Читать книгу Centratur - zwei Bände in einer Edition - Horst Neisser - Страница 6

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Süden

Akandra und Marc haben von den Älteren den Auftrag erhalten, nach Osten zu reisen. Sie sollen dem König der Rutaner die Zauberkette abnehmen und damit ihn und sein Volk aus dem Bann der Vespucci befreien. Gelingt dies, so wird das Kräftegleichgewicht zwischen den beiden so verschiedenen Völkern wiederhergestellt. Dann werden die Vespucci von ihren Nachbarn in Schach gehalten und können sich nicht mehr um Centratur kümmern. Ihr Eroberungswille wird gedämpft. Ohne den Einfluss der Glatzköpfe lässt aber auch die Macht des Zauberkönigs Ormor nach. Die Menschen in Centratur können dann ihn und seine ihm treu ergebenen Völker besiegen.

Wie schlimm die Zustände auf dem Kontinent bereits sind, erlebt eine Reisegesellschaft, die tief im Süden unterwegs ist. Ihre Mitglieder haben sich zufällig getroffen und wandern auf der Alten Südstraße zur Pforte von Equan.


Die Reisegesellschaft

Es regnete seit Tagen. Sie waren durchfroren und sehnten sich nach etwas Wärme. Doch das nasse Holz wollte trotz aller Mühe, die sie sich gaben, nicht brennen. Sie hatten die unteren Äste der niederen Tannen, die immer trocken bleiben, abgehackt und sich dabei Arme und Gesicht zerkratzt. Bevor sie aber mit Feuerstein und Zunder ein kümmerliches Flämmchen erzeugen konnten, war das trockene Holz vom Regen so durchnässt, dass selbst Blasen und andere Bemühungen fruchtlos blieben.

„Wir werden wohl wieder kalte Bohnen essen müssen, dabei hängt mir dieser Fraß zum Hals heraus."

„Du wirst dich noch nach kalten Bohnen sehnen, es gibt nämlich keine mehr. Die letzten haben wir heute Mittag gegessen und neue können wir nicht kochen."

„Ich habe aber einen Riesenhunger und friere mir den Hintern ab. Eine warme Suppe und ein Becher Tee wären das Schönste, was ich mir vorstellen kann." Galowyn klapperte mit den Zähnen und war ganz blau im Gesicht. „Und dann dieser ewige Regen! Vorgestern Regen, gestern Regen, heute Regen, morgen Regen! Ich hasse Regen. Warum gibt es nichts Ordentliches zu essen? Du bist meine Dienerin! Du hast dafür zu sorgen, dass es mir gut geht. Die Grundlage allen Wohlbefindens aber ist das Essen. Also tue etwas! Besorge etwas Gutes."

„Als deine Dienerin würde ich das sicherlich versuchen und mich sogleich quer durch Centratur auf den Weg machen. Aber ich bin nicht deine Dienerin. Dienerinnen werden nämlich bezahlt. Ich aber habe schon seit Monaten keinen Heller mehr gesehen. Du hast zurzeit keine Dienerin, wann kapierst du das endlich?"

„Mit dem Hinweis auf das Geld versuchst du nur, deine Unfähigkeit zu entschuldigen. Du bist die schlechteste Dienerin, die ich jemals hatte."

„Dienerin? dass ich nicht lache! Du hattest nie Dienerinnen, sondern immer Sklavinnen. Wer sich nicht versklaven lassen wollte, lief von dir weg, so rasch es ging."

„Kommt schöne Frau, wir kriechen unter den Wagen, da ist es wenigstens halbwegs trocken." Eine ruhige Stimme versuchte den Streit zu beenden. Die Worte kamen von einer seltsamen Gestalt. Sie war lang und spindeldürr. Schüttere Haare umrahmten ein eingefallenes Gesicht mit rotem Bart.

„Ihr solltet ganz ruhig sein! Wer hat mir seit Tagen versprochen, dass wir in der kommenden Nacht ein Dach über dem Kopf haben würden?" Die Angriffslust der Dame hatte ein neues Ziel gefunden.

„Sicher, ich habe gesagt, dass wir nach Rudia und damit in bewohnte Gebiete und zu Menschen kommen werden. Ich konnte nicht wissen, dass sie die Stadt vor uns verrammeln."

„Ach, das lag doch nur an Euch. Die haben Euch gesehen und das Schlimmste vermutet. Nur Euretwegen bekamen wir kein Quartier. Ich will Euch etwas gestehen, wenn ich an Stelle der Leute gewesen wäre, hätt’ ich Euch auch nicht rein gelassen."

Der hagere Mann war beleidigt: „Niemand zwingt Euch, mit uns zu reisen. Wir haben Euch nicht um Begleitung gebeten. Ich erinnere mich, dass es genau umgekehrt war. Ihr könnt Euch, wenn es beliebt, noch heute Nacht von uns trennen. Dann habt Ihr vielleicht endlich Gelegenheit, wieder unter Menschen zu leben."

Soweit wollte es die Frau doch nicht kommen lassen und lenkte ein: „Lassen wir den dummen Streit! Davon wird der Regen gewiss auch nicht aufhören. Verdammt, wenn das so weitergeht, bekomme ich noch eine Erkältung und verliere meine Stimme. Ja, ich verliere meine Stimme! Ihr wisst doch, meine Stimme ist das Wertvollste, was ich habe."

„Da habt Ihr aber Glück, Gnädigste, dass ich zu Eurer Begleitung gehöre. Seid unbesorgt, ich werde Euch Eure Stimme wiedergeben, wenn ihr sie verliert." Ein junger Mann war unbemerkt aus dem Schatten des Waldes getreten. Er hatte schon eine Weile belustigt dem Disput zugehört. Trotz seiner weißen Haare war er sicher noch keine dreißig Jahre alt.

Der Hagere war dankbar für die Unterstützung: „Es ist schon ein Segen, schöne Frau! Bei uns ist Meister Urial, ein Zauberer, der wird für Eure Gesundheit sorgen."

„Ach, lasst mich in Ruhe. Von dem ganzen Geschwätz werde ich nicht satt und warm wird mir davon auch nicht."

Die Frau, die den Streit vom Zaun gebrochen hatte, war groß und trug das dunkle Haar kurz. Sie hatte die Dreißig bereits weit hinter sich gelassen, sah jedoch noch immer gut aus. Sie gehörte zu den Frauen, nach denen sich jeder umdreht, und die sich dessen auch bewusst sind. Bis zu einem gewissen Alter erreichen sie alles, was sie wollen, mit einem Augenaufschlag. Wenn sie älter werden, brauchen sie sehr lange, um zu begreifen, dass im Spiel des Lebens Jüngere an ihre Stelle getreten sind, und Erfolge nun auf andere Art errungen werden müssen. Aber davon war Galowyn, so hieß die Sängerin, noch ein paar Jahre entfernt. Ihr Kleid war aus einem kostbaren Stoff gefertigt und hatte einen eigenwilligen Schnitt. Was kümmerte es seine Trägerin, dass es inzwischen fadenscheinig und ausgeblichen war. Die Zeiten würden sich auch wieder ändern.




Die Nacht brach schnell herein, und im letzten Licht des Tages bereiteten sie sich ein Lager. Der Wagen wurde so weit wie möglich in den Wald geschoben, so dass er auf weichen, trockenen Nadeln stand. Vor den Wagen spannten sie eine Plane als Vordach. Dann krochen sie der Reihe nach ins Trockene, zogen die nassen Oberkleider aus und wickelten sich hungrig und zähneklappernd in ihre Decken. Sie stellten keine Wachen auf. Noch hielten sie Centratur für sicher.

Alle schliefen bis weit in den nächsten Tag hinein. Als sie merkten, dass es noch immer regnete, hätten sie am liebsten noch länger geschlafen. Es war noch etwas trockenes Brot und gesalzener Fisch übrig. Sie verzehrten diese Reste lustlos als Frühstück. Dann wurde das magere Maultier vor den Wagen gespannt, die Bündel unter der Plane verstaut. Sie machten sich auf den Weg. Der junge Zauberer saß auf dem Kutschbock. Die Sängerin hatte sich ohne lange zu fragen neben ihn gesetzt. Die anderen mussten laufen, protestierten aber nicht.


„Haben Gnädigste gut geruht?" begann der Weißhaarige ein Gespräch.

„Ihr sollt mich nicht immer 'Gnädigste' nennen. Ich glaube, Ihr nehmt mich nicht ernst."

„Das würde ich niemals wagen."

„Was habt Ihr gestern Abend im Wald gesucht, Meister Urial?"

Urial überhörte die Frage. Doch die Sängerin gehörte nicht zu den Leuten, die man einfach ignorieren kann.

„Habt Ihr Geheimnisse vor uns?"

Der Zauberer antwortete noch immer nicht.

„Geheimnisse haben mich schon immer interessiert. Sie sind so herrlich aufregend."

„Wollen Gnädigste nicht doch lieber laufen? Es wäre gut für den Kreislauf und die Figur. Ich darf erinnern, Sängerinnen müssen körperlich in Form bleiben."


Der Hagere und die Dienerin liefen hinter dem Wagen und schwiegen. Die Frau mit dem Namen Smyrna war zwar klein und füllig, aber dennoch anziehend und reizvoll. Sie hatte ein nettes, freundliches Gesicht, blonde Haare und trug einen weiten, wollenen Umhang. Sie hatte Mühe mit dem großen Mann Schritt zu halten und bot mit ihrem hochroten Kopf einen seltsamen Kontrast zu dem schlanken Mann.

