleren Tür. Ohne nachzudenken gingen sie darauf zu und öffneten sie.

Ein Saal mit einem spitz zulaufenden Gewölbe tat sich auf. Aus hohen Säulen wuchsen schlanke Rippen. Sie trugen die Decke. Die Säulenkapitelle waren als Blumenornamente geformt. Durch spitzbogige Fenster an beiden Seiten der Halle flutete Licht. Dennoch brannten Kerzen auf eisernen Leuchtern, die im Kreis aufgestellt waren. Dort saßen sechs Leute ganz aufrecht auf Stühlen mit hohen Lehnen. Ruhig betrachteten sie die jungen Leute.

„Mutter“, sagte Akandra erstaunt.

„Mutter, du hier?" rief Marc.

„Vater, wo kommst du her?" die junge Frau war ganz aufgeregt.

Auch der junge Erit sah seinen Vater. Die beiden wollten auf die vertrauten Eltern zugehen, sich ihnen zu Füßen werfen, aber sie wurden von einer unsichtbaren Kraft zurückgehalten. Eine Stimme, die von allen sechs Personen gleichzeitig kam, sprach: „Willkommen im Herzen der Welt. Der Weg zu uns ist weit und er ist eine Prüfung. Nur wenigen ist es seit langer Zeit gelungen, zu uns vorzudringen. Ihr musstet sterben, um geboren zu werden."

Marc fragte mit großem Ernst: „Weshalb ist uns gelungen, was so vielen misslang?"

„Es war euer aufrechter Wunsch zu helfen, der euch die Treppe bestehen ließ."

Nun konnte Akandra nicht mehr länger an sich halten. „Aber liebe, schöne Mutter, lieber Vater, wie kommt ihr hierher?"

Eine der Frauen antwortete: „Ich bin nicht deine Mutter, und doch bin ich deine Mutter." Und einer der Männer antwortete: „Ich bin nicht dein Vater, und doch bin ich dein Vater."

Verständnislos sahen die jungen Leute sich an.

Da sprach der Mann, der ganz außen saß und bisher geschwiegen hatte: „Ich bin euer aller Vater und Mutter. Wisset, hier ist die Wiege und das Ende der Welt."

Dann sprach die Frau, die bisher geschwiegen hatte und außen saß: „Weil wenig Zeit ist, und es so vieles zu bereden gilt, müssen wir uns Zeit lassen. Deshalb werdet ihr erst einmal schlafen und essen."

Sie stand auf, schritt auf die Besucher zu und ergriff deren Hände. Gemeinsam durchmaßen sie die Halle in ihrer ganzen Länge und schritten durch eine niedere Tür. Dahinter verbarg sich ein kleines Zimmer.

„Das ist ja beinahe wie in Gutruh“, rief Marc aus.

Und Akandra sagte: „Nein, es erinnert mich an Waldlust!"

„Ihr sollt euch wohl fühlen“, lächelte die Frau und verließ sie.

Akandra und Marc sahen sich um. Da standen weiche Betten, so wie Erits sie gerne haben, eine Kommode, ein Schrank, Tisch und Stühle. An den Wänden hingen Bilder, die Bäume, Sträucher und eine wunderschöne untergehende Sonne zeigten. Müde ließen sie sich auf die Betten fallen und waren schon nach wenigen Sekunden eingeschlafen.


Als Marc nach vielen Stunden wieder erwachte, blickte er auf das Bild über seinem Bett, das vor dem Einschlafen eine untergehende Sonne gezeigt hatte. Nun erkannte er, dass er sich geirrt hatte. Nicht die Sonne, die der Nacht weicht, war dargestellt, sondern der Zeitpunkt des Sonnenaufgangs. Auch Akandra reckte sich, gähnte und rieb sich die Augen. Helles Licht fiel durch die runden Fenster des Zimmers. In der Ecke standen eine Schüssel und ein Krug mit Wasser. Dort wuschen sie sich. Auf dem Tisch fanden sie eine Kanne mit dampfendem Tee, Brot, Butter und Früchten. Ausgehungert ließen sie sich das Frühstück schmecken. Als sie sich endlich satt zurücklehnten, öffnete sich die Tür, und zwei Frauen traten herein.

„Mutter?" riefen die jungen Leute gleichzeitig.

Die Frauen lächelten nur, nahmen sie an der Hand und führten sie zurück in die hohe Halle. Dort waren zwei bequeme Stühle für sie bereitgestellt. Wieder bildeten die Alten einen Halbkreis um ihre jungen Gäste. Die alten Frauen und Männer sprachen abwechselnd, aber wie mit einer Stimme.

„Nun ist die Zeit für Fragen und die Zeit für Erklärungen. Stellt nicht zu viele Fragen, aber stellt die richtigen."

Sofort fragte Akandra: „Wer seid Ihr? Ihr seht aus wie unsere Eltern, aber ihr seid es nicht."

„Ich bin eure Eltern, und ich bin es nicht. Ich bin alle und keiner."

„So nennt wenigstens Eure Namen!" forderte Marc.

„Ich habe keine Namen mehr."

„Hattet ihr einmal Namen?"

„Alles wurde einmal benannt."

„Wenn schon jeder einzelne von euch keinen Namen hat, wie heißt ihr alle zusammen?"

„Ich bin der oder die Ältere."

„Was ist eure Aufgabe?" wollte Akandra wissen.

„Ich bin! Und ich wache!"

„Seid ihr mächtig?"

„Was ist das, Macht?"

„Könnt ihr uns, die wir da oben leben, helfen?"

„Ja und nein. Ihr seid hier, weil wir helfen und ihr werdet gehen, weil wir nicht helfen können."

„Ihr sprecht in Rätseln“, rief Marc ärgerlich.

„Ich sage die Wahrheit. Sie klingt immer rätselhaft. Klar erscheint meist nur die Dummheit, die Halbwahrheit oder die Lüge."

„Ich verstehe nichts“, Marc klang ungehalten.

„Ruhig, mein Junge! Es gibt keinen Grund für Ärger. Ich werde von der Vergangenheit erzählen, dann werdet ihr mehr verstehen.

Ich bin schon sehr lange in der Welt und habe alles gesehen. Bevor ich kam, war alles Leben im Wasser. Später verließen die Geschöpfe die Ozeane. Die Pflanzen und Tiere trennten sich und wurden verschieden. Dann wurden aus kleinen Lebewesen große, und das Zeitalter der schrecklichen Echsen begann. Nichts war vor ihnen sicher. Manche waren groß wie Berge und fraßen ganze Landstriche kahl. Andere wiederum waren blutgierige Räuber, die alles zerfleischten, was sie zwischen ihre spitzen Zähne bekamen. Es schien, als würden diese Bestien auf immer die Welt beherrschen. Doch nichts ist ewig. Irgendwann überwand die Erde diese Tyrannei, und die Echsen starben aus. Nun war endlich Platz für neue Tiere. Land und Meer wurden überschwemmt von neuen Arten. Dies war der Zeitpunkt, zu dem auch ich geschaffen wurde.

Zuerst war ich nur eine, dann wurde ich viele. Ich wanderte durch die Welt und befruchtete sie. Jahrhunderte war ich nur mit Zeugen beschäftigt. Überall sprossen Kinder von mir empor. Sie waren zuerst noch unvollkommen, hatten lange Arme, mit denen sie sich auf dem Boden abstützten. Auch ihr Gemüt war von schlichter Natur. Doch mit der Zeit wurden meine Kinder vollkommener und klüger. Sie lernten es, Werkzeuge zu schaffen, das Feuer zu zähmen, Häuser zu bauen und den Boden zu bestellen.

Aber einige meiner Nachkommen verbündeten sich mit bösen Mächten, weil sie sich davon Vorteile erhofften. Ich war verzweifelt und versuchte, sie zu warnen, zurückzuhalten. Sie hörten nicht auf mich. Sie begannen, Kriege zu führen und ohne Not zu töten. Am Ende bedrohten sie sogar mich, ihre Eltern. Deshalb schuf ich mir dieses Refugium tief im Herzen der Erde.

Damals gab es den Wilden Wald dort oben noch nicht. Nur ein paar Bäume wuchsen, die mein Sohn ROM pflegte. Das Tor oben stand zu dieser Zeit noch für jedermann offen, und die große Treppe war hell erleuchtet. Ihre Stufen waren zu dieser Zeit niemals leer. Ströme von Menschen, Achajern und anderen Geschöpfen wanderten die Treppe nach unten und nach oben. Sie, die zu mir kamen, hatten noch keine Angst vor dem Fall in die Tiefe. Diese Angst entstand erst, als ihr Geist sich verdunkelte, und sie deshalb an sich selbst zweifeln mussten. Damals herrschte Selbstvertrauen, und der Weg über die Treppe war ein Fest. Meine Kinder waren viele Tage und Wochen unterwegs, und wenn sie die Stufen hinauf- und hinunterstiegen, so sangen sie und waren fröhlich. Am Rand der Treppe, das konntet ihr nicht sehen, gibt es Möglichkeiten, um zu rasten. Dort konnte man sich erquicken und schlafen. Alle, die sich dem Bösen noch nicht verschrieben hatten, gingen im Lauf ihres Lebens mindestens einmal über die Treppe. Sie kamen zu mir, zu Mutter und Vater. Wenn man nämlich zur Erkenntnis über sich selbst gelangen will, muss man zu den Ursprüngen zurück. Ich habe mich über jedes Kind gefreut, das mich besucht hat. Sie bekamen von mir alles, was ich hatte, und sie brachten mir Geschenke, die ich noch heute hüte.

Derweil wuchs der Wald unter der Fürsorge von ROM. Damals waren die Bäume noch nicht böse und verbittert. Sie ließen prächtige Wege für meine Besucher offen und nährten sie. Doch in den Jahrhunderten nahm die Macht des Bösen zu. Sie schlug immer mehr von meinen Kindern in ihren Bann. Dies ging langsam und schleichend vor sich. Doch damit die Geschöpfe der Welt der finsteren Macht völlig ausgeliefert waren, mussten sie ihre Herkunft vergessen. Erst wenn meine Nachkommen nichts mehr von mir wussten, hatten meine Gegner ihr Ziel erreicht. Schließlich war das Furchtbare vollbracht, meine Kinder hatten mich vergessen. Sie waren damit verloren und wussten es nicht.