„Was wisst Ihr von Meister Urial?" fragte sie endlich, als der Wagen vor ihnen etwas langsamer fuhr.

„Nicht viel! Ich habe ihn unterwegs getroffen."

„Kann man ihm trauen?"

„Vielleicht, ich weiß es nicht. Wem kann man heutzutage schon trauen. Ich traue ja nicht einmal mir selbst."

„Wo kommt er her?"

„Aus dem hohen Norden. Ich glaube aus Nowogoro. Ihr könnt ihn selber fragen."

„Ich wage es nicht. Er ist zwar freundlich und hilfsbereit, aber er macht mir Angst. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Ihr seid länger mit ihm zusammen. Erzählt mir einfach, was Ihr wisst."

„Getroffen habe ich ihn in Weiler. Ich kam aus den Galatzbergen und habe im ‘Blauen Krug’ Rast gemacht."

„Was hattet Ihr in den Galatzbergen zu suchen?"

„Das Fragen ist eine Leidenschaft von Euch. Ihr stellt die Fragen schneller, als man sie beantworten kann."

„Ich interessiere mich eben für Leute und will wissen, was um mich herum vorgeht." Die junge Frau war bemüht, das Misstrauen, das ihre Neugierde hervorgerufen haben könnte, zu zerstreuen.

„Ihr habt schon Recht, wenn Ihr Euch dafür interessiert, wer mit Euch reist. Die Zeiten sind gefährlich, und Vorsicht ist ein Zeichen von Klugheit. Ich habe nichts zu verbergen, deshalb will ich Euch gerne antworten. Nun, ich war in den Galatzbergen, um nach Gold zu graben."

„Und, habt Ihr etwas gefunden, Meister Fallsta?" Kaum hatte sie die vorlaute Frage ausgesprochen, da hätte sie sich die Zunge abbeißen mögen.

Aber der dürre Mann lächelte.

„Ja“, sagte er, „ich habe Gold gefunden. Und um gleich Eurer nächsten Frage zuvorzukommen, ich trage es nicht bei mir."

„Das hätte ich Euch nicht gefragt."

„Aber doch schrecklich gern gewusst."

„Wo habt Ihr Urial also getroffen?" Die Frau versuchte abzulenken.

„Im 'Blauen Krug'. Das ist wohl die berühmteste Gaststätte im nördlichen Centratur. Früher gehörte sie einem Erit mit Namen Ledi. Aber der ist schon lange tot. Er soll ein exzellentes Bier gebraut und vorzüglich gekocht haben. Davon ist nicht viel geblieben. Das Bier ist ein dünnes Gebräu und das Essen ein Fraß, den man nur hinunterwürgt, wenn man wirklich Hunger hat. Dennoch ist das Haus immer voll. Es gehört irgendwie dazu, dass man als Reisender im 'Krug' einkehrt. Deshalb trifft man dort auch interessante Leute. Man kann sich nach Wegen erkundigen und bekommt so manchen Hinweis und Warnung. Das macht die schlechte Verpflegung bei weitem wieder wett."

„Und wie habt Ihr Urial kennen gelernt?"

„Ich hatte mir ein Fieber geholt. Mir ging es verdammt schlecht. Urial sah mich elend in der Ecke sitzen und kam zu mir. Er fragte mich, was mit mir los sei. Dann ging er wortlos zu seinem Wagen und holte Kräuter. Vom Schankbuben ließ er sich heißes Wasser bringen und brühte mir einen Tee auf, den er mir vorsichtig einflößte. Danach ging er seiner Wege und ließ mich in Ruhe. Aber schon nach wenigen Stunden begann ich zu schwitzen, was das Zeug hielt. Ich war tropfnass. Dabei sank das Fieber. Am nächsten Morgen war ich gesund. Als ich meinen Retter suchte, fand ich ihn in seinem Wagen. Er mischte irgendwelche Kräuter.

Als ich kam, blickte er kurz auf und sagte: 'Es geht Euch besser!’

Dies war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er hatte es nicht anders erwartet. Ich wollte ihm danken und hätte ihm sogar die Hände geküsst. Aber davon wollte er nichts hören. Wir kamen ins Gespräch, dabei stellten wir fest, dass wir die gleiche Reiseroute hatten. Beide wollten wir über den Wolfsweg nach Süden. So zogen wir ein paar Tage später gemeinsam los. Das ist alles! Vor Rudia sind wir auf Euch getroffen, und nun laufen wir gemeinsam auf der Alten Südstraße. Wenn alles gut geht, werden wir die Pforte von Equan in drei Wochen erreichen. Ist damit Eure Neugierde gestillt, oder wollt Ihr noch mehr hören?"

„Viel weiß ich auch jetzt noch nicht über Meister Urial. Er muss Euch doch auf der langen Reise von sich erzählt haben?"

„Hat er aber nicht. Er ist nicht sehr mitteilsam. Wahrscheinlich hat er etwas zu verbergen. Aber wer hätte das nicht! Ich kann mich auf jeden Fall nicht über ihn beklagen. Er war bisher anständig und gab keinen Anlass für Misstrauen. Andererseits kommt er aus Nowogoro."

„Was wisst Ihr über diesen Ort?“

„Nowogoro war lange Zeit keine Stadt, sondern ein Kloster des Weißen Rates. Es liegt an der nördlichsten Spitze des Thaurgebirges. Ich schätze, es ist eine recht unwirtliche Gegend, kalt und dunkel. Was aber den Aufenthalt dort wirklich schlimm macht, ist die Nachbarschaft."

„Nachbarschaft?"

„Ja, nicht weit von Nowogoro, nur ein paar Tagereisen entfernt, liegt das Reich von Ormor, mit dem Dunklen Schloss des Zauberkönigs. Man spricht davon, dass Ormor, nachdem er lange im Berg gefangen gewesen war, dorthin zurückgekehrt ist. Wenn diese Gerüchte stimmen, so hat er sicher zuerst seine nächste Umgebung unterworfen. Dann gehört Nowogoro jetzt ihm, und wer von dort kommt, ist entweder auf der Flucht vor seiner Rache oder sein heimlicher Abgesandter. Ihr könnt wählen, was Ihr von Urial halten wollt. Doch genug davon, Jungfer, wir sollten von etwas anderem sprechen."

Sie hatten schon seit geraumer Zeit den Wald verlassen und zogen durch ödes Land. Der Regen prasselte weiter auf sie herab, und ihre Glieder waren kalt und klamm. Deshalb waren sie froh, als am Horizont mit Stroh gedeckte Dächer auftauchten. Urial gab dem Maultier die Peitsche, und die Körper der Wanderer strafften sich. Sie beschleunigten ihre Schritte. Der Ort, der Ruhe, Trockenheit und Essen verhieß, kam langsam näher. Es war ein armseliges Dorf. Im Sumpf der aufgeweichten Straße wühlten magere Schweine nach Nahrung. Die Dächer der vier Häuser waren eingebrochen, die Zäune niedergetrampelt. Keine Menschenseele ließ sich sehen.

Sie standen in der Mitte der kleinen Ansiedlung und blickten sich in dem Elend um, da schrie die Sängerin plötzlich mit schriller Stimme laut auf. Alle Augen wandten sich in die Richtung ihrer ausgestreckten Hand. Dort in einer leeren Fensterhöhle hing ein kleiner, blutbeschmierter Leib.

„Das ist doch ein Kind“, stammelte die Dienerin.

„Fort! Wir dürfen keine Sekunde länger bleiben!" Urial stieß die Worte hastig hervor und peitschte gleichzeitig auf das Maultier ein. Alle begannen zu laufen, kamen aber im tiefen Morast nur langsam vorwärts. Hinter den Häusern, aus Tür- und Fensterhöhlen quollen plötzlich bleiche Gestalten hervor mit grausam aufgerissenen Mäulern, in denen weiße Zähne blitzten. In ihren Klauen hielten sie lange Messer. Sie gaben keinen Ton von sich. Eine gespenstische Stille begleitete diesen Angriff.

„Welche Unterwelt hat diese Bestien ausgespien?" stöhnte Fallsta, aber niemand gab ihm Antwort.

„Wir sind verloren!" ächzte die Dienerin. Ihre Herrin hatte die Stimme verloren.

„Schaut sie nicht an! Lauft los und wendet Euch nicht um! Beachtet sie nicht!" Urial hatte schnell gesprochen, vor den Angreifern das Maultier gezügelt und war vom Wagen gesprungen. Dann kümmerte er sich nicht weiter um die kleine Reisegruppe, sondern stellte sich mit ausgebreiteten Armen in die Straßenmitte.

„Zurück!" sagte er mit ruhiger, befehlender Stimme. „Zurück!" wiederholte er noch einmal, als seinem Befehl keine Folge geleistet wurde. „Im Namen der Macht von Nowogoro gebiete ich euch!"

Es ging eine so große Kraft von diesen Worten aus, dass die schrecklichen Gestalten innehielten und diesen jungen, wagemutigen Widersacher erstaunt ansahen. Auch die beiden Frauen und der Mann waren stehen geblieben und starrten auf ihren Gefährten.

Der zischte ärgerlich: „So verschwindet doch endlich!"

Sie lösten sich aus ihrer Erstarrung und rannten was das Zeug hielt. Dabei sahen sie nicht mehr, was hinter ihrem Rücken vor sich ging. Sie liefen so lange, bis sie nicht mehr konnten. Als sie endlich keuchend stehen blieben, hörten sie das Trappeln von Hufen und das Knirschen von Rädern. Sie wagten nicht sich umzusehen, sondern hasteten voller Angst weiter. Nicht lange, und die Geräusche hatten sie eingeholt. Es war Urial, der auf dem Kutschbock stehend, die Zügel in beiden Händen hielt und das Maultier anspornte.

Als er sie erreicht hatte, ließ er das Tier langsamer laufen und rief: „Springt auf!"

Sie taten, wie ihnen geheißen. Er kümmerte sich nicht weiter darum, ob sie es auch geschafft hatten, sondern trieb das Tier wieder an. Die Hufe trommelten auf der nassen Erde, und die Räder schlingerten hin und her. Irgendwann war die wilde Fahrt zu Ende. Das Maultier blieb mit zitternden Flanken stehen. Die Menschen sprangen auf den festen Boden und fielen sich in die Arme. Die Sängerin schluchzte hysterisch. Als sie wieder zu Atem gekommen waren, überfielen sie Urial mit Fragen, wie er ihre Rettung zustande gebracht habe. Doch der winkte nur unwirsch ab.


Aramar


In dieser Nacht blieben sie von Regen verschont und hätten ein Feuer machen können, wagten es jedoch nicht. Der Lichtschein wäre meilenweit zu sehen gewesen. Zum Umfallen hungrig und müde legten sie sich unter den Wagen. Die beiden Männer teilten sich die Wache auf. Es war kurz nach Mitternacht. Fallsta kämpfte mit dem Schlaf, als ihn das Geräusch von Pferdehufen hochschrecken ließ. Er griff zu seinem Schwert und rüttelte die anderen wach. Urial machte sich bereit, einen Zauber einzusetzen. Die Frauen liefen rasch tiefer in das Wäldchen, an dessen Rand sie lagerten. Dann warteten alle in der Dunkelheit und hofften, dass die nächtlichen Reiter sie nicht bemerkten. Doch die zwei großen Schatten hatten sie entdeckt und kamen direkt auf sie zu. Vor dem Wagen, der schwarz und massiv in der Nacht stand, hielten sie an.

Eine ruhige Stimme sagte: „Es ist zwar reichlich spät für einen Besuch, aber wir würden gerne bei Euch Rast machen."

Misstrauisch traten die Männer hinter dem Wagen hervor und versuchten, in der Dunkelheit etwas von den Neuankömmlingen zu erkennen.

„Warum macht Ihr kein Feuer?" fragte die Stimme wieder. „Solche Nächte lassen sich mit ein wenig Wärme besser ertragen."

Ohne auf Erlaubnis zu warten, stiegen die Reiter ab.

„Zu gefährlich“, antwortete Urial lakonisch und fügte hinzu, „es wäre uns lieb, wenn Ihr etwas Abstand halten könntet. Seltsame Leute treiben sich seit einiger Zeit in Centratur herum. Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“

„Das erfahrt Ihr, wenn wir gemeinsam am Feuer sitzen.“

„Reitet weiter und macht Euch Euer eigenes Feuer!“

„Wir sind müde und wollen nur noch etwas essen und schlafen. Wir laden Euch auch zu einer späten Mahlzeit ein. Zündet endlich Feuer an, damit wir uns gegenseitig in Augenschein nehmen können“, beharrte die Stimme.

Das Wort ‘Essen’ hatte Galowyn aufhorchen lassen. Sie kam aus dem Schatten der Bäume und trat in das fahle Licht des Mondes hinaus.

„Was könnt Ihr uns anbieten?“

„Frisches Brot, Räucherspeck, Salz.“

Als die Namen dieser Köstlichkeiten fielen, gab es auch für Smyrna kein Halten mehr. Sie trat an die Seite ihrer Herrin. Widerwillig mussten sich die Gefährten der beiden Frauen geschlagen geben und die Fremden einladen. Aber sie blieben auf der Hut.

Bald brannte ein gemütliches, kleines Feuer. Alle ließen sich von den Flammen wärmen, kauten auf beiden Backen und starrten sich gegenseitig an. Die Neuankömmlinge waren ein alter Mann in blauen Reisekleidern und einen Zwerg mit einem langen Bart.

„Gestatten, Glaxca, Kraks Sohn aus Krocks Haus", stellte sich dieser vor.

Der alte Mann sagte: „Ich bin Aramar. Einst war ich bekannt in ganz Centratur. Man nennt mich auch den Blauen Alten. An Euren Augen sehe ich, dass Euch diese Namen nichts mehr sagen. Meine Zeit in diesem Land ist wohl vorüber, und dennoch muss ich hierbleiben und meiner Aufgabe nachgehen. Ich weiß, ich spreche in Rätseln. Das ist nun einmal meine Art. Doch nun erzählt, wer Ihr seid."

„Ich heiße Galowyn, und ich bin bekannt in ganz Centratur. Es gibt wohl keinen bedeutenden Ort, an dem ich noch nicht aufgetreten bin. Überall rühmt man meine Kunst."

„Galowyn, das ist ein Achajername. Was habt Ihr mit diesem Volk zu tun?"

„Mit den Achajer kann man nichts zu tun haben, denn es gibt sie nur in der Sage. Den Namen habe ich in einem Lied gehört. Er hat mir gefallen, deshalb habe ich ihn angenommen. Ich finde, er passt recht gut zu mir."

„Es ist ein schöner Name. Einst kannte ich seine Trägerin. Bei Gelegenheit erzähle ich Euch ihre Geschichte. Und wer seid Ihr?" Der alte Mann sprach nun die zweite Frau an. Damit aber war Galowyn nicht zufrieden.

„So wartet doch. Ich habe Euch noch kaum etwas von mir erzählt. Glaubt Ihr nicht, dass ich erheblich interessanter bin, als die da?"

„Oh“, entgegnete ihr Aramar, „von Euch weiß ich für den Augenblick genug."

Damit wandte er sich wieder an die Dienerin und fragte: „Wie heißt Ihr?"

„Smyrna."

„Wo kommt Ihr her, und was ist Euer Beruf?"

„Sie hat keinen Beruf. Sie ist meine Dienerin und kommt aus Strawen. Es liegt im Norden."

Noch immer geduldig lächelnd sagte der Zauberer: „Ich weiß, wo Strawen liegt. Wie freundlich von Euch, dass ihr für das Mädchen antwortet. Versteht sie unsere Sprache nicht, oder hat sie gar Schwierigkeiten mit dem Sprechen?"

„Ich kann ganz normal reden, wie andere Leute auch“, fiel Smyrna empört ein. „Sie lässt mich nur nie zu Wort kommen, und ihre Dienerin bin ich schon lange nicht mehr, weil sie mich nicht bezahlen kann."

„Musst du mich hier vor den Fremden so bloßstellen!" zischte die Sängerin.

„Wer hat hier wen bloßgestellt? Tatsache ist, dass ich nicht deine Bedienstete bin und auch nie mehr sein werde."

„Du wirst noch auf den Knien bei mir angerutscht kommen und um eine Stellung winseln."

„Hört auf! Ich schätze zwar Gespräche am Lagerfeuer, aber nicht die Euren." Aramar war nun wütend. „Wie ist Euer Name?" fragte er Fallsta.

Dieser gab ihm Auskunft und berichtete, dass er von den Galatzbergen komme.

„Wer war Euer Vater?"

„Mein Vater war Fallsta der Ältere. Er siedelte in den nördlichen Busterbergen und ging dort dem ehrbaren Beruf eines Goldwäschers nach."

„Von Erfolg waren seine Bemühungen scheinbar nicht gekrönt."

„Es kommt nicht auf den Erfolg an, sondern darauf, dass man seine Arbeit ordentlich und mit all seinen zu Gebote stehenden Fähigkeiten erledigt. Unter diesem Gesichtspunkt war mein Vater sehr erfolgreich."

„Und was ist Euer Beruf?"

„Der gleiche wie der meines Vaters."

„Und, haben sich Eure Mühen gelohnt?"

„Auch ich war erfolgreich."

Nun blieb nur noch Urial für Aramars Befragung. Doch der war wortkarg und gab zu verstehen, dass er keine Auskünfte geben wolle.

„Dann habt Ihr also etwas zu verbergen?" fragte der Zauberer scharf.

„Nicht mehr als Ihr."

„Wenn man die Nacht zusammen verbringen will, muss man in diesen Zeiten wissen, mit wem man es zu tun hat." Aramar bohrte weiter.

„Nun gut. Ich heiße Urial, Usedors Sohn, und komme aus Nowogoro. Genügt Euch das?"

Als der Name Nowogoro fiel, betrachtete der Zauberer seinen Gegenüber genauer.

„Nowogoro? Was hattet Ihr dort zu schaffen?"

„Das geht Euch nichts an."

„Ich war auch einmal in diesem Kloster. Oder ist es heute kein Kloster mehr?"

„Es ist eine Stadt mit einem Kloster."

„Habt Ihr das Kloster betreten?"

„Kann schon sein."

„Wer ist heute dort der Herr?"

„Meister Fraam."

„So, Meister Fraam."

Der Ton in Aramars Stimme ließ Urial aufhorchen.

„Kennt Ihr ihn?"

„Kann schon sein."

Nun mischte sich der Zwerg ein.