Die Besuche bei mir wurden immer seltener. Ich blieb allein zurück. Das Licht auf der großen Treppe erlosch. Zwischen dem Wilden Wald und den Menschen brach Feindschaft aus. Die Bäume sollten nun gegen deren Willen genutzt werden. Das bedeutete Rodung, Ausbeutung, Versklavung, und schließlich Vernichtung. Die Menschen gingen auch mit sich selbst nicht freundlich um und noch weniger mit den Bäumen. So wie der Mensch im anderen Menschen nur noch ein Ding sah, das ihm nützlich oder weniger nützlich sein konnte, so sah er in den Bäumen keine Lebewesen mehr, sondern nur noch Bau- oder Brennholz. ROM und sein Wald begannen sich zur Wehr zu setzen, und sie haben mit meiner Unterstützung den Kampf bis jetzt gewonnen. Seit damals schützt der Wilde Wald auch den Zugang zu mir. Nur sehr selten, alle paar Jahrhunderte einmal, lässt ROM jemand zu dem Tor vordringen. Ihr gehört zu den Wenigen, die der Wald seit langer Zeit akzeptiert hat.

Aber wenn ihr glaubt, dass ich, seit ich in Vergessenheit geraten bin, geruht hätte, so irrt ihr euch. Viele meiner Teile sandte ich immer wieder in die Welt, in der Hoffnung etwas zu retten. Leider bewirkten sie nur wenig und starben. Dadurch wurde ich schwächer und nahm mehr und mehr ab. Zwar bin ich nach euren Maßstäben noch immer mächtig und kann so manches Geschick im Verborgenen lenken. Aber den eingeschlagenen Weg meiner Kinder kann ich nicht korrigieren. Ich kann ihnen nicht mehr helfen, sie nicht vor dem Bösen retten. Einer ist heute des anderen Feind. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie mich dieser Kampf, diese Bosheiten, diese Gemeinheiten unter meinen Kindern erbittern und quälen."

„Ihr resigniert also? Ist das der Grund, warum ihr nicht eingreift, um das Böse auf Erden zu verhindert? Soll das etwa die Erklärung dafür sein, warum ihr zulasst, dass brave Erits abgeschlachtet werden?" Marc hatte mit scharfem Ton in der Stimme gefragt.

Sofort fiel ihm Akandra ungehalten ins Wort: „Fängst du schon wieder an? Hat dir der Streit mit ROM nicht gereicht? Immer suchst du nach Mächten, die ihre schützende Hand über dich halten sollen. Und wenn sie nicht so wollen, wie du es erwartest, machst du ihnen Vorwürfe. Unsere Probleme müssen wir zu allererst selbst lösen. Wenn uns dabei jemand unterstützt, so ist dies hilfreich, aber wir können es nicht einklagen. Du bist wie ein Kind, das von seinen Eltern ständig fordert, ihm die Steine aus dem Weg zu räumen. Wir Erits müssen endlich erwachsen werden!"

„Es gibt Probleme, die können wir nicht alleine bewältigen." Auch Marc war nun wütend. Ihre Gastgeber hatten die beiden Erits bei ihrem Streit vergessen. „Bist du etwa nicht vor den Orokòr weggelaufen? Warum hast du dich ihnen nicht gestellt und dein Problem selbst gelöst, so wie du es nun forderst?"

„Flucht ist keine Feigheit. Wenn ich im Augenblick zu schwach bin, um gegen einen übermächtigen Feind anzutreten, heißt dies noch lange nicht, dass ich mich unterwerfe oder auf Hilfe warte."

„Du bist ja größenwahnsinnig, wenn du annimmst, du könntest einen Feind wie die Orokòr bekämpfen. Ich will dir etwas sagen: Du bist deinem Schicksal hilflos ausgeliefert, wenn du nicht jemanden findest, der ebenso mächtig ist wie dein Feind, und der dir zu Hilfe kommt."

„Aus dir spricht eine Mutlosigkeit, über die ich vor Wut schreien möchte. Es gibt doch noch andere Waffen als Körperstärke und Übung im Kriegshandwerk. Vielleicht sind wir kleinen Erits den Orokòr an Schlauheit und Kriegstaktik überlegen? Und wenn wir es nicht sind, so müssen wir diese Fähigkeiten eben entwickeln. Dies erreichen wir jedoch nicht, wenn wir stets und überall um Hilfe betteln."

„Wo waren denn deine ach so tollen Waffen, als die Orokòr Waldmar überfielen? All deine Schlauheit und Taktik haben deiner Mutter nicht geholfen. Warum bist du überhaupt hier, wenn du keine Hilfe suchst?"

Marc war in seinem Zorn zu weit gegangen, das begriff er, als plötzlich dicke Tränen über Akandras Gesicht rollten.

„Ich bin hier“, flüsterte sie, „weil ich Waffen suche, mit denen ich die Orokòr bekämpfen kann. Ich will meine schöne Mutter rächen."

„Ruhig, meine Kinder“, lächelte eine der Alten begütigend. „Ihr habt beide recht. Akandra hat Recht, wenn sie fordert, die Sterblichen sollen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Niemand entbindet sie nämlich von der Verantwortung für sich selbst. Und Marc hat Recht, wenn er auf ihre Schwächen hinweist. Kein Sterblicher könnte nämlich ohne die Unterstützung der höheren Mächte existieren.

Eure Situation ist so ähnlich, als würdet ihr in einer Kutsche sitzen, deren Pferde durchgegangen sind. Ihr könnt die Pferde nicht bändigen, ihr könnt den Wagen nicht zum Stehen bringen, und ihr könnt den Pferden keine Richtung befehlen. Dies liegt einzig im Willen der Unsterblichen. Was ihr aber könnt, das ist, die Zügel festhalten, die Räder um Unebenheiten der Straße herum lenken und verhindern, dass der Wagen in den Abgrund fährt. Was ihr aber auch könnt, ja, was ihr solltet, das ist, die Mächte des Guten unterstützen, damit die Welt ins rechte Lot gebracht werden kann.

Noch besteht nämlich Hoffnung. Noch ist die Welt nicht völlig in den Klauen des Bösen. Damit sie aber gerettet werden kann, müssen die Lebenden zu ihren Ursprüngen zurückkehren, so wie ihr es getan habt. Das Licht auf der Treppe muss wieder leuchten, und es darf keine Angst herrschen, wenn sie begangen wird. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg."

„Warum sind wir hier?" fragte Akandra, die sich wieder gefasst hatte.

„Weil ich eure Hilfe brauche."

Diese Eröffnung ließ die jungen Leute verstummen. Verständnislos sahen sie sich an.

Rutan und Vespucci


Weiße Lichtstreifen durchschnitten die Luft und ließen die Halle noch höher erscheinen, als die Älteren mit ruhiger Stimme begannen:

„Lasst eure Gedanken in weite Fernen schweifen. Ihr werdet jetzt von Völkern und Geschehnissen hören, von denen in ganz Centratur noch niemand vernommen hat."

„Nicht einmal Aramar?" fiel Marc eifrig ein.

„Nein, auch Aramar weiß nichts davon, und sein Wissen reicht wahrlich weit."

„Wie habt dann ihr davon Kenntnis erlangt?" Akandra hatte mit leiser Stimme gefragt.

„Weil ich überall bin. Aber lasst uns beginnen! Die euch bekannte Welt ist groß. Noch größer aber sind die Gebiete, von denen ihr keine Kunde habt. Sie sind so weit entfernt, dass bei euch nicht einmal ihre Namen bekannt sind. Was liegt jenseits der Wüste Soltai? Wahrscheinlich könnten diese Frage nicht einmal die Zauberer beantworten. Keiner eurer Weisen hat sich je für die Welt jenseits der Grenzen von Centratur interessiert, selbst im Weißen Rat wurde nie über sie gesprochen. Der Ferne Osten ist ein weißer Fleck auf euren Landkarten, und die meisten Atlanten weisen nicht einmal diese Flecken aus.

Natürlich habe ich darüber nachgedacht, weshalb die Leute von Centratur sich nicht um den Osten kümmern. Weshalb für sie hinter Volan die Welt zu Ende ist. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung für eure Unkenntnis. Niemand hat euch bisher von diesen fernen Gegenden berichtet, denn die dort waren, schweigen. Und doch werden vom fernen Osten seit geraumer Zeit die Geschicke in eurer Heimat bestimmt."

Die Älteren sahen die verständnislosen Augen ihrer Besucher und lächelten.

„Die Welt, auf der ihr lebt, ist wie ein runder Ball. Wenn ihr nach Osten lauft, gelangt ihr irgendwann wieder zu der gleichen Stelle zurück, von der ihr losgegangen seid. Das Gleiche geschieht, wenn ihr nach Westen geht. Nun stellt euch vor, ihr beginnt eine lange Wanderung rund um den Erdball. Ihr kommt dabei durch viele Länder und erreicht endlich ein großes Gebiet. Es heißt Gagaia. Dort leben Menschen, die eine eigene Sprache sprechen. Ihr könntet euch mit diesen Leuten nicht verständigen.

Die Natur hat es gut mit diesem Teil der Erde gemeint, denn dort ist es warm und schön. Nie wird es richtig Winter. Die Böden sind fett und fruchtbar. Naturkatastrophen wie Erdbeben oder wilde Stürme hat es dort bisher nicht gegeben. Seit undenklichen Zeiten siedeln auf Gagaia Leute, und es waren alle Voraussetzungen für sie gegeben, glücklich zu werden. Aber nichts ist wirklich vollkommen. Die Geschöpfe von Gagaia haben sich nämlich nicht zu einem großen Volk vereinigt und ihr geschenktes Glück genossen, sondern sich geteilt und voneinander abgesetzt. Es entstanden zwei Reiche: Rutan und Vespucci. Diese unterscheiden sich voneinander wie Feuer und Wasser, Musik und Stille, Tag und Nacht. Ihr könnt euch diesen Unterschied kaum vorstellen, deshalb muss ich ihn näher beschreiben.

Lasst mich von dem ersten Land erzählen. Es heißt Vespucci und seine Bewohner haben große Köpfe und Hände mit langen Fingern, deren Nägel sie nie schneiden. Damit diese Fingernägel nicht abbrechen, sind sie geborgen in Futteralen aus Gold und Silber und verziert mit Edelsteinen. Von Gestalt sind diese Wesen klein mit kurzen Beinen und kurzen Armen. Auf dem Kopf haben sie keine Haare.

Die Völker in diesem fernen Erdteil sind, wie ich schon sagte, sehr alt. Älter vielleicht als alle Geschöpfe in Centratur mit Ausnahme der Achajer und der Zauberer. Die Vorfahren der Vespucci waren die sagenhaften Gulps, die einst tief unter der Oberfläche im Innern der Erde bei den Wurzeln der Gebirge lebten. Sie gruben dort kunstvolle Gänge und Hallen und schufen Schmuck und wundersame Gegenstände."

„So wie die Zwerge?" warf Marc ein.

„Mit den Zwergen kannst du die Vespucci nicht vergleichen. Die Kunst der Zwergenschmiede ist zwar in Centratur unübertroffen, aber sie sind Stümper gegenüber diesem Volk. Obgleich es möglich ist, dass auch die Zwerge von den Gulps abstammen. Doch dafür fehlt bisher jeder Beweis, und die Vespucci hegen keine Zuneigung für die Zwerge. Die Gulps jedenfalls schufen nicht nur wunderbare Welten in der Tiefe, sie konnten dort unten das Dunkel sogar hell erleuchten, so als ob die Sonne schiene. Als die Berge irgendwann von Wind und Wasser und der Zeit abgetragen worden waren, kamen die Gulps ans Tageslicht und wandelten sich im Lauf von Äonen zu den Vespucci.