„Ihr schleicht beide mit Worten umeinander herum wie Löwe und Tiger. Jeder wartet auf die Heimtücke des anderen, um sie zu parieren. Wollt Ihr nicht besser offen miteinander reden?"

„Ich wüsste nicht, was es da zu reden gäbe." Urial war nicht bereit einzulenken.

„Soll ich Euch ein Lied in dieser traurigen Nacht singen? Das wird vielleicht Eure Stimmung heben?" Auch Galowyn wollte nun vermitteln.

„Nun gut“, Aramar gab nach und hob lächelnd die Schultern, „dann werden wir eben Fremde bleiben."

Sie teilten die Wachen neu ein und legten sich zum Schlafen nieder, während das Feuer langsam niederbrannte.


Der nächste Tag war schön und klar. Sogar die Sonne ließ sich sehen und wärmte die frierenden Menschen. Das prächtige Wetter heiterte auch die Gemüter auf. In dem Fichtenwald, der sich links der Straße hinzog, fielen noch dicke Tropfen von den Zweigen. Die weite Ebene auf der rechten Seite dampfte, und der Dunst verhüllte die Wildnis aus Sträuchern und Steinen.

Niemand war verwundert, als sich die beiden nächtlichen Besucher ganz selbstverständlich der Reisegesellschaft anschlossen. Es gab auch keine Proteste dagegen. Aramar und Glaxca banden ihre Pferde hinten an den Wagen und liefen hinterher. Bald saß Urial allein auf dem Kutschbock, denn die beiden Frauen und der Goldgräber umringten neugierig die neuen Genossen. Da wurde so manches erzählt und Klatsch und Tratsch ausgetauscht. Von Königen und Fürsten war die Rede. Auch die Pausen wurden angenehmer, denn in den Satteltaschen der Pferde befanden sich ausreichend Vorräte, die bereitwillig ausgeteilt wurden. So gab es wieder ordentlich zu essen, was besonders die Stimmung von Galowyn hob.

Auch am zweiten Tag der Reise sprachen die beiden Zauberer kaum ein Wort miteinander. Sie gingen sich aus dem Weg. Es war deutlich, dass sie nicht viel Sympathie für einander empfanden. Aber den Frauen hatte es Aramar angetan. Sie blieben an seiner Seite und fragten ihn aus, während sich der Goldgräber und der Zwerg über die Tücken von Bergwerken unterhielten. Auch der alte Mann fasste Vertrauen und bald erzählte man sich, was einem gerade so in den Sinn kam. So manches Geheimnis wurde ausgetauscht und Aramar musste schmunzeln, wenn Galowyn von Männern sprach, die sie früher getroffen oder mit denen sie sogar zusammengelebt hatte. Es gelang ihr, diese Liebhaber auf so treffende Weise nachzumachen, dass sie den Zuhörern plastisch vor Augen standen. Von Tag zu Tag kamen der Zauberer und die Frauen sich näher, und auch der alte Mann erzählte schließlich von sich und sogar Geschichten aus seiner Jugend.[i]


Diese Gespräche stellten sie jedoch ein, als es wieder zu regnen begann. Ein eisiger Wind blies ihnen die Nässe ins Gesicht. Der Himmel war so mit Wolken verhangen, dass es selbst am Tag nicht mehr richtig hell wurde. Bei diesem Wetter redete jeder nur das Nötigste, und alle liefen frierend und müde und hofften auf eine warme Unterkunft. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen, und so war es nicht verwunderlich, dass ihnen die Soldaten erst auffielen, als sie ihre Pferde neben Urials Wagen zügelten. Es waren Männer aus Strawen. Sie trugen den roten Kreis auf schwarzem Grund auf ihrer Brust. Aramar erkannte in diesem Zeichen das Wappen von Ormor und erbleichte. Die Männer der Reisegesellschaft tasteten nach ihren Waffen, und die Frauen sahen sich nach Fluchtmöglichkeiten um. Doch zum Kampf sollte es nicht kommen. Der Anführer des Trupps befahl lediglich mit barscher Stimme, die Gruppe solle die Straße räumen. Man werde in den nächsten Tagen zurückkommen und wolle dann niemanden mehr antreffen. Dann gaben die Soldaten ihren Pferden die Sporen und trabten weiter durch den Regen nach Süden.

Als sie wieder allein waren, versammelten sich alle zur Beratung. Wie sollte man sich verhalten, und wie ernst war die Drohung gemeint?

„Ich fahre weiter“, erklärte Urial bestimmt. „Von diesem Pack lasse ich mich nicht aufhalten.“

„Auch ich sehe keinen Grund, die Alte Südstraße zu verlassen“, fügte Aramar hinzu. „Nur auf ihr kommen wir rasch durch diese öde Gegend nach Equan.“

Allen war klar, dass mit den Soldaten aus Strawen nicht zu spaßen war. Dennoch setzten sie den freudlosen Marsch fort. Am Abend gelang es ihnen, im Schutz eines Felsblocks ein Feuer zu entzünden. Sie rösteten gerade ein wenig von dem ausgetrockneten Brot, da bekamen sie noch einmal Gesellschaft. Zuerst hörten sie das Schreien eines Säuglings und eine Männerstimme, die flüsternd um Ruhe bat. Die Gegend sei gefährlich und das Kind werde Räuber und Mörder auf sie aufmerksam machen. Dann keifte eine Frau, er, der Mann, sei an allem schuld. Er habe sie bei diesem Wetter in die Einöde geführt. Er trage die Verantwortung für alle Krankheiten, die sie höchstwahrscheinlich bekämen.

Glaxca stand im Regen Wache, die anderen saßen unter der Plane des Wagens. Sie sahen sich an und schmunzelten.

„Vorsicht“, mahnte der Goldgräber. „Dies kann auch eine List von Feinden sein.“

„Ich glaube nicht“, sagte Aramar und erhob sich. Er trat aus dem Lichtschein und lief den Streitenden entgegen. Als er kurze Zeit später zurückkam, war er in Begleitung einer ganzen Familie. Die Frau war noch jung und trug auf den Armen ein schreiendes Mädchen, der Mann hatte schon graue Haare und zog einen Leiterwagen hinter sich her. Darauf lag noch ein Kind, das aber schlief.

Es waren Bauersleute, wie sich herausstellte, die einen Hof in einem Tal des Thaurgebirges gehabt hatten. Räuber waren gekommen und hatten ihn angezündet. Zwar konnte sich die Familie rechtzeitig verstecken und ihr Leben retten, aber sie verlor all ihre Habe. Nun waren sie auf dem Weg nach Westen. Dort hatte der Mann Verwandte, und dort hofften sie unterzukommen.

Die Frau war mit diesem Plan überhaupt nicht einverstanden. Sie hatte bleiben und den Hof wiederaufbauen wollen. Erst durch die Flucht, so klagte sie, hätten sie wirklich alles verloren. Nun seien sie bettelarm. Und weil sie am Klagen war, fuhr sie gleich fort und fragte, warum sie überhaupt geheiratet und zwei Bälger bekommen habe? Da wäre sie doch besser Magd geblieben. Nun habe sie einen alten Mann und seine Kinder am Hals, aber keinerlei Besitz. Der Bauer versuchte sie zu beruhigen, aber die ganze Nacht hindurch ging der Streit weiter, und alle in der Reisegruppe waren froh, als die Familie am nächsten Tag weiterzog.

Durch den Regen war die Alte Südstraße so aufgeweicht, dass die Räder des Wagens immer häufiger tief einsanken. Das Maultier kam dann nicht weiter, und alle mussten in die Speichen greifen, um das Gefährt wieder flott zu machen. Sie waren durchnässt und mit Schlamm beschmiert, als ihnen eine Karawane gegen Nachmittag aus Süden entgegenkam. Voraus ritten Soldaten und ihr Befehlshaber, der sie am Vortag von der Straße gescheucht hatte. Dann folgte eine Sänfte, die zwischen vier Pferden hing, dahinter liefen Diener mit großen Gepäckstücken auf den Schultern, und endlich kamen wieder Soldaten als Nachhut. Die Sänfte war prächtig geschmückt. Sogar den Pferden hatte man Federbüschel an ihre Halfter gesteckt, die nun allerdings schlaff und nass herunterhingen. Doch der Glanz war sogar in diesem Unwetter noch sichtbar.

„Jetzt gibt es Ärger“, murmelte der Zauberer.

Tatsächlich trabte der Anführer der Soldaten sogleich auf sie zu. Er hatte seine Lanze gesenkt und fragte mit kalter Stimme, was sie hier noch zu suchen hätten. Urial trat vor, stellte sich hoch erhobenes Hauptes vor das Pferd und rief, er habe das Recht diese Straße zu benutzen. Nun eilten die anderen Soldaten auch herbei. Waffen wurden auf beiden Seiten gezogen, und in der Sänfte der Vorhang ein wenig beiseitegeschoben. Neugierige Augen beobachteten das Geschehen. Worte flogen hin und her. Der Kampf würde gleich beginnen. In diesem Augenblick wurde die Klappe der Sänfte weit geöffnet, eine gebieterische Stimme gebot Einhalt und dann wälzte sich ein ungeheuer dicker Mann heraus. Er sprang ächzend auf den durchweichten Boden und ging auf die sich gegenüberstehenden Gegner. Diese hatten innegehalten und verfolgten das Schauspiel. Der Mann war bunt gekleidet, trug kostbare Pelze und teure Tuche. Seine Füße steckten in weißen Schuhen, die sofort vom Schlamm beschmutzt wurden. Ohne zu zögern durchquerte der Koloss die feindliche Linie und achtete nicht auf die gezogenen Schwerter in den Händen der Gegner.

Geradewegs schritt er auf die Frauen zu und rief mit Donnerstimme: „Galowyn, meine Liebe! Wie schön, dass ich dich treffe.“

Nachdem die Sängerin ihr Erstaunen überwunden hatte, tat sie einen Schrei und flog in die Arme des seltsamen Mannes.

„Orasnika, was tust du hier?“

Er hielt sie mit beiden Händen an der Taille und schob sie ein wenig von sich, um sie besser betrachten zu können. Der Frau klebten die Kleider am Körper und die Haare am Kopf. Hände und Gesicht waren mit Dreck beschmiert. Sie sah heruntergekommen und müde aus. Der Mann vor ihr, glänzend und frisch, rief nun mit seiner Donnerstimme: „Galowyn, warum hast du mich damals verlassen?“

„Ach, du Dummer, das ist doch schon viele Jahre her.“

„Ich habe dich niemals vergessen.“

„Auch ich habe oft an dich gedacht.“

Er nahm sie in die Arme, und seine prachtvollen Kleider wurden durch die ihren nass und schmutzig. Es kümmerte ihn nicht. Nach wiederholten Begrüßungsworten und Umarmungen mischte sich Aramar ein: „Es ist immer schön, wenn sich alte Freunde treffen. Aber wir stehen hier im Regen und wissen nicht, ob wir uns nun gegenseitig umbringen sollen. Könntet Ihr uns wenigstens diesbezüglich einen Hinweis geben?“

Da wandte sich der Koloss um, ohne die Sängerin loszulassen, und gab den Soldaten einen herrischen Wink. Auf Befehl von Orasnika wurden Zelte aufgestellt und Wein und köstliche Speisen ausgepackt. Schließlich saßen alle auf Feldstühlen, während ihr Gastgeber auf einer Truhe Platz genommen hatte. Sein Bauch quoll zwischen seine Oberschenkel. In den riesigen Pranken hielt er ein Hühnerbein und nagte daran. Um Zelt, Wagen und Sänfte hatten die Soldaten einen Kordon gezogen. Sie saßen im Regen auf ihren Pferden und bewachten aufmerksam die Straße.

„Ich frage dich noch einmal, geliebte Galowyn, warum bist du damals von mir gegangen?“ Orasnika kaute auf beiden Backen und ein wenig Fett lief ihm aus den Mundwinkeln.

„Wie schade, dass du dich nicht mehr erinnerst, Orasnika! Du hattest damals zwei neue Freundinnen und sagtest voller Liebe, ich solle verschwinden und dir nicht länger die Haare vom Kopf fressen. Nun, da bin ich gegangen.“

„Man sagt so viel und meint es nicht so. Wer wird denn jedes Wort auf die Goldwaage legen! Wir waren doch beide vertraut, und ich wollte dich ein wenig necken. Nie hätte ich geglaubt, dass du tatsächlich gehst. Du warst meine große Liebe.“

Aramar, dessen Geduld mehr als erschöpft war, mischte sich ein: „Wohin seid Ihr unterwegs?“

„Oh, in Geschäften! In wichtigen Geschäften!“

„Und wohin führen Euch diese Geschäfte?“

„Nach Norden! Weit nach Norden!“

Als sich Stille im Zelt ausbreitete und Orasnika merkte, dass seine Gäste ihn sehr seltsam ansahen, sagte er mit veränderter Stimme: „Warum soll ich es Euch nicht sagen! Es ist schließlich kein Geheimnis. Wir reisen zum Zauberkönig. Ormor hat mich rufen lassen, um mit mir Geschäfte zu machen. Deshalb hat er mir auch eine Eskorte geschickt. Ihr müsst wissen, dass man bei mir die besten Waffen Centraturs bekommt. Ich liefere nur Qualität. Die allerdings hat ihren Preis.“

„Wozu braucht Ormor so viele Waffen?“

„Was weiß ich? Es ist mir auch gleichgültig. Kümmert sich der Müller darum, ob Kuchen oder Brot mit seinem Mehl gebacken werden?“

„Mehl ist zum Töten ungeeignet“, sagte Fallsta rasch.

„Da habt Ihr Recht! Das ist gut! Diesen Scherz muss ich mir merken!“ Der fette Mann lachte und prustete und spuckte ein wenig von dem Hühnerbein im Zelt herum.

Dann kam der Aufbruch und Orasnika sagte bedauernd zu der Sängerin: „Ich kann dich leider nicht mitnehmen, meine Liebe. Aber wir werden uns wiedersehen, denn wir sind für einander bestimmt.“

Sie umarmten sich erneut, und dann ließ sich der Waffenhändler zurück in seine Sänfte heben. Kurz darauf verschwand die Kavalkade im Galopp.

„Wir hätten ihn töten sollen“, sagte der Zwerg.

„Was hätte es genutzt? Es gibt genug von dieser Sorte, die sofort an seine Stelle treten. Aber uns hätte man durch den ganzen Kontinent gejagt“, wiegelte Aramar ab.

Axylia


Am Morgen des folgenden Tages erklärte Aramar: „Bald sind wir in Olifo. Eine kleine Stadt mit großer Vergangenheit. In den alten Zeiten, als das Paradland noch dicht besiedelt war, wurde dort jede Woche Markt abgehalten. Menschen kamen mit hoch beladenen Wagen. Sie brachten Gemüse, Früchte und Getreide. Paradland war einst die fruchtbarste Gegend in Centratur. Aber Olifo war auch das Ziel für Händler aus allen Landen. Sie kamen mit Fellen, Waffen und sogar Gold und Edelsteinen. Auf dem Markt wurden die Güter getauscht, und jeder machte seinen Gewinn.

So ein Markt zieht aber auch finstere Gestalten an, die rasch reich werden wollen und dies ohne Arbeit. Deshalb werden solche Märkte in der Regel nach ein paar Jahren uninteressant für ehrliche Kaufleute. Sie sind sich dort ihrer Habe und sogar ihres Lebens nicht mehr sicher, müssen immer mehr Geld für ihren Schutz aufwenden und ziehen es vor, an anderen Orten ihren Geschäften nachzugehen. Wenn sie wegbleiben, so beherrschen Banditen, Hehler und Huren das Feld. Dann wird das Landvolk ausgenommen und um den Lohn seiner mühsamen Arbeit gebracht. Die Leute in Paradland wussten um diese Gefahr und hatten vorgebeugt. Eine Miliz kontrollierte den Markt und natürlich auch alle Straßen von und nach Olifo. Sie galt als sehr streng und strafte drakonisch jeden Gesetzesbruch. Wenn jemand mit falschen Gewichten betrog, so kam er ins Gefängnis. Bei schweren Vergehen wurde gezüchtigt und sogar mit dem Tod bestraft. So herrschte Ruhe und Frieden, und der Wohlstand mehrte sich.

Aber der Reichtum des Paradland ließ mit den Jahren auch Mächtige aufmerksam und begehrlich werden. Sie schreckte die Miliz und ihre Prügelstrafen nicht. Und doch mussten auch sie sich zurückhalten, denn die großen Könige hatten ein Auge auf diese Gegend. Sie war ihre Kornkammer, und wurde von ihnen geliebt. Die Händler, die aus aller Welt nach Olifo kamen, waren ihnen willkommen. Deshalb hielten sie ihre Hand über das Land und ließen von ihren Truppen die Grenzen bewachen. Die Grenzen waren im Osten und Norden die Berge, im Westen der Goldfluss und im Süden die Is und das Meer.

Unter so mächtigem Schutz gedieh dieses Land westlich des Thaurgebirges von Jahr zu Jahr prächtiger, und auf der Südstraße, über deren Überreste wir gerade wandern, drängten sich die Reisenden. Niemand konnte unkontrolliert eindringen. Schon in der Grenzstadt Rudia und im Hafen Rufa wurde jeder überprüft. Keiner, der irgendwie verdächtig schien, wurde ins Paradland hineingelassen. Es gibt ein Gerücht, dass sogar Achajer ab und an abgewiesen worden sein sollen. Man war streng und machte sich dadurch natürlich auch viele Feinde.

Als dann die Macht der Könige nach den schrecklichen Kriegen mit Ormor zerbröckelte, war es um den Schutz von Paradland geschehen. Von überall strömten nun Banditen zusammen, und die Mächtigen, die sich so lange hatten zurückhalten müssen, marschierten mit ihren Truppen ein. Da wurde geplündert und gebrandschatzt. Die Bauern folterte man, um ihnen das Versteck ihrer Schätze abzupressen. Die Frauen wurden vergewaltigt, und die Kinder abgeschlachtet.

Als die Heimsuchungen endlich aufgehört hatten, war Paradland entvölkert und verwüstet. Weite Landstriche waren nur noch öde und ohne Leben. Auf den einst so fruchtbaren Feldern wuchs nichts mehr. Die Straßen verkamen zu Wegen, und die Städte verfielen zu unbedeutenden Orten, deren Bewohner sich nur unter großen Mühen über die Winter brachten. So vergingen der Ruhm und der Glanz von Paradland. Olifo werden wir morgen erreichen. Ich bin sicher, von euch ist noch keiner dort gewesen. Und auch ich weiß nicht, wie es heute dort aussieht."