Die Vespucci sind noch immer große Handwerker und Künstler. Zum Vergnügen formen sie aus Stein die wunderbarsten Bildnisse. Selbst die Häuser, in denen sie wohnen, sind Kunstwerke. Im Lauf der Jahrtausende schufen sie sich ein Reich voller Schönheit und Bequemlichkeit."

„Dann kann die Welt doch viel von ihnen lernen“, wandte Akandra ein.

„Auf den ersten Blick ja. Es geht tatsächlich etwas Verführerisches von diesem Volk aus. Aber dem muss man sich widersetzen. Die Vespucci sind nämlich von ihren eigenen Fertigkeiten so fasziniert, dass sie nur noch das akzeptieren und um sich dulden, was von ihnen selbst geschaffen wurde. Alles andere, auch das, was die Natur hervorbringt, haben sie ausgemerzt. Überall gibt es nur von Vespuccihand Geschaffenes. Ihr ganzes Reich ist angefüllt mit prächtigen Bauwerken, Skulpturen und anderen Produkten ihrer Kunstfertigkeit.

Sogar das Aussehen ihrer Kinder wollen sie selbst bestimmen. Sie sind der Meinung, dass das, was schwangere Frauen sehen und erleben, die Frucht in ihrem Leib formt und gestaltet. Deshalb umgeben sie die Frauen vor der Geburt mit Bildern und Skulpturen in der Art, wie sie sich die Kinder wünschen. Eine Familie, die einen blonden Jungen begehrt, lässt die werdende Mutter nur noch blonde Jungen und Männer sehen. Die anderen wollen ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen und verfahren ebenso. Ob diese Methode erfolgreich ist, sei dahingestellt. Aber die Vespucci halten sich streng daran.

Die Kunst spielt in diesem Land überhaupt eine große Rolle. Es werden dort die wunderbarsten Kunstwerke geschaffen. Manche der Bilder oder Figuren sind so schön, dass man den Blick nicht mehr von ihnen abwenden kann. Verweilt man länger als ein paar Minuten, vergisst man die Welt um sich her und verfällt in eine lähmende und nicht zu lösende Verzückungsstarre. Um dem entgegenzuwirken befinden sich die Vespucci ständig in hektischer Betriebsamkeit. Niemand bleibt längere Zeit gelassen an einer Stelle. Es scheint, als haben die Leute Angst vor ihren eigenen kunstvollen Produkten.

Am meisten aber ekeln sie sich vor der Natur. Wenn sich irgendwo ein Grashalm sehen lässt, ein Baum oder ein Strauch zu keimen beginnt, dann wird er sofort ausgerissen. In ihren Augen ist alles Natürliche hässlich und gefährlich. Schließlich beeinträchtigt die sich frei entfaltende Natur die Ordnung, die sie in ihrer Welt geschaffen haben. Es gibt einen eigenen Berufsstand bei ihnen, der ihre Welt vor dem Hervortreten von Natur bewahrt. Er ist organisiert wie ein Soldatenheer. Seine Mitglieder nennen sich Wächter und Verteidiger der Freiheit, und das sind sie auch: Sie bewachen das Land vor der Natur.

Zwar leben die Vespucci in prächtigen marmornen Palästen, aber ihr werdet dort keine blühenden Gärten finden. Überhaupt singen in diesem Land keine Vögel und keine Hasen hoppeln über Felder. Die Tiere könnten auch dann nicht überleben, wenn man sie nicht ausgerottet hätte, denn sie fänden keine Nahrung. Die Erde ist mit einer Schicht aus Stein überzogen. Aber es ist ein besonderer Stein, denn auch er wird, wie könnte es anders sein, künstlich hergestellt. Es ist schwer, euch eine Vorstellung zu geben, wie es dort aussieht. Das Land ist so ganz anders als das Heimland. Keine Hühner laufen auf den Gassen frei herum und scharren im Boden nach Nahrung. Keine Kühe werden morgens auf die Wiesen getrieben, und keine Schweine grunzen hinter den Häusern."

„Aber die Leute müssen doch von etwas leben? Alle Lebewesen müssen essen. Wie kann man leben, ohne Felder zu bebauen und Tiere zu züchten?"

„Oh ja, die Grundbedürfnisse des Lebens wie Essen und Trinken haben sie noch nicht beseitigen können, obgleich sie sich größte Mühe geben. Aber wenn sie schon zu ihrem Kummer noch Essen und Trinken müssen, so wollen sie doch beim Essen nicht daran erinnert werden, dass die Nahrung in ihrem Ursprung natürlich ist. Es kommen keine gebratenen Hühnchen und keine knackigen Äpfel auf den Tisch. Vielmehr bearbeiten sie die Nahrung so lange, bis alle Erinnerung an ihr ehemaliges Aussehen verschwunden ist. Sie wird zu Würfeln oder Kugeln geformt und dann serviert. Wenn die Vespucci dann endlich essen, können sie nicht mehr erkennen, woraus ihre Nahrung einst bestanden hat, und woraus sie hergestellt worden ist.“

„Aber Tiere gibt es doch noch?“

„Ja, aber sie sind in eisernen Käfigen zusammengepfercht und sehen nie das Tageslicht. Sie leben einzig und allein zu dem Zweck geschlachtet zu werden. Und ich glaube, der Tod ist für sie eine Erlösung. Gemüse und Obst pflanzen sie in fremden Ländern an, die sie erobert haben. Sie wollen keine Pflanzen in ihrem Land Vespucci dulden.

Die Vespucci haben, wie ihr seht, große Angst vor dem Natürlichen, aber sie sind wahre Meister im Erfinden. Sie haben zum Beispiel unterschiedliche Metalle zusammengefügt, und der entstandene Stoff ist härter als alles, was ihr euch vorstellen könnt. So leben sie im Wohlstand und müssen sich nicht für ihren Lebensunterhalt mühen. Sie sind umgeben von schönen Dingen und größter Bequemlichkeit. Alles ist ihnen wohlgeraten. Aber ihre Herzen sind ohne Mitleid, und sie sind stets bestrebt, ihr Reich auszudehnen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die übrige Welt nach dem Vorbild ihres Landes zu formen. In grausamen Kriegen haben sie alle Nachbarn unterworfen. Nur so, wie sie selbst leben, so meinen sie, wäre das Leben lebenswert. Deshalb sagen sie, wenn sie andere Länder versklaven, dass sie ihnen die Freiheit bringen. Die Vespucci versprechen allen Völkern Glück und Reichtum und ein bequemes Leben, wenn sie nur ihre Herrschaft und die Art des Vespucci-Lebens anerkennen.

Ein Land jedoch, und ausgerechnet mit ihm teilen sich die Vespucci eine Grenze, hatte ihnen lange widerstanden. Es liegt noch weiter im Osten und wird von einem König regiert. Seine Bewohner nennen es Rutan. Sie sind hochgewachsen und haben ebenmäßige Züge. Das Land der Rutaner unterscheidet sich von dem der Vespucci wie Feuer von Wasser. Ist dort alles künstlich, so ist hier alles natürlich. Wird dort alles Natürliche vernichtet und umgestaltet, so wird hier die Natur völlig sich selbst überlassen. Menschenwerk gilt als unanständig, ja manchmal sogar als Verbrechen. Alle Pflanzen wuchern, ohne dass menschliche Hände sie zähmen. Ein Eingriff in die Natur oder gar ihre Lenkung ist bei Strafe verboten. Dein Vater, Marc, wäre als Gärtner dort ein großer Verbrecher.

Zusammenfassend kann man sagen: Das eine Volk verehrt die tote Materie und betet sie an. Für die anderen ist das Lebendige heilig und darf nicht beeinträchtigt werden."

„Dann sind die Rutaner also ein sehr friedliches Volk, das im wahrsten Sinne des Wortes keiner Fliege etwas zu leide tut“, ließ sich Akandra vernehmen.

„Täusche dich nicht! Die Fliegen lassen sie sicher in Ruhe, aber bei ihren Feinden sind die Rutaner gefürchtet. Sie gelten als grausam und unbarmherzig im Krieg. Von einem friedlichen Volk kann keine Rede sein."

„Das verstehe ich nicht. Das widerspricht sich doch?"

„Alles Lebendige ist widersprüchlich. Widerspruch ist ein Wesenszug des Lebens. Doch hört weiter. Das Land Rutan ist wie ein riesiger Dschungel voller wilder Tiere. Auch die Pflanzen sind ungebändigt und gefährlich. Aber Tiere und Pflanzen leben mit den Einwohnern in Frieden. Die Rutaner haben nichts von ihnen zu befürchten, obgleich sie sich nicht einmal gegen die Angriffe der Tiere und Pflanzen wehren würden. Aber wehe, wenn jemand von außerhalb die Grenzen überschreitet. Dann fallen alle zusammen, Menschen, Pflanzen und Tiere über ihn her, und er überlebt nicht lange.

Die Rutaner werden von einem König regiert. Dieser König spielt eine ganz besondere Rolle. Alle Rutaner sind nämlich miteinander geistig verbunden. Sie bilden eine große Einheit und der König ist ihr Kristallisationspunkt. So wie der König fühlen und denken mit einer Ausnahme alle Rutaner."

„Wer ist diese Ausnahme?“ fragte Akandra.

„Die Hohepriesterin. Sie ist verantwortlich für das geistige Heil des Volkes und ist gleichzeitig unabhängig von der Welt des Königs. Aber alle anderen sind dem König unterworfen. Es ist eine Welt, in der es keine Einzelwesen gibt, sondern nur ein großes Ganzes.“

„Dort möchte ich nicht leben", sagte Marc.

„Das kann ich dir nicht verdenken", antwortete eine der Älteren. „Aber nur die Rutaner können die Vespucci in Schach halten. Sie haben deren Expansionsdrang lange Zeit widerstanden. Zwar gab es in der Vergangenheit viele kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Völkern, die mit Härte und Unerbittlichkeit geführt wurden. Aber niemals gab es einen wirklichen Sieger. Am Ende der Kämpfe, nach dem Zählen der Toten, mussten beide Seiten stets feststellen, dass sie verloren hatten. Es waren eben zwei gleich starke Gegner, die sich nicht besiegen konnten. Trotz aller Anstrengungen der Vespucci war diese Situation nicht zu überwinden. Es dauerte lange bis die feindlichen Nachbarn dies eingesehen hatten, und es kostete viel Blut und viel Leid. Erst vor einem Menschenalter haben sie die sinnlosen Kämpfe eingestellt. Dies heißt jedoch nicht, dass die Völker nun auch in Frieden miteinander leben wollten, dazu waren ihre Lebensweisen und Vorstellungen vom Glück viel zu verschieden.

Besonders die Vespucci reizte die Existenz des Erbfeindes jenseits ihrer Grenzen zu immer neuen Wutausbrüchen, die das ganze Volk erfassten. Für ihren Ehrgeiz und ihr Selbstwertgefühl bedeutete die bloße Existenz der Rutaner schon eine Herausforderung. Sie konnten sich mit dem Waffenstillstand nicht zufriedengeben, wollten aber auch keine neuen Blutopfer bringen. Außerdem konnten sie, solange die Rutaner unbezwungen neben ihnen lebten, ihren großen Plan nicht weiterverfolgen."

„Was ist das für ein Plan?" fragte Marc sofort.

„Das werdet ihr noch früh genug erfahren. Hört genau zu, es ist wichtig für euch. Die Vespucci überlegten und berieten Tag und Nacht, wie es wohl möglich wäre, die Rutaner ohne Krieg zu unterwerfen. Alle Frauen, Männer und sogar Kinder konnten an nichts Anderes mehr denken. Schließlich fanden sie nach langem Forschen die richtige, die tödliche Waffe: die Liebe."

„Das kann doch nicht sein!" rief Marc entsetzt. „Die Liebe verhindert doch das Böse. Sie ist die einzige Waffe gegen den Tod in der Welt."

„Wenn du zuhörtest, Marc, dann würdest du dich nicht so erregen." Der sanfte Tadel ließ den jungen Mann verstummen, und die Älteren fuhren fort: „Es war den feindlichen Vespucci klar, dass dem König der Rutaner sein gesamtes Volk folgen würde, wenn er seinen Widerstand aufgäbe. Dieser Herrscher wurde deshalb zum Angriffsziel der Vespucci.

Sie versuchten ihn in die Fänge schöner Frauen zu locken, um ihn gefügig zu machen. Doch diese Unterfangen waren müßig. Wenn es den Frauen nämlich tatsächlich gelang, das feindliche Land der Rutaner zu durchqueren und den König zu sehen, so fand dieser sie so künstlich und so hässlich, dass er sich empört von ihnen abwandte. Dass dieser Plan nicht aufgehen konnte, hätten sich die Angreifer denken können.

Als ihre Tücke nicht gelingen wollte, griffen die Vespucci zu einem ihrer bewährtesten Mittel, nämlich der Kunst. Sie stellten eine Frau künstlich her. Sie wurde das schönste Wesen der Welt. Sie war so schön, dass kein sterblicher Mann sie ansehen konnte, ohne in wahnsinnige Liebe zu ihr zu verfallen. Ihre Schöpfer wagten sich selbst nur mit verbundenen Augen in ihre Nähe."

„Mir könnte so ein Geschöpf nichts anhaben“, dachte sich Marc. „Diese Frau würde mich völlig kalt lassen. Ich verstehe nicht, weshalb sich andere Männer so leicht den Kopf verdrehen lassen."

Aber diese Gedanken sprach er nicht laut aus, sondern hörte dem Bericht gespannt weiter zu. Die alte Frau, die rechts außen saß, schien seine Gedanken erraten zu haben, denn sie lächelte versonnen und schüttelte leicht den Kopf.

„Diese, man könnte beinahe sagen, überirdische Frau schmuggelten die Vespucci heimlich über die Grenze nach Rutan. Sie hatte den Auftrag, sich unbemerkt an den jungen König heranzuschleichen und ihn zu umgarnen. Getreulich führte sie den Befehl ihrer Schöpfer aus. Und so fand sie eines Tages den König der Rutaner auf einer Lichtung im tiefen Wald. Die seltsamsten und buntesten Blumen blühten auf der Wiese und auf den Bäumen um ihn herum. Mächtige Raubkatzen halten die Wache.

Der König schlief im tiefen Gras im Schatten eines goldenen Busches. Pareira, so hieß die schöne Frauengestalt, näherte sich dem Schlafenden, setzte sich zu ihm und strich ihm sanft über das Haar. Sie war nackt, damit sie sich von den Rutanern nicht unterschied. Ihre Schöpfer hatten inzwischen gelernt, dass sie nur mit Anpassung etwas erreichen konnten. Als der König erwachte, beugte sie sich über ihn und sah ihm tief in die Augen. Kein Mensch, kein Zwerg und auch kein Erit hätte diesem Blick widerstehen können. Jeder hätte sich und sein Herz sofort an dieses Weib ausgeliefert."

„Ich nicht!" sagte Marc noch einmal zu sich, und wieder lächelte die Frau.

„Nicht so der Herrscher der Rutaner. Er sprang auf, stieß sie von sich und rief: 'Du bist kein Geschöpf meines Landes. Noch nie habe ich etwas so Künstliches gesehen wie dich. Du befleckst diese reine Lichtung. Dein Anblick beleidigt die Bäume und das Gras, die Tiere und die Vögel.'

Dann ließ er sie fesseln und über die Grenze nach Vespucci zurückbringen."

Die Erzähler machten eine Pause und alle hörten, wie Marc bewundernd zwischen den Zähnen herauspresste: „Was für ein Mann!"

Da lachten die alten Männer und auch die alten Frauen laut und herzlich, und am lautesten lachte Akandra. Sie gluckste immer noch vor Vergnügen, als ein heller Lichtstrahl durch den Raum zog. Dann nahmen die Älteren den Bericht wieder auf.

„Die Vespucci waren über den Misserfolg ihrer Mission wütend und enttäuscht, aber sie gaben nicht auf. Sie versuchten es nun mit der Zauberei. Die weisesten und mächtigsten Männer des Landes zogen sich für ein ganzes Jahr in den Haupttempel im Innern der Hauptstadt zurück. Dort schufen sie unter Einhaltung seltsamer Riten und Zeremonien mit vereinten Kräften eine Halskette. Ja, an einer Halskette aus Perlen und Edelsteinen arbeiteten die besten Männer des Landes ein ganzes Jahr. Aber es war eine besondere Kette. Sie nahm unwiderstehlichen Einfluss auf ihren Träger. Hatte er sie einmal angezogen, so war er unfähig, sie wieder abzulegen und verfiel in tiefste Liebe zu dem ersten weiblichen Wesen, das er erblickte.

Die Weisen der Vespucci übergaben die Kette den besten Kriegern des Landes. Sie sollten sie im Königspalast der Rutaner so auslegen, dass sie der Herrscher finden musste. Mit den Kriegern ging Pareira. Ich kann hier nicht berichten, welche Abenteuer die vier bei der Erfüllung ihres Auftrages erlebten. Es war ein weiter und gefährlicher Weg ins Herz von Rutan. Die Menschen dort und alle Tiere des Landes hatten nämlich inzwischen erkannt, dass die Feinde von jenseits der Grenze ihrem König nachstellten. Sein Schutz war die zentrale Aufgabe eines jeden Einheimischen geworden. Kein Fremder sollte mehr in den Palast eindringen können. Die Abordnung der Vespucci aber meisterte den schweren Gang. So viel ist von ihrer Mission überliefert: Alle Krieger starben auf dem Weg, und nur Pareira und die Kette erreichten das Ziel.

Ich will es kurz machen. Pareira streifte mit einer List die Kette über den Kopf des jungen Königs. Dann fiel sein Blick auf Pareira und wie beabsichtigt war ihr vom gleichen Moment an verfallen. Seit dieser Zeit ist das Reich der Rutaner in der Hand der Vespucci."

„Das ist schade“, sagte Marc enttäuscht. „Gibt es denn keine Rettung für die Rutaner?"

„Die Sage verheißt, dass das Königreich nur gerettet werden kann, wenn es jemandem gelingt, dem König die Kette wieder abzustreifen. Dies ist aber so gut wie unmöglich. Er wird von seinen eigenen Landsleuten und natürlich von den Vespucci streng bewacht, und er tötet jeden ohne Zögern, der seiner Kette zu nahekommt. Außerdem ist da noch Pareira, die mit ihm lebt und ebenfalls aufpasst."

„Eine traurige Geschichte“, meinte Akandra, „doch warum habt ihr sie uns erzählt?"

„Weil ihr davon betroffen seid! Weil deine Mutter wegen dieser Geschichte gestorben ist!"

Ungläubig und verwirrt starrte das Mädchen die alten Leute an, sagte aber nichts. Lange herrschte Schweigen, bis die Älteren fortfuhren: „Die Vespucci sind mit ihrem Sieg über die Rutaner nicht zufrieden. Sie möchten die ganze Welt beherrschen. Schon viele Jahrhunderte blicken sie begehrlich auf andere Länder und Kontinente. Nur ihre Kriege mit den Rutanern hatten sie bis dahin abgehalten, die ganze Welt zu erobern. Nun, nachdem die Nachbarn in ihrer Gewalt sind, hindert sie niemand mehr, ihre Pläne zu verwirklichen."

„Was gehen die Vespucci die anderen Länder an?" fragte Marc erstaunt. „Und was haben wir mit diesem seltsamen Volk zu schaffen?"

„Ich habe schon gesagt, die Vespucci sind der Meinung, dass ihre Art zu leben die einzig richtige ist. Deshalb, so glauben sie, sei es ihre heilige Pflicht, als besonders erwähltes Volk, die Erde zu befreien. Und natürlich wollen sie auch, dies sollte man nicht unerwähnt lassen, den anderen Völkern, wenn sie unterworfen sind, ihre künstlichen Waren verkaufen. Diese geraten dann, um alles bezahlen zu können, in eine Art Sklaverei zu den Vespucci. Dies ist eine völlig neue Form der Weltherrschaft.

Da diese Ziele ihrer Meinung nach große und ehrenvolle Aufgaben sind, dürfen sie auch jedes Mittel dafür einsetzen. Es gibt nichts Verwerfliches, keine Grausamkeit, keine Heimtücke, die sie nicht anwenden würden. Alles rechtfertigen sie mit dem Satz: Es ist im Interesse und dient dem Wohl von Vespucci."

„Diese Vespucci öden mich an!" Akandra stieß die Worte wütend hervor. „Ich will nichts mehr von ihnen hören."

„Du wirst dich aber mit ihnen beschäftigen müssen. Der Einfluss der Vespucci ist überall. Seit vielen Jahren senden sie Agenten rund um den Erdball. Mit ihrer Hilfe lenken sie schon weitgehend die Geschicke der anderen Völker. Ormor ist ein Agent dieses Volkes, und sein Reich eine vorgeschobene Bastion. Dies hat damals im Großen Krieg niemand begriffen. Auch Aramar sah die Wahrheit nicht. Aber wie sollte er auch!"