Schon von weitem sahen sie Rauch aus den Schornsteinen des Städtchens quellen. Die Mauern, die einst die Stadt und den Markt geschützt hatten, waren eingefallen und geschleift, doch boten ihre Reste den Häusern noch immer Windschutz. Ein abgetragener Turm ragte als Stumpf in den Himmel. Trotz allem machte der Ort einen sicheren Eindruck. Alle freuten sich auf eine Unterkunft und eine ruhige Nacht. Doch bevor sie in der Stadt Einzug halten konnten, mussten sie an mächtigen Galgen vorbei. Zwei Männer und eine Frau hingen dort. Sie hatten verzerrte Gesichter, eine blaue Zunge quoll ihnen aus dem Mund. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden und die Beine seltsam verkrampft. Man hatte sie lange am Strick tanzen lassen, bevor sie erstickt waren. Niemand hatte sich ihrer erbarmt und sich an ihre Füße gehängt. Es war klar, die Bewohner wollten Gesindel abschrecken und hatten Exempel statuiert.

Es dämmerte bereits, als der Wagen zwischen den Häusern zum Halten kam. Diese waren zwei- und dreistöckig und ragten mit ihren Giebeln so weit in die Straße vor, dass zwischen ihnen kaum noch etwas vom Himmel zu sehen war. Männer mit Spießen und grimmigen Gesichtern traten auf die Straße. Sie fragten nach dem Begehr der Reisenden, und Aramar erklärte, dass sie nach Whyten wollten und ein Quartier für die Nacht suchten.

Quartiere gäbe es in der Stadt nicht mehr, wurde ihm geantwortet, und es wäre für alle besser, wenn sie weiterzögen.

Dies wolle man gerne tun, stimmte der Zauberer zu, aber nicht mehr in dieser Nacht. Dann kümmerte er sich nicht weiter um die Wachen und ihre Waffen, sondern ging an ihnen vorbei, und die anderen folgten ihm, nachdem sie den Wagen abgestellt und die Tiere versorgt hatten. Obwohl die Nacht noch nicht hereingebrochen war, konnte man auf der Straße kaum etwas erkennen. Es roch nach Abfällen, Kot und Urin. Wenn man nicht aufpasste, stolperte man über Hühner, die im Dreck der Straße scharrten und gackernd durch offene Fenster in die Häuser flogen. Schweine versperrten den Weg. Sie wühlten mit ihren Rüsseln in den Abfällen, die aus den Häusern einfach auf die Straße geworfen worden waren. In diesem Augenblick leerte gerade eine Frau einen Eimer mit schmutziger Brühe in die Gosse und bespritzte die Sängerin. Die protestierte lautstark, aber niemand kümmerte sich darum. Achtlos wurde die Tür wieder geschlossen.

„Ich muss einen Besuch machen“, sagte Aramar. „Ihr wartet hier!"

„Warum sollen wir hier warten?" meldete sich Urial zu Wort. „Habt Ihr nicht von Vertrauen gesprochen und dass Reisende untereinander keine Geheimnisse haben dürfen? Ihr nehmt Euch das Recht heraus, einfach zu verschwinden, und wir sollen uns damit abfinden!"

Aramar schaute ihn in dem Zwielicht lange an. Er versuchte etwas zu erkennen, was seine Augen nicht sahen. Dann gab er nach.

„Es ist gut. Ihr könnt alle mit mir kommen. Ich suche eine alte Frau und weiß nicht einmal, ob sie noch lebt."

Gemeinsam gingen sie weiter, bis er plötzlich stehen blieb. Das Haus lag am Ende der Straße und stand ein wenig frei. Es gab sogar Platz für einen kleinen Vorgarten. Früher mussten hier reiche Leuten gewohnt haben, aber nun war das Anwesen zerfallen. Die oberen Stockwerke fehlten, und nur noch das Fachwerk ragte wie ein Gerippe in die Luft. Der Zauberer pochte gegen das schwarze Holz. Es dauerte eine Weile bis der eiserne Riegel zurückgeschoben und die Tür einen Spalt geöffnet wurde. Ein kleiner Kopf mit weißem, schütterem Haar wurde sichtbar, und eine dünne Greisenstimme fragte: „Wer ist da? Was ist Euer Begehr?"

„Aramar ist hier, Axylia. Der, den man auch den Blauen Alten nennt. Ich bin gekommen, um dir meine Aufwartung zu machen."

Niemand sagte etwas, nichts bewegte sich. Dann flog mit einem Knall die Tür auf, und ein kleines, altes Weibchen stürmte heraus und fiel dem Zauberer um den Hals.

„Wie freue ich mich, dass du da bist! Deine Rückkehr ist die beste Überraschung, die diese trostlose Stadt seit langem erlebt hat. Komm herein, komm herein! Aber wen hast du denn da mitgebracht? Ich sehe, du reist mit großem Gefolge."

Drinnen war es eng, aber wohlig warm. In der Esse brannte ein kleines Feuer. Der Raum war spärlich eingerichtet und so niedrig, dass alle Männer außer dem Zwerg die Köpfe einziehen mussten. Die Frau holte zwei geschnitzte Stühle aus dem Nebenraum, dann hatten alle einen Platz gefunden.

„Nun erzähl aber“, sagte sie. „Wo kommt ihr her, und wo geht ihr hin?"

Zuerst stellte Aramar jeden der Reisegesellschaft vor. Nur bei Urial stockte er, nannte dann jedoch dessen Namen und Beruf.

„Ein Zauberer, und sogar einer, der heilen kann?" fragte die alte Frau interessiert. „Das ist gut. Auch ich habe mich ein wenig mit der Heilkunde beschäftigt. Vielleicht können wir später einige Erfahrungen austauschen?"

„Ich glaube nicht, dass wir dazu Zeit finden werden. Im Übrigen habe ich die Heilkunde studiert und bin von meinen Oberen geprüft worden. Welche Erfahrungen hätte ich mit einem Kräuterweiblein auszutauschen?" wurde ihr barsch von Urial beschieden.

Unterdessen hatte Axylia einen großen, eisernen Topf über das offene Feuer in der Esse gehängt. Ihn füllte sie mit Wasser aus einem Eimer und schüttete, als es kochte, zerstampfte Hirse und Weizen hinein. Dann holte sie aus der Speisekammer ein Säckchen mit getrockneten Kräutern und würzte den Brei sorgfältig. Während er kochte, rührte sie ihn beständig mit einem langen hölzernen Löffel um. Schließlich servierte sie die dampfende Köstlichkeit auf Holztellern. Jeder zog seinen Löffel aus der Tasche, und dann wurde eine Weile nichts mehr geredet.

„Wo können wir schlafen?" fragte Aramar endlich. „Gibt es hier ein Gasthaus?"

„Die Zeiten, wo hier Fremde übernachtet haben, sind schon lange vorbei. Früher gab es hier eine Herberge neben der anderen. Heute sehen wir Fremde lieber von hinten, und beherbergen tun wir sie schon gar nicht. Wenn ihr also in dieser Stadt bleiben wollt, müsst ihr als Bett mit dem Boden dieser Stube vorliebnehmen."

Sie holte aus der Speisekammer einen bauchigen Krug und schenkte jedem einen tüchtigen Schluck Wein in einen Holzbecher.

„Wenn ihr Wasser dazu tun wollt, dort steht der Eimer."

Alle lehnten dankend ab und schlürften langsam das starke Getränk. Jedem wurde noch einmal nachgeschenkt.

„Wovon leben die Leute hier?" fragte Fallsta.

„Das ist eine gute Frage. Auf jeden Fall sind die Zeiten des Reichtums lange vorbei. Auf den einst so fruchtbaren Feldern wächst heute kaum noch etwas. Der Boden ist so getränkt mit Blut und Tränen, dass dort keine Pflanzen gedeihen. Nur hartes Gras und dornige Büsche können überleben. Davon ernähren sich Schafe. Aber auch sie werden nicht fett. Die Wolle verkaufen die Leute nach Norden und über die Berge nach Osten. Auf diesen Reisen sind sie lange unterwegs. Sie nehmen auch Besen und Körbe mit, die von einigen Familien gebunden und geflochten werden. Der Erlös ist kärglich und lohnt kaum die Mühe der weiten Fahrten. Aber was soll man machen? Von irgendetwas muss man in Olifo leben. Was ist nur aus der einst blühenden Stadt geworden?"

„Ich habe aber ein Haus gesehen, das gut bestellt war“, ließ sich Urial vernehmen.

„Oh, Ihr meint sicher das Anwesen von Blanschier. Ja, ihm geht es gut, obwohl er weder Schafe züchtet, noch Besen bindet. Oder vielleicht gerade deswegen! Ich weiß jedenfalls nicht, womit er sein Brot verdient. Ich sehe manchmal in der Nacht dunkle Gestalten in sein Haus schleichen. Dann macht er sich selbst auf den Weg und wird wochenlang nicht mehr gesehen."

„Weiß jemand, in welchen Geschäften er unterwegs ist?"

„Ich habe keine Ahnung."

„Wie kommt es“, ließ sich der schweigsame Zwerg vernehmen, „dass Ihr heute noch lebt, die Ihr vor langer Zeit die blühende Stadt gesehen habt?"

„Ihr müsst nicht glauben, dass dieses lange Leben eine Freude für mich ist, Herr Zwerg. Aber es wäre eine ausführliche Geschichte, und ich will Eure Begleiter damit nicht langweilen. Aramar kennt sie."