„Erzählt uns etwas über den Zauberer“, unterbrach Marc an dieser Stelle die Alten. Diese weit ausholende Erzählung begann ihn zu langweilen. Was kümmerten ihn Länder fern von seinem Heimland! Er wollte konkrete Dinge hören, die ihn und seine Heimat betrafen. Für Geschichten war keine Zeit. Dass Vespucci-Agenten die Geschicke in Centratur lenken sollten, schien ihm an den Haaren herbeigezogen.

Die Alten erklärten: „Aramar war lange vor euch und kam lange nach mir. Er weiß viel und weiß doch nichts, aber er weiß wenigstens, wie wenig er weiß. Dies macht ihn weise. Ohne ihn und seine schützende Hand wäre Centratur längst verloren. Er hat sein Leben den guten Wesen dieser Länder gewidmet und nie viel Aufhebens davon gemacht. Ob er euch jetzt retten kann, muss sich erst noch weisen. Alleine wird es ihm sicher nicht gelingen. Bist du zufrieden mit meiner Antwort?"

Enttäuscht schüttelte Marc den Kopf, aber er sagte nichts, und die Gastgeber fuhren fort: „Ormor sollte Centratur für eine Übernahme durch die Vespucci vorbereiten. Aber das wusste er selbst nicht. Er glaubte, seine eigenen Interessen zu verfolgen und war doch nur eine Schachfigur, die andere zogen. Das ferne Volk benutzte ihn und seine Machtgier. Aber, wie ihr wisst, konnte dieser Angriff damals abgeschlagen werden. Ormor verlor damals, weil alle guten und vernünftigen Leute zusammengehalten haben, und weil sich Til und Marcs Vater so wacker geschlagen haben. Mit den kleinen Erits hatten weder die Vespucci noch ihr Diener gerechnet.

Zurzeit machen die Vespucci wieder einen Versuch, in Centratur Fuß zu fassen. Sie haben Ormor wieder befreit, dessen Machtstreben sie hemmungslos benutzen, und er weiß es nicht einmal. Es ist jemand, der alle an Bosheit, Heimtücke und Grausamkeit übertrifft. Er gebietet über Zauberkräfte von großem Ausmaß, und ihm haben sich alle Taugenichtse und finsteren Geschöpfe angeschlossen. Wie Exkremente die Schmeißfliegen so zieht er alles an, was grausam und gemein ist. Die Orokòr habt ihr selbst schon erlebt. Er hat schon den Vorfahren der Menschen und Achajern das Leben schwergemacht.

Immer wieder hat er die Länder mit Krieg überzogen und alle Lebewesen tyrannisiert. Bis er von Erits besiegt und von den Achajern in einen Berg gebannt werden konnte. Man konnte ihn leider nicht töten. Dort wartete er auf seine Zeit. Die Habbas waren mit der Wache des Berges betraut. Derweil saß der furchtbare Alte an einem steinernen Tisch und sein weißer Bart wurde länger und länger. Mit ihm im Fels in völliger Finsternis, halb schlafend, halb wachend, tot und gleichzeitig höchst lebendig, wartete sein gesamtes Heer. Dieses Heer ist das Schrecklichste, was man sich vorstellen kann. Wie gesagt, man glaubte diese dunkle und böse Macht in sicherer Verwahrung, und das war sie auch. Doch schon vor vielen Jahren ließ die Wachsamkeit der Habbas nach. Sie wurden alt, die Arme der Krieger schwach und ihr Haar weiß. Keine jungen Leute fanden sich, die ihre Reihen ergänzt hätten. Der Berg war nun zwar nicht ungeschützt, denn noch immer blieben sie im Vergleich mit anderen Menschen mächtige Krieger, aber er wurde anfälliger."

„Wie wurde dieser Mächtige aus dem Berg befreit?" fragte Marc atemlos. „Ich nehme doch an, dass dies geschehen ist."

„Ja, genauso verhält es sich. Während Pareira noch den König der Rutaner umgarnte, waren die Agenten der Vespucci schon unterwegs. Sie suchten die sechs tüchtigsten, aber auch skrupellosesten Kämpfer der Welt und sandten sie zu dem Berg. Die alten Wächter verteidigten sich verbissen und mit großer Tapferkeit, aber sie hatten keine Chance. Zuletzt wurde das Ungeheuer befreit. Als erstes kehrte es auf sein Dunkles Schloss zurück. Dann warf es seine finsteren Netze über Centratur. Damit begann der Untergang."

Die Gesichter der alten Frauen und Männer waren ernst und von tiefer Sorge erfüllt. Auch die jungen Leute schwiegen betroffen. Natürlich hatten sie von dem Zauberkönig gehört. Er war in den alten Sagen vorgekommen. Sein Name rief bei allen Geschöpfen stets tiefes Entsetzen hervor, obgleich jeder seine Existenz bisher für ein schauerliches Märchen gehalten hatte. Diese grauenvolle Gestalt sollte Wirklichkeit sein, sollte hinter dem Überfall auf das Heimland stecken? Die Sage materialisierte zu einem Teil der Gegenwart. Damit mussten die beiden Erits erst einmal fertig werden. Die alten Leute schenkten ihnen ihre Geduld und die dazu nötige Zeit.

Schließlich fasste sich Marc: „Wenn ich euch richtig verstanden habe, so steht hinter dem Zauberkönig ein anderer Wille. Er wurde im Auftrag der Vespucci befreit, damit er Centratur mit Krieg und Unheil überzieht. Später wollen sie, so vermute ich, selbst die Herrschaft übernehmen. Der Zauberkönig ahnt wahrscheinlich gar nicht, dass er nur den Weg bereiten soll. Die eigentlichen Drahtzieher sind demnach die Leute von der anderen Seite der Erde. Kann man ihnen denn nicht Einhalt gebieten?"

„Niemand kann sie aufhalten." Die Stimme des alten Mannes klang dumpf. „Die einzigen, die diesem fürchterlichen Volk bisher ebenbürtig waren, sind die Rutaner. Aber durch Pareira haben die Vespucci sie in ihrer Gewalt. Nun steht niemand mehr zwischen den Vespucci und der Weltherrschaft, und die wird fürchterlich werden."

An dieser Stelle machten die Greise wieder eine lange Pause. Endlich sagte eine der Frauen: „Ich habe lange gesprochen. Nun ist es Zeit zum Essen und zum Ruhen."

„Dazu haben wir keine Zeit“, antwortete Marc hastig. „Wir müssen etwas unternehmen. Es muss etwas geschehen!"

„Es wird etwas geschehen! Doch wisset, alles hat seine Zeit, und jetzt ist die Zeit der Ruhe!"


Die Älteren erhoben sich wie auf einen gemeinsamen Befehl und ihre Gäste taten es ihnen nach. Die Prozession bewegte sich durch die Mitte der hohen Halle. Voraus gingen die Männer, hinterher kamen die Frauen und die Weltkinder liefen in der Mitte. An der Schmalseite des Raumes war ein zweiflügeliges Tor. Es stand offen und gewährte den Blick auf hellen Kerzenschein. Neugierig schritten Akandra und Marc in ein Zimmer mit offenem Kamin. In der Mitte stand ein langer, gedeckter Tisch. Jetzt bemerkten die Erits auch ihren Hunger. Das Frühstück lag schon lang zurück.

Man nahm Platz und alle sprachen dem Wein und den Speisen kräftig zu. Geredet wurde während des Essens wenig. Einmal wollte Marc mit einer Frage das Gespräch aus der großen Halle wieder aufnehmen, aber man gebot ihm Schweigen. Hier werde über diese Dinge nicht gesprochen, sagte man. Die Heiterkeit dieses Ortes dürfe nicht beeinträchtigt werden.

„Ich dachte nicht, dass die Unterwelt heiter sein kann“, warf Akandra ein.

Man entgegnete dem kecken Einwurf mit der ernsten Frage: „Warum sollte sie es nicht sein?"

„Nun, vielleicht wegen all der schlimmen Ereignisse, die oben in der Welt geschehen? Oder seid ihr etwa heiter, weil ihr von all den Gemeinheiten und Grausamkeiten, mit denen wir uns plagen müssen, nicht betroffen seid?" Marcs Stimme war plötzlich wieder voller Vorwürfe.

„Ich sage es dir noch einmal“, wurde ihm geduldig geantwortet, „ich bin kein Zyniker, und natürlich ist das Leid der Lebewesen in der Oberwelt auch mein Leid. Glaubst du, das Elend meiner Kinder würde mich nicht berühren? Ganz besonders schmerzt es mich, dass die Vespucci, die natürlich auch von mir abstammen, sich so weit von meinem Geist entfernt haben. Und selbst wenn es sich nicht um meine Kinder handelte, so wäre ich doch betroffen, denn niemand ist ganz für sich allein. Jeder ist Teil des Ganzen. Wenn deiner Mutter, Akandra, etwas so Furchtbares zustößt, so trifft es auch mich. Es trifft mich mehr, als ihr ahnen könnt. Größe aber liegt darin, die Heiterkeit nicht zu verlieren. Es hat lange gedauert, bis ich so weit war."

Tränen traten Akandra in die Augen, und bitter antwortete ihr Begleiter: „Wenn ich so weit vom Ort des Geschehens entfernt wäre wie ihr, dann könnte ich mir auch eure Abgeklärtheit und Würde leisten."

Stille breitete sich nach diesen bösen Worten über der Tafel aus. Dann sagte die Frau, die rechts neben Marc saß: „Mitleid und feste Gesinnung schließen einander nicht aus."

So etwas Ähnliches, überlegte Akandra, hatte sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal gehört.

Man begab sich in einen Nebenraum, in dem bequeme Stühle standen. Während sich alle niederließen, ergriff einer der Männer eine Flöte. Das klare, helle Lied blieb gleichsam im Raum stehen, und Marc, der Musik hauptsächlich vom Singen und Pfeifen kannte, war ganz ergriffen. Diese Musik klang so ganz anders als die Trompeten und Trommeln, die auf den Volksfesten im Heimland die trunkenen Erits unterhielten.

Plötzlich stand Akandra auf und sang. Sie sang ein einfaches Lied, das ihr Vater sie einst gelehrt hatte. Es war so schlicht, dass sie sich ein wenig schämte, es hier vor den Älteren vorzutragen. Aber irgendetwas drängte sie, und sie gab diesem Drängen nach.

Es war ein Lied aus ihrer Kindheit. Ihr Vater, Marrham von Hagen, hatte es ihr oft vorgesungen. Er selbst hatte die Weise einst in Whyten gehört. Dort hatten die Menschen das Lied in der Nacht vor der großen Schlacht gegen die Heere des Herrschers von Darken angestimmt. Sie hatten damit ihren furchtsamen Herzen Mut gemacht, und Marrham war sein Leben lang von der Macht dieses schlichten Gesangs fasziniert geblieben.

„Die Nacht, sie muss nicht dunkel sein,

der große Schmerz vergeht.

Ist auch mein Mut bis jetzt noch klein,

mein Wille dennoch steht!

Der Baum, der biegt sich auch im Wind;

selbst wenn ein Ast ihm bricht,

er bleibt doch fest und hält es aus,

und Furcht, die kennt er nicht.

Der Sturm, der wird vorübergehn,

dann steht der Baum noch da,

so prachtvoll, schön und ungebeugt,

so wie er immer war."


Marc sah die Gefährtin verwundert an. Sie hatte ihn in den vergangenen Tagen mehrfach verblüfft. Und mit einem Mal liebte er sie. So muss es im Himmel sein, dachte er sich, und saß ganz still. Später kehrten sie gemeinsam in die große, zentrale Halle dieser Unterwelt zurück. Alle nahmen wieder auf ihren Stühlen Platz, und die Beratung ging weiter. Sofort verdrängte das drohende Unheil die heitere Gelassenheit, die für einige Zeit die kleine Gesellschaft abgelenkt hatte.

Marc nahm als erster den Faden wieder auf: „Gibt es eine Chance, dass die Rutaner sich dem Einfluss der Vespucci wieder entziehen können? Sie würden dann, wenn ich alles richtig verstanden habe, dieses machtbesessene Volk aufhalten, und die Welt wäre gerettet."

„Die Rutaner wären sicher starke Verbündete für die Völker der Erde. Ihre Befreiung wäre eine große Hoffnung."

„Was können wir Erits dabei tun? Warum habt ihr uns dies alles erzählt?" Akandra war verwirrt. „Rutan und Vespucci sind so weit weg und doch so nah. Es klingt wie eine Geschichte aus dem Märchenbuch meiner Kindheit und lässt mich vor Angst dennoch schaudern. Wir reden hier über die Rettung der Welt und schämen uns nicht ob dieser Vermessenheit."

„Sollte man nicht alle Heere der Welt zusammenrufen und nach Rutan ziehen. Gemeinsam könnte vielleicht der Sieg gelingen?“ fragte Marc eifrig.

„Das wäre aussichtslos, mein Junge“, antworteten die Älteren. „Dies nicht nur, weil die Heere des Westens gegen die Vespucci keine Chancen hätten. Sie würden sich auch nie unter einem Führer vereinen, sondern sich auf dem langen Marsch nach Osten gegenseitig bekriegen. Ihr Völker des Westens könnt nur ganz selten in Frieden und Harmonie ein gemeinsames Werk vollbringen. In der Regel scheitert ihr an eurem Neid, eurer Zwietracht und eurem Geltungsstreben.“

„Also können wir nur abwarten, bis uns das Schicksal ereilt, alles Grün vernichtet wird, und wir in einer Kunstwelt leben? Es gibt keine Hoffnung?"

„Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es schon. Als der König der Rutaner von Pareira in den Bann gezogen und sein freier Wille gefesselt worden war, da unterwarf sich zusammen mit ihm sein ganzes Volk. Doch es gab eine Ausnahme. Die Hohe Priesterin der Rutaner, in der sich alles Wissen über den Geist der Pflanzen, der Tiere, der Steine und sogar des Wassers vereinigt. Sie, die für die Harmonie des Landes Rutan mit der Erde verantwortlich war, sie unterwarf sich nicht. Die Priesterin, sie hieß Qumara, flocht aus Pflanzenranken einen Umhang, mit dem sie ihre Blößen bedeckte und schickte sich an, das Land zu verlassen. Bevor sie aber ging, versprach sie den Rutanern, dass sie wiederkommen werde und hinterließ ihnen eine Verheißung."

Die Alten machten eine lange Pause und sprachen dann gemeinsam:

„Wenn die Zeit erfüllt ist,

werden kommen

Kleine Leute

und werden

dem König

die Kette abnehmen."


Totenstille war in der großen Halle, und dann sagten die Älteren feierlich: „Wegen dieser Worte seid ihr hier bei uns in der Unterwelt."

Die Aussendung


In Marc keimte ein fürchterlicher Verdacht: „Soll das etwa heißen, ihr schickt uns nach Rutan?"

„Ja!"

„Aber woher wollt ihr wissen, dass einer von uns beiden der Auserwählte ist, der dem König die Kette abnehmen kann?"

„Ich weiß es, und die Prüfungen, die ihr bestanden habt, bestätigen dies. Ihr seid dazu ausersehen, den König zu befreien."

„Und wer von uns beiden?" fragte Akandra.

„Das ist vom Schicksal noch nicht bestimmt, oder ich kann es noch nicht erkennen. Deshalb müsst ihr beide gehen."

„Nein, das könnt ihr nicht verlangen!" Marcs Gesicht war weiß wie Kalk. Er zitterte am ganzen Körper.

„Wir verlangen es nicht. Wir stellen euch nur vor die Wahl. Niemand kann euch zwingen. Ihr müsst freiwillig gehen, sonst ist die Mission schon im Anbeginn gescheitert."

„Aber wir müssen doch zurück ins Heimland. Die Orokòr werden alle Erits überfallen, töten oder versklaven. Wir müssen warnen und helfen." Marcs Einwände klangen verzweifelt und hilflos. „Wir können jetzt nicht auf große Fahrt gehen, wir werden hier gebraucht."

„Die Rettung des Heimlands ist nicht eure Aufgabe. Um eure Heimat müssen sich andere kümmern. Helft, indem ihr den Ursprung der Gefahr bekämpft! Ihr müsst gegen die Anstifter vorgehen und nicht gegen ihre Schergen."

„Aber wie können wir, zwei schwache Erits, helfen? Warum sucht ihr nicht eine Gruppe starker, kampferprobter Menschen, vielleicht auch tapfere Zwerge oder gar weise, mutige Achajer? Sie alle sind stärker und besser geeignet als wir. Gerade Erits sind hilflose Geschöpfe und töricht im Kampf und im Umgang mit fremden Mächten. Ich bin sicher, wir würden unser Ziel niemals erreichen, geschweige denn diese Mission ausführen können."

„Oh, dieser Meinung bin ich nicht. Der treffliche Aramar sagte stets, dass die Erits immer für eine Überraschung gut sind. Ihr seid, wenn man ihm glauben darf, ein Volk, das zu unglaublichen Leistungen in der Lage ist. Natürlich nur, wenn es darauf ankommt. Aber jetzt ist die Stunde der Not und der Gefahr. Nein, stellt euer Licht nicht unter den Scheffel und besiegt eure Angst. Ihr werdet an der Aufgabe wachsen."

„Wenn ihr so sicher seid, dass wir die Richtigen sind und gehen sollen, könnt ihr uns dann einen Erfolg garantieren?"

„Das kann ich natürlich nicht. Ich muss euch sogar wahrheitsgemäß darauf hinweisen, dass ihr großen Gefahren entgegengehen werdet. Diese Gefahren werden sogar noch größer sein, als sie damals Til und Mog im Großen Krieg erlebt haben. Euer Tod in diesem Abenteuer ist sogar wahrscheinlicher als euer Sieg."

„Was ist, wenn wir diese Mission erfolgreich beenden?" Akandras Stimme war ruhig.

„Wir werden es aber nicht schaffen“, fiel ihr Marc ins Wort. „Man wird uns schon auf dem Weg nach Rutan umbringen und wahrscheinlich zuvor foltern und noch andere scheußliche Dinge mit uns anstellen. Wir werden den Weg in die fernen Lande nicht finden. Wir sind noch nicht einmal richtig erwachsen. Selbst erwachsene Erits wie mein Vater müssten bei dieser Aufgabe versagen. Ich weiß nicht, ob sogar Aramar sie bewältigen könnte. Akandra, wir sollten nicht so größenwahnsinnig sein und diese wahnwitzige Mission übernehmen!"

Die junge Frau achtete nicht auf sein angstvolles Stammeln und wiederholte ihre Frage: „Was geschieht, wenn es uns gelingt, dem König die Zauberkette abzustreifen?"

„Nun, wenn der König der Rutaner aus Pareiras Bann befreit ist, wird er sein Volk zum Kampf gegen die Vespucci führen. Der Zorn über die Demütigung ihres Königs, die sie so lange hatten hinnehmen müssen, wird den Kampfesmut der Rutaner ins Unermessliche steigern. Selbst wenn es den Rutanern nicht gelingt, die Vespucci zu besiegen, so werden sie doch dieses Volk der toten Dinge so beschäftigen, dass es für die Eroberung der Welt keine Zeit und auch keine Kräfte mehr hat.

Aber, und das macht diese Mission besonders gefährlich, die Vespucci kennen auch die Verheißung. Es gibt in jedem Volk einen Verräter, und irgendjemand hat ihnen davon erzählt. Deshalb bewachen sie alle Straßen und Grenzen und töten vorsorglich jeden Angehörigen eines kleinen Volkes. Viele Zwerge mussten schon sterben. Überall lauern ihre Agenten. Auch der Überfall auf das Heimland, den sie durch den Zauberkönig in Szene gesetzt haben, hat letztlich nur den Zweck, mögliche Retter des Rutanerkönig zu eliminieren. Bis jetzt waren die Vespucci mit ihren Vorsichtsmaßnahmen recht erfolgreich. Ihre Wachsamkeit nahm deshalb in der letzten Zeit ab. Hier liegt eure Chance."

„Die Vespucci sind also zu allem Überfluss auch noch gewarnt. Überall sind Agenten, die nur darauf lauern, Angehörige eines kleinen Volkes umzubringen. Je mehr Einzelheiten ihr berichtet, desto unmöglicher erscheint mir die Erfüllung dieses wahnwitzigen Auftrags."

Marcs Stimme zitterte vor Verzweiflung.

„Sei doch endlich still!" fauchte ihn Akandra an. Dann fuhr sie an die Älteren gerichtet fort: „Also nehmen wir an, die Vespucci werden besiegt. Was dann?"

„Wenn die Vespucci besiegt sind, könnte dies die Wende bedeuten. Ein neuer Anfang wäre möglich. Die Sterblichen hätten die Chance sich ihrer Wurzeln zu erinnern. Die Rechtschaffenen könnten dann verhindern, dass böse Mächte erneut willige Partner auf der Welt finden. Wir, die Älteren, könnten aufklären, die neuen Generationen anders erziehen, das Böse in der Welt gleich im Keim ersticken! Dann bestünde eine Chance, alle die guten Willens sind, für immer aus der Sklaverei, aus der Angst und dem Schrecken zu befreien."

„Für immer?" Marc lachte bitter auf. „Ist dies nicht eine schöne Illusion? Glaubt man nicht nach jedem Sieg, dass alles besser wird? Hält man nicht jeden Kampf für den letzten und doch kommen immer wieder neue?"

„Marc, deine Zweifel sind berechtigt. Natürlich wird es nicht einfach sein. Aber sollte man nicht zumindest den Versuch wagen und sich nicht mit den Übeln der Welt abfinden? Ist nicht schon die Hoffnung selbst ein erster Schritt in die richtige Richtung?"