„Die Gefahr dieser Langweile würde ich gerne eingehen“, fiel Fallsta ein.

„Oh ja, erzählt“, bettelte nun auch Galowyn.

„Ich weiß doch gar nicht, wo ich anfangen soll“, meinte Axylia verlegen.

„Erzähle von deiner Kindheit, und wie wir uns kennen gelernt haben." Aramar versuchte ihr zu helfen.

„Es ist lange her, doch erinnere ich mich an meine Kindheit besser, als an so manches Jahrhundert danach. Ich war ein kleines Mädchen, hatte schwarze Haare und trug ein buntes Kleid. Obwohl der Raum in der Stadt eng und teuer war, war unser Haus von einem Garten umgeben, und dort blühten so viele Blumen, dass ich sie gar nicht aufzählen kann. Auch ein kleiner Brunnen plätscherte Tag und Nacht. Wir hatten einen eigenen Gärtner. Selbst ich als Kind bewohnte eine eigene kleine Kammer. Mein Vater galt als reich. Unser Haus war groß. Über seine drei Stockwerke ragte noch ein hoher Giebel. Dort wurden die Waren gelagert, mit denen mein Vater Handel trieb. Sie wurden außen mit Seilen hochgezogen. Zwei Männer führten genau Buch über das, was hereinkam, und das, was hinausging. Meine Mutter war eine freundliche, gutherzige Frau. Mit sanfter Hand führte sie ganz allein den großen Hausstand, denn mein Vater hatte dafür wenig Zeit, und jeder war zufrieden.

In der Stadt war pulsierendes Leben in solcher Fülle, dass man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. In vierzehn Gasthöfen drängten sich Fremde. Überall wurden Geschäfte gemacht. In der Mitte der Stadt war ein großer freier Platz. In seinem Zentrum stand eine Linde. Er war die Quelle allen Wohlstandes. Man nannte ihn nur 'Der Markt'. Zweimal in der Woche durften dort Stände aufgebaut und Buden aufgeschlagen werden. Dann wurde gehandelt und gefeilscht. Aber auch in der übrigen Woche traf man sich in den Gaststuben und Kontors und kaufte und verkaufte.

Über die Stadt wachten die Hüter. Sie waren die einzigen, die Waffen tragen durften, und sie waren überall. Sie kontrollierten die Gewichte der Händler, patrouillierten nachts auf den Straßen und hielten Mauern und Tore besetzt. Wenn es über einen Vertrag Streitigkeiten gab, so wandte man sich an sie, und niemand wagte ihnen zu widersprechen. Sie waren hart, aber gerecht. Vor ihrem Gericht erscheinen zu müssen, galt als schlimmes Schicksal. Schon den Kindern wurde gedroht, man werde sie vor die Hüter bringen, wenn sie nicht artig wären. Der Herr aller Hüter hieß Argonat. Er war der beste Freund meines Vaters. Ich war ihm schon als Kind versprochen worden.

Natürlich wusste ich, dass ich eines Tages Argonat heiraten würde, und ich war stolz darauf. Jede Frau der Stadt hätte sich ihm mit Freuden und ohne zu zögern hingegeben. Er dürfte in der Tat auch so manches Mal schwach geworden sein. Ich erinnere mich heute an einige Einzelheiten, die ich als Kind nicht deuten konnte. Damals aber war ich der festen Meinung, er würde nur auf mich warten. Argonat war zu mir zuvorkommend und behandelte das vierzehnjährige Mädchen wie eine Dame. Jeder in der Stadt wusste um meine Zukunft und ging mit ausgesuchter Höflichkeit mit mir um. Manche der Bürger waren beinahe devot zu mir. Dies war für ein junges Ding natürlich etwas zu viel der Ehre. Ich wurde schnippisch und hochnäsig. Wenn mein Vater dies bemerkte, wies es mich scharf zurecht. Aber die Mutter beruhigte ihn dann und meinte, dies würde sich schon wiedergeben, es sei natürlich. Vor dem Einschlafen dachte ich stets an den Herrn der Hüter. Geträumt aber habe ich von Mirx, dem Jungen, der am Ende der Straße wohnte.

So wurde ich fünfzehn und dann sechzehn Jahre alt. An meinem achtzehnten Geburtstag sollte Hochzeit sein. Zuvor begannen jedoch die dunklen Jahre. Wir wussten damals nur noch nicht, dass es der Anfang vom Ende war. Als wir hörten, dass die Wachen von unseren Grenzen abgezogen worden waren, beunruhigte uns dies nicht weiter. Wir forschten auch nicht nach den Ursachen. Zu lange schon war uns Friede und Wohlstand geschenkt gewesen. Die Vorstellung, dass uns eine Gefahr drohen könnte, war uns mit den Jahren fremd geworden.

Doch Argonat war ein vorsichtiger Mann. Er sammelte seine Hüter um sich und machte sich zu den Grenzen auf, um dort seine Leute zu postieren. Er ließ nur eine kleine Schar als Wache zurück und wollte selbst in wenigen Wochen wiederkommen. So nahm der Alltag seinen Lauf, und alles ging seinen gewohnten Gang. Nur für mich traf dies nicht zu. Ich hatte mich schließlich um meinen kommenden Gemahl zu sorgen. Deshalb wandelte ich jeden Tag um die Mittagszeit zur Stadtmauer und stieg auf den höchsten Turm. Dort stand ich, eine hohe, schlanke Gestalt im weißen Kleid, das im Wind flatterte, und sah versonnen in die Ferne. In der Stadt wurde überall über mich und meine Treue geredet. Um die Mittagsstunde sah man auf den Turm, und man sah mich.

So vergingen die Tage und die Wochen, und niemand wurde unruhig. Nur erregte ich bald kein Aufsehen mehr, und die Gänge zum Turm wurden mir lästig. Zu Hause war ich von Fürsorge und Verständnis umgeben. Man nahm Rücksicht auf mich und meine Sorge. So mancher gute Bissen wurde mir zugesteckt, und alle versuchten, mich aufzuheitern und redeten mit mir nur über schöne Dinge.

Dann endlich begann man sich in der Stadt doch Sorgen zu machen. Dunkle Gestalten waren in unseren Mauern aufgetaucht, und niemand war da, der sie aus der Stadt hätte weisen können. Zwei der zurückgelassenen Wachen fand man eines Morgens mit durchschnittenen Kehlen, und ein Dritter wurde abgestochen, als er eine Rauferei schlichten wollte. Der Vierte ward nicht mehr gesehen, und man wusste nicht, ob auch er ermordet oder nur geflohen war. Im elterlichen Haus herrschte nun Trübsinn und Sorge. Vater war gereizt, und beim Essen wurde kaum noch ein Wort gesprochen. Schlimme Nächte begannen. Wilde Horden zogen nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen, warfen Fensterscheiben ein und verprügelten Bürger. Doch das genügte ihnen bald nicht mehr. Sie begannen, Türen aufzubrechen, schlugen die Menschen nieder und plünderten die Häuser. Und da war niemand, der ihnen hätte Einhalt gebieten können. Von Tag zu Tag wurden die Schurken zahlreicher, und das Leben in der Stadt unerträglicher. Bald konnte man sich auch am Tag nicht mehr auf die Straße wagen.


Vater trug nun Waffen und hatte alle seine Knechte im Haus versammelt. Nachts wurden Wachen aufgestellt. Die reichen Kaufleute trafen sich bei uns und berieten, was zu tun sei, aber niemand wusste einen brauchbaren Rat. Man beschloss die Habe der Familien aus der Stadt zu schaffen und bereitete die Flucht vor. Doch die Kunde, die von außerhalb der Mauern kam, verhieß nichts Gutes. Dort wüteten die Banden noch schlimmer als in der Stadt. So wurde die Abreise immer wieder aufgeschoben. In dieser Zeit saß ich oft im Garten und versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich musste um meinen zukünftigen Gemahl trauern und empfand doch keine Trauer. Gleichzeitig aber sah ich mich als Witwe, die nun ohne einen Mann ins Grab würde gehen müssen. Wie bedauerte ich mich dafür, ich dummes törichtes Geschöpf!

Lassen wir das! Ich verliere mich in Erinnerungen. Verzeiht einer alten Frau, wenn sie vom Faden der Geschichte ein wenig abschweift. Aber wenn man alt wird, dann gehen einem so manche Gedanken durch den Kopf. Was wollte ich überhaupt erzählen? Ach ja, warum ich so alt geworden bin. Mein Alter hat etwas mit dem Untergang von Olifo zu tun. Ich sehe Eure erstaunten Gesichter. Ja, mit dem Untergang dieser Stadt! Und da war dann noch der Blaue Alte.

Aramar, du sollst nicht lächeln! Auch du spielst eine Rolle in meiner Geschichte. Ich glaube, du hast eine Zeitlang in allen Geschichten von Centratur eine Rolle gespielt! Aber ich werde müde. Berichte du nun, was du damals erlebt hast. Ich will dich dann ergänzen."