Der junge Mann ließ sich nicht so rasch überzeugen und wandte schroff ein: „Das sind doch törichte Illusionen. Das Böse, was immer man auch darunter verstehen mag, ist ein Teil in jedem von uns. Ihr redet, als gäbe es einen Feind, der das Böse wie eine Art Krankheit in die Welt bringt, die Sterblichen damit gleichsam infiziert. Das ist doch Unsinn. Niemand glaubt von sich selbst, dass er böse ist, niemand will böse handeln. Wenn er es dennoch tut, und wir alle wissen, dass ununterbrochen Unrecht begangen wird, so glaubt jeder, dass er im Recht ist. Ich, so denkt man sich, handle nur so, weil es mein gutes Recht ist, oder weil die anderen mich dazu zwingen und so weiter und so fort.

Selbst wenn man die Vespucci besiegen könnte, wären doch Mord und Totschlag, Neid und Hader nicht aus der Welt. Den einzigen Weg in die richtige Richtung sehe ich darin, uns selbst zu verändern. Wir sollten nicht glauben, wenn wir irgendwelche Kriege führen, dann würde sich schon alles zum Besseren wenden.

Natürlich müssen wir uns jetzt vor den Orokòr schützen. Aber was soll dieser sinnlose Marsch zu einem fernen Volk, den ihr von uns verlangt? Von mir aus haben die Vespucci die Orokòr und sogar den schrecklichen Zauberkönig aufgehetzt. Meinetwegen sind ihre Agenten überall. Dennoch muss der Kampf ums Überleben hier geführt werden.

Ich bin zwar noch jung, aber ich habe mich, so lange ich denken kann, immer für die Vergangenheit interessiert. Wenn ich also das, was ich von der Geschichte kenne, richtig deute, dann haben alle Leute immer nach irgendeinem Feind in der Welt gesucht. Ihr ganzes Bestreben und damit ihr Glaube und ihre Hoffnung waren stets darauf ausgerichtet, diesen Feind zu vernichten. Wäre er erst ausgemerzt, so meinte man zu allen Zeiten, dann würde alles gut werden. Mit der Begründung, das so genannte Böse bekämpfen zu wollen, hat man aber zu allen Zeiten furchtbares Unheil angerichtet und Unrecht begangen. Wenn zwei sich bekämpfen, so denkt doch jeder, er verteidige sich nur gegen das Böse im anderen.

Im Namen des Guten wird ständig böse gehandelt. Wir müssen endlich aufhören, nach dem Bösen in den Anderen zu suchen und beginnen, uns selbst zu verändern. Wir selbst sind das Böse. Einer ist des anderen Wolf, und dieses Übel kann nur jeder selbst bei sich beenden. Ich kann nur für mich selbst beschließen, endlich kein Wolf mehr zu sein.

Ich dachte bisher, dass nur wir Sterblichen zu töricht seien, die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Doch nun höre ich diese unsinnige Argumentation von euch Unsterblichen."

Dies war eine lange Rede gewesen. Marc war, während er gesprochen hatte, aufgestanden und hin und her gelaufen. Er hatte rote Flecken im Gesicht. Nun setzte er sich wieder, trommelte aber noch immer nervös mit seinen Fingern auf die Armlehne des Sessels. Die Älteren hatten ruhig zugehört. Ihren Gesichtern war weder Zustimmung noch Ablehnung abzulesen.

Eine der Frauen entgegnete: „Du hast nicht unrecht. Sicher war die Suche nach dem, wie du es nennst, ‘so genannten Bösen’ häufig die Ursache für Tyrannei, Gewalt und Hass. Natürlich haben sich die Sterblichen oft gegenseitig mit dem Argument gequält, das Böse im andern zu bekämpfen. Aber warum ist das so, woher stammt diese wahnwitzige Rechtfertigung für Untaten und Unterdrückung? Weil eben das Böse in der Welt ist und sich in eure Herzen geschlichen hat. Das Böse benutzt die Furcht vor dem Bösen, um die Welt zu beherrschen. Dem gilt es Widerstand zu leisten, da hast du ganz Recht. Das Böse in jedem einzelnen muss bekämpft werden. Aber allein könnt ihr damit nicht fertig werden, dazu seid ihr zu schwach. Du kannst dich noch so leidenschaftlich dagegen wehren, das Böse in euch wird gesteuert und genährt von bösen Mächten, und die kommen von außerhalb."

„Also wäre der einzige Weg, die Welt zu befrieden, alle Wesen umzubringen? Dann hätte das Böse keinen Nährboden mehr. Ein schöner Friede wäre das. Die Orokòr sind demnach die Heilsbringer“, warf der Erit erbittert ein.

„Dies wäre in der Tat ein törichter Weg, obgleich schon viele mit diesem Gedanken gespielt haben."

„Also steckt uns alle in Quarantäne!"

„Vielleicht ist diese Welt eure Quarantäne?"

Marc wandte sich wieder der geforderten Aufgabe zu: „Was haben mir die Vespucci getan? Ich bin sicher, dass die Vespucci selbst glauben, mit den besten Absichten zu handeln. Schließlich wollen sie der Welt doch nur eine Ordnung bringen, die sie selbst für die beste halten. Sie haben also keinerlei Unrechtsbewusstsein. Dennoch schickt ihr mich in den Kampf gegen sie. Krieg soll eurer Meinung nach geführt werden, um die Welt zu retten? Mit Kriegen werden aber keine Übel bekämpft, die Kriege sind selbst das Übel. Sogar die Taube ist ein grausames Tier, das eine unterlegene Artgenossin ohne Unterlass und ohne Erbarmen quält. Die Taube ist grausamer als der Wolf."

Jetzt mischte sich Akandra wütend ein. Sie hatte bisher stumm zugehört und war nun mit ihrer Geduld am Ende: „Marc versucht vielleicht die böse Macht uns durch dich zu beeinflussen? Ist der Feind vielleicht schon in deiner Gestalt unter uns oder du bist ganz einfach ein Hasenfuß, der nach Ausflüchten sucht, um sich vor der Gefahr drücken zu können."

Dann wandte sie sich an die Älteren: „Habe ich euch recht verstanden? Wenn die Vespucci besiegt sind, werden auch die Orokòr vernichtet werden?"

Einer der Älteren antwortete ihr mit Bedacht: „Eines kann man mit Sicherheit sagen, ein endgültiger Sieg über die Orokòr ist nur möglich, wenn sie von den Vespucci nicht mehr unterstützt und dirigiert werden. Ist die Macht der Vespucci gebrochen, so ist auch der Untergang der Orokòr wahrscheinlich."

„Dann werde ich gehen!" Die junge Frau sagte dies so bestimmt, dass alle sie verblüfft ansahen.

Auch Marc sagte nichts mehr. Endlich meinte eine der Älteren: "Ich glaube, wir sollten später weiterreden. Ihr braucht jetzt viel Schlaf. Auch will ich euch Zeit zum Überlegen geben. Mit einer voreiligen Entscheidung ist weder mir noch euch gedient."

Akandra wandte selbstbewusst ein: „Ich brauche keine weitere Zeit zum Überlegen."

Doch ihre Gastgeber gingen nicht weiter darauf ein. Man erklärte den beiden Besuchern, dass sie den Abend alleine verbringen würden. Man wolle ihnen Ruhe gönnen und Zeit zum Nachdenken lassen. In einem kleinen Raum, der ganz mit dunklem Holz getäfelt war, verabschiedeten sich die Älteren. Ein massiver Tisch mit einer polierten Platte stand in der Mitte und um ihn vier Stühle. Das Abendessen wartete bereits. Es gab kräftiges Brot, Butter, Käse und Salz. Auch eine Kanne Bier stand auf dem Tisch und zwei Krüge. Schweigend und in Gedanken versunken kauten die beiden Erits das Brot und tranken das Bier. Hin und wieder versuchte Marc ein Gespräch, aber Akandra war einsilbig. Sie behandelte Marc mit Verachtung.

Nach dem Essen waren sie noch nicht müde genug zum Schlafen. Sie waren zu aufgewühlt von dem Disput und all den Neuigkeiten, die sie erfahren hatten. Deshalb verließen sie das Zimmer und schlenderten durch die langen Gänge dieser Unterwelt. Irgendwann hielt der junge Mann die gereizte Spannung nicht mehr aus. Er fragte seine Begleiterin: "Was hast du denn?"

Sie zischte ihn an: „Feigling! Wenn du keinen Mut hast, dann gehe ich eben allein. Aber dann stehe zu deiner Feigheit und suche nicht ständig nach faulen Ausreden."

„Ich habe tatsächlich Angst. Und wenn du dich nicht fürchtest, so hast du die Gefahr, in die wir gehen sollen, nicht erkannt. Mut ist manchmal nur eine Form von Dummheit, und ich dachte bisher nicht, dass du zu dieser Art Helden gehörst. Du enttäuschst mich nicht weniger als ich dich."

„Ach“, antwortete sie, „diese Taktik kenne ich inzwischen bei dir. Angriff, so meinst du, ist die beste Verteidigung. Aber mit deinem ewigen Gerede kannst du mir nicht imponieren."

Eine Pause trat ein. Dann fuhr sie ruhiger fort: „Mit Gerede kann man die besten Pläne zerstören. Gedanken sind stets blass, und nur Taten sind das Leben. Mit Gedanken wurde die Welt nicht erschaffen und kein Acker gepflügt. Zögerliche Gedanken machen unsere besten Vorhaben und Unternehmungen von vornherein krank und schwach. Du hast doch gesehen, was die Orokòr angerichtet haben. Willst du denn keine Rache? Soll dies alles ungesühnt bleiben? Sollen diese Bestien denn weiter ungeschoren morden dürfen? Wenn es nötig ist, die Vespucci zu besiegen, um die Orokòr zu treffen, dann werden wir unsere Pflicht tun und uns zu diesem Volk auf den Weg machen. Die Vespucci sind einen Pakt mit dem Bösen eingegangen. Wir müssen die Welt von ihnen befreien!"

„Aber selbst, wenn wir wider alle Vernunft Erfolg haben sollten und die Macht der Vespucci gebrochen wird, werden doch neue Völker kommen und versuchen, die Welt zu unterjochen. Dieser Kampf gegen das so genannte Böse ist aussichtslos. Immer wenn du gesiegt hast, kannst du ihn neu beginnen."

„Willst du damit sagen, dass man das Übel nicht bekämpfen soll, nur, weil damit zu rechnen ist, dass neues Übel folgt? Du willst dein Haus nicht putzen, nur, weil es bald wieder schmutzig sein wird? Ich will, dass meine Kinder, wenn ich je welche haben werde, in Frieden leben können. Ich will, dass sie durch die Welt reisen können, ohne Flüchtlinge zu sein. Und ich will natürlich auch Frieden und Glück für das Heimland!"

„Lass es gut sein“, sagte er resigniert. „Ich werde mit dir auf diese unsinnige Reise gehen, auch wenn ich von dem Sinn dieses Unternehmens nicht überzeugt bin. Ich weiß auch nicht, ob man uns hier unten nicht zu Werkzeugen für Interessen macht, die wir nicht überblicken können. Ich traue diesen Älteren nicht, obwohl sie mir nicht unsympathisch sind. Welche Ziele sie wirklich verfolgen, kann ich nicht erkennen. Ich würde leichteren Herzens gehen, wenn ich das herausgefunden hätte."

„Du bist ein misstrauischer Spinner“, antwortete sie, aber ihre Stimme war nicht mehr so abweisend und hart wie zuvor.


Am nächsten Morgen wurden sie abgeholt und in die große Halle geführt. Sie standen vor dem Kreis der alten Leute. Die Kerzen flackerten, und ihr Ruß stieg in die hohe Kuppel.

„Nun, wozu habt ihr euch entschlossen?" fragten die Älteren mit großem Ernst.

„Was sein muss, wird getan!" antwortete Akandra ohne zu zögern.

Verwundert bemerkte Marc, dass von den alten Leuten keine Reaktion kam. Sie zeigten weder Verwunderung noch Erleichterung. Deshalb fragte er: „Wusstet ihr, dass wir gehen würden?"

„Ja!"

„Und wenn wir nicht gegangen wären?"

„Dann wäret ihr eben nicht gegangen. Aber ihr geht doch! Was soll also die Frage?"

Alle erhoben sich feierlich und nahmen die Besucher in ihre Mitte. In einem Nebenraum stand ein schwerer Eichentisch. Ihn bedeckte eine rote Brokatdecke. Die Gaben, die darauf lagen, wurden von den alten Leuten nun feierlich überreicht.

Zuerst erhielten die Erits ein Paket mit Landkarten. Ihr Weg war auf den Pergamenten mit einem roten Strich eingezeichnet. Es waren kostbare Schriften. Jede einzelne von einem Künstler mit großer Sorgfalt und Genauigkeit gemalt und mit bunten Bildern geschmückt. Die Älteren warnten eindringlich davor, irgendjemandem jemals diese Karten zu zeigen. Ihre einzige Chance bestand in der Überraschung. Wenn ihr Weg ihren Feinden bekannt würde, könnten sie ihnen Hinterhalte stellen und fremde Völker gegen sie aufhetzen. Selbst der kurze Blick eines Fremden auf eine der Karten könnte ihre Mission zum Scheitern verurteilen.

"Bedenkt stets, auch die Vespucci kennen die Prophezeiung, und sie nehmen sie ernst. Überall in der Welt sind ihre Schergen“, wiederholten die Älteren noch einmal ihre Warnung. "Sie überwachen alle Wege, und sie kontrollieren die meisten Völker der Erde. Ihr seid, wo immer ihr euch auch aufhalten mögt, in Gefahr."

Auf diese Ermahnungen folgte die Übergabe der Waffen. Es waren Zauberwaffen, die in den Schmiedewerkstätten tief unten in den Bergen hergestellt und auf den Altären hoher Türme mit einem mächtigen Zauber versehen worden waren. Marc erhielt einen Hammer, der nach dem Wurf stets in die Hand des Werfers zurückkehrt. Er hatte die Wucht eines schweren Schmiedehammers und war doch federleicht. Seltsame Zeichen hatten die Schmiede in seinen schwarzen Kopf eingraviert. An seinem Stiel baumelte eine silberne Kette, mit der er am Gürtel festgemacht werden konnte.

Auch ein Schwert bekam der Erit. Es durchschlug Stahl und Eisen ebenso wie Marmor und Stein, dennoch hatte es kaum Gewicht. Es war eine Waffe für Könige. Das mit Diamanten geschmückte Heft funkelte und glitzerte. Auch die goldene Scheide war mit Edelsteinen verziert.

„Es heißt ‘Blut des Gerechten’“, erklärten die Älteren. „Es hat nur ruhmreichen Helden gedient und wurde bislang nie besiegt.“

„Dann will ich es nicht haben“, erklärte Marc. „Ich würde nur Schande über diese Klinge bringen. Bürdet mir diese Last nicht auf!“

„Es ist keine Last, sondern eine Hilfe. Du wirst an seinem Ruhme wachsen! Aber zunächst solltest du Griff und Scheide mit Lederbändern umwickeln, damit man nicht sofort sieht, was für einen Schatz du mit dir führst.“

Akandra überreichten die Älteren einen Bogen, dessen Pfeile auf eine bestimmte Distanz sicher trafen und ein Messer, dessen Schneide nichts widerstehen und das glühend heiß werden konnte. Auch diese Klinge war mit sonderbaren Zauberzeichen bedeckt. Das Messer hieß ‘Blutzoll’.

„Diese vier Gegenstände gehörten einst den Unsterblichen. Es gab eine Zeit, da wusste man überall auf der Erde von ihrer Existenz und rühmte die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer. So mancher hätte sein Leben dafür gegeben, sie einmal in der Hand zu halten. Sie spielen in Sagen eine große Rolle. Doch schon lange glaubt man sie verloren und hat sie vergessen. Ihr könnt euch denken, dass diese Gaben sehr wertvoll sind und auf keinen Fall in die Hand der Feinde fallen dürfen. Aber mit Hilfe dieser Waffen habt ihr eine Chance, euer Ziel zu erreichen."

„Ich brauche keine Waffen“, sagte Marc trotzig. "Wenn ich niemandem etwas zu Leide tue, wird man auch mir nichts anhaben."

„Hast du deine Erlebnisse in Waldmar schon vergessen? Denkst du nicht mehr daran, wie uns die Orokòr gejagt und welche Angst wir ausgestanden haben?" Akandra war schon wieder wütend auf Marc. „Willst du endlich mit diesen Spinnereien aufhören?"

„Du wirst die Waffen benötigen“, sagte einer der Älteren schlichtend. „Und du wirst mit diesen Waffen töten, um nicht getötet zu werden."

„Ja“, bekräftigte die Grafentochter noch einmal, „was sein muss, wird getan!"

Zuletzt wurden die Erits noch mit Kleidern, die sie vor Hitze und Kälte schützen sollten, ausgerüstet. Die Muscheln verstauten die jungen Leute in weichen Umhängetaschen. Schwert und Hammer befestigte Marc an seinem Gürtel, während Akandra sich Bogen und Köcher um die Schultern hing. Das Messer verbarg sie unter ihrem Kleid am Oberschenkel. Dann waren sie bereit zum Aufbruch.

„Es fehlt noch etwas“, sagten die Älteren und führten die beiden über lange Wendeltreppen in noch tiefere Regionen der Unterwelt. Dort lagen in hohen Gewölben Schätze. Das Gold vieler Völker aus vielen Jahrtausenden war hier gestapelt und aufgehäuft. Aber nicht nur Gold und Silber wurden dort aufbewahrt, man sah auch Muscheln, Edelsteine und Münzen, die irgendwann einmal für ihre Besitzer sehr wertvoll gewesen waren. Mit diesen Schätzen hätte man alle Länder der Erde kaufen können. Fassungslos standen die Erits vor dem unermesslichen Reichtum.

„Nehmt euch was ihr braucht“, sagten die Älteren. „Aber bedenkt, wenn ihr zu viel davon mit euch herumschleppt, wird das Geld eine Last, die euch am Fortkommen hindert. Nehmt ihr aber zu wenig, so kann es sein, dass es euch gerade in dem Augenblick fehlt, in dem ihr es am nötigsten braucht. Wenn ihr zu große Münzen und zu wertvolle Stücke einpackt, dann fehlt euch etwas für kleine Belohnungen. Man kann nicht jeden Dienst, der einem erwiesen wird, mit einem Goldstück bezahlen, ohne dass sich dieses Ereignis wie ein Lauffeuer im ganzen Land herumspricht. Nehmt ihr aber zu viele geringe Geldstücke, dann tragt ihr eine schwere Last, und doch wird euer Reichtum bald aufgebraucht sein. Sich mit Schätzen richtig einzudecken, ist schwer. Überlegt und wählt gut!"

Die Erits füllten nach kurzer Beratung ihre Taschen nur mit funkelnden Goldstücken und einigen großen Silbermünzen, denn Akandra vertrat die Meinung, dass man das Geld unterwegs zurücklassen könnte, wenn es zu schwer würde, und Wechselgeld würde sich von selbst ansammeln. Aber, was man habe, das habe man. Später gebe es keine Möglichkeit mehr, die Vorräte zu ergänzen. Schädlicher wäre es, zu wenig mitzunehmen als zu viel. Sie kehrte sogar noch einmal zurück mit zwei Satteltaschen und füllte auch sie mit Gold.

„Ich hoffe, dass eure Überlegungen richtig sind, und das Geld für euch nicht zu einer gefährlichen Last wird“, bemerkten die Älteren warnend.

Endlich war alles gerichtet und zum Aufbruch bereit. Das Herz wurde den jungen Leuten schwer, und sie stellten die Frage, wie sie wieder nach oben kämen. Der Gedanke an die lange Treppe schreckte sie.

„Nur ein Weg führt in unsere Welt hinein, aber viele hinaus. Die Treppe bleibt euch erspart."

Die Älteren reihten sich noch einmal zu einer Prozession auf. Voraus gingen die Frauen, dann kamen Marc und Akandra, am Ende folgten die Männer. Es wurde kein Wort gesprochen, bis sie endlich zu einem langen Gang kamen. Er war dunkel und schien tief in das Unergründliche zu führen. Zwei Ponys von der Art, die Erits gerne reiten, standen dort. Sie waren gesattelt und scharrten ungeduldig mit den Hufen.

Die Abenteurer knieten nieder, und die Älteren gaben ihnen ihren Segen. Dann kam der Abschied mit Küssen und vielen guten Wünschen. Alle hatten Tränen in den Augen. Vater und Mutter blieben zurück, während die Kinder in die Welt zogen. Die jungen Leute kletterten auf die Rücken der Ponys und trabten los. Im Gang leuchtete ein schwaches Licht, das sie begleitete, bis sie das Tageslicht wiedersahen. Marc und Akandra ritten sieben Tage. Der Gang war breit und gerade und stieg stetig an. Hin und wieder rasteten sie, schliefen und aßen von den Vorräten, die sie in den Satteltaschen fanden. Auch Heu für die Pferde war vorhanden. In Abständen rann Wasser die steinernen Tunnelwände herab, von dem sie tranken. Am achten Tag sahen sie weit vor sich einen Lichtschimmer und gaben den Pferden die Sporen. Im Galopp jagten sie auf das Ende des Ganges zu. Dann standen sie im blendenden Licht der Sonne.

Centratur - zwei Bände in einer Edition

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