Schwer atmend hatte sich die alte Frau auf einen Hocker am Feuer gesetzt, nachdem sie zuletzt erregt auf und abgegangen war. Aramar, der den Kopf in seinen beiden Händen geborgen hatte, richtete sich auf und sagte mit schwerer Stimme: „Man hatte mir von den Vorkommnissen in Paradland berichtet. Während die Könige ihre Streitkräfte zum letzten Aufgebot sammelten, verließ ich die Heere, um dort nach dem Rechten zu sehen. Eines Tages gegen Abend kam ich hier an. Mein Pferd musste sich seinen Weg durch eine grölende Menge bahnen, die sich in den engen Gassen drängte. Die Strolche trugen Truhen auf den Schultern und zogen kreischende Frauen mit sich. Berittene sprengten in die Stadt und aus der Stadt, deshalb fiel ich als einzelner Reiter nicht weiter auf. Als ich am Marktplatz angekommen war, sah ich rote Flammen am Himmel. Irgendein Wahnsinniger musste in seinem Übermut beim Plündern ein Haus angezündet haben.

Hier gab es nichts mehr zu retten. Das Beste war, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Ich saß ab, nahm mein Pferd am Zügel und versuchte, mit dem Strom der Diebe aus der Stadt zu schwimmen. Da sah ich dieses Haus hier. Seine schweren Fensterläden waren eingeschlagen, Flammen schlugen aus den oberen Stockwerken und Schurken schleppten Teppiche, Vasen und Truhen aus dem Tor. Mitten in dem Chaos stand eine weiße Gestalt. Es war eine junge Frau, und sie machte ein so entrücktes Gesicht, als ginge sie dies alles nichts an. Sie schien einen unsichtbaren Schutzschild um sich zu haben, der die gierigen Hände der Mordbrenner von ihr abhielt. Scheu machten die wilden Gesellen um sie einen Bogen.

Ich überlegte nicht lange, schwang mich in den Sattel, drängte mich durch die Horde und riss die Frau zu mir aufs Pferd. Dann gab ich dem Tier die Sporen und ritt wie der Teufel zum nächsten Stadttor. Ich muss wohl eine ganze Reihe Plünderer nieder geritten haben. Wir verließen unbehelligt die untergehende Stadt. Mein Pferd galoppierte, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihm her, und als ich mich schließlich umsah, stand ganz Olifo in Flammen. Irgendwann hielt ich an und wickelte das in seinem dünnen Kleid frierende Mädchen in meine Reisedecke. Dann jagten wir weiter durch die Nacht, und der Schein der brennenden Stadt begleitete uns noch lange. Wenn wir rasteten und zu schlafen versuchten, wärmte ich die junge Frau mit meinem Körper. Ich vermied die Südstraße, denn auf ihr waren streunende Banden unterwegs. Nach Tagen erreichten wir das Tal Rotamin. Dort stand Loron, der hohe Turm, den Sophil im Auftrag des Weißen Rates beherrschte. Endlich waren wir in Sicherheit.

Ich half dem völlig erschöpften Mädchen die vielen Stufen hinauf und bettete es auf eine bequeme Liege im Salon des Turms. Die Frau hatte auf der ganzen Reise kein einziges Wort gesprochen. Sophils Diener brachten Getränke und leichte Speisen. Ich versuchte, ihr etwas heißen Wein mit kräftigen Gewürzen einzuflößen. Doch sie wehrte ab und lag nur starr da, den Blick auf die Decke des Zimmers gerichtet. Weil Sophil und ich uns nicht weiter zu helfen wussten, sprachen wir einen kräftigen Zauber, und das Mädchen fiel in einen tiefen, heilsamen Schlaf.

Während die Kraft in den jungen Leib zurückkehrte, saßen wir zusammen und berieten die Veränderungen in der Welt. Mit dem Fall von Olifo und dem Untergang des Paradland fehlte ein wesentlicher Sicherheitspfeiler im Kampf gegen die Heere des Feindes. Im Herzen von Centratur war damit ein Eitergeschwür ausgebrochen, das alles zu vergiften drohte. Es war ein Fehler gewesen, den Schutz von Paradland aufzugeben. Ein Fehler, der nicht wieder gut zu machen war.

Nachdem sie zwei Tage geschlafen hatte, erwachte die junge Frau mit einem großen Appetit. Sie aß, und ihre Augen blieben trocken. Endlich wandte sie sich an mich, und ich hörte die ersten Worte aus ihrem Mund: 'Werde ich nun nie mehr einen Mann und Kinder haben?' Und dann nach einer Weile: 'Was wisst ihr von meinen Eltern?'

Ich tröstete sie, sagte, natürlich werde sie noch mit einem Mann glücklich werden und viele Kinder haben. Ihre Eltern hätten sich vielleicht retten können, und man solle die Hoffnung nie aufgeben. Alles werde wieder gut. Ich sprach all den Unsinn, den wir in solchen Situationen als Tröstung verstehen. Im Grunde sind es blinde Zusagen, von denen wir genau wissen, dass wir sie nicht halten können. Wir versuchen, einer schwarzen Welt einen rosa Überzug zu geben und glauben, dies wäre Hilfe in der Not.

Axylia schwieg trotz meiner Bemühungen beharrlich. Da schaltete sich Sophil ein. Er machte ein großzügiges Angebot. Der Loron ist ein ganz besonderer Turm. Er ist an einem heiligen Ort gebaut, und bei seiner Errichtung wurden mächtige Zauberworte in die Steine gewoben. Deshalb ist er auch unzerstörbar. Es mag sein, dass dies an der besondere Lage in diesem Tal liegt, oder an der Beschaffenheit des Bodens und der Berge ringsum, vielleicht war auch an der besonderen Kunst derjenigen, die vor undenklichen Zeiten hier gelebt haben? In seiner Spitze wird gleichsam die Kraft des Alls gebündelt. Wie in einem Brennspiegel, der die Strahlen der Sonne vereint, konzentriert sich hier die Macht der Geisterwelt. Nun wenige Auserwählte dürfen diesen Ort betreten, dem die, die über den Sternen wohnen, so nah sind. Nur wenige aber können diesen direkten Kontakt auch aushalten. Die Mitglieder unseres Ordens wurden dafür geschult und haben sich in jahrelangen Exerzitien in unseren Klöstern mit Meditation und geistiger Arbeit darauf vorbereitet. Und selbst von uns Zauberern dürfen einige die Spitze des Turmes nicht betreten.

Ich glaube, Sophil dauerte das Mädchen, und deshalb setzte er sich über die Vorschriften hinweg. Er war als der Hüter von Loron der einzige, der dies wagen durfte. Er machte also Axylia das Angebot, auf der Turmspitze ihre Zukunft zu erfahren."

„Von hier an erinnere ich mich wieder“, schaltete sich Axylia ein. „Vor mir standen zwei alte Männer, die sich stritten. Der eine sagte: 'Das kannst du doch nicht zulassen. Du weißt genau, wie gefährlich es ist.'

Und der andere erwiderte: 'Manchmal verlangt die Barmherzigkeit ein Risiko.'

Ich verstand nicht recht, um was es ging, sondern hörte nur Bruchstücke wie 'das Gesetz' ... 'sie ist doch nicht vorbereitet' ... 'ich bin der Hüter' ... 'diese Verantwortung können wir nicht tragen'."

„Meine Bedenken damals muss ich erklären“, unterbrach sie der Zauberer. „Es ist immer gefährlich, sich den Mächtigen zu nähern. Deshalb sollte man dies niemals ohne Not tun. Eine Laune, ein plötzlicher Einfall von ihnen kann ein Leben verändern, ohne dass sie selbst weiter darüber nachdenken. Sie sehen euch, und es kommt ihnen plötzlich ein Auftrag in den Sinn, den sie euch erteilen könnten, der euer Leben gefährdet. Oder sie sind vielleicht in schlechter Stimmung und lassen sich zu einem ungerechten Urteil hinreißen. Wenn man den Mächtigen unter die Augen tritt, muss man mit allem rechnen, mit Tod oder großem Glück. Selbst wenn sie euch nicht übel gesinnt sind, ist der Umgang mit ihnen bedenklich.

Ich will euch dazu ein Beispiel geben. Nehmen wir an, ein wirklich guter Reiter wird eines Tages von seinem Fürsten besucht. Der Reiter hat aber schlecht geschlafen und deshalb keinen guten Tag oder ein besonders wildes Pferd oder einfach nur Pech. Das Pferd wirft ihn also vor den Augen seines Fürsten ab. Dieser dreht ihm daraus natürlich keinen Strick. Aber wann immer das Gespräch auf den Reiter kommt, wird der Fürst sagen: 'Aha, das ist doch der, den das Pferd abgeworfen hat!' Diese Meinung ist zwar ungerecht, aber verständlich, denn die einzige Erinnerung des Fürsten an den Mann sind dessen misslungene Reitkünste.

Es ist also nicht ungefährlich und selten ohne Folgen, wenn man sich den Mächtigen unter den Menschen nähert. Diese Erfahrung gilt erst recht für die Mächtigen über den Sternen! Axylia war auf eine Begegnung mit ihnen nicht vorbereitet."

„Ich unterbrach den Disput der Männer“, schaltete sich die alte Frau wieder ein, die bei den langatmigen Ausführungen des Zauberers ungeduldig geworden war. „Ich sagte, ich wolle das Risiko auf mich nehmen und zwar schon in dieser Nacht. Aramar gab seufzend nach, und sie begleiteten mich zusammen zur Treppe, die in die sternengekrönte Finsternis führte. Ich müsse allein gehen, sagten sie mir. Dann gaben sie mir ihre guten Wünsche mit, und ich stieg nach oben. Auf diesem Weg überfiel mich plötzlich die Angst und zwar so sehr, dass mir schwindelig wurde und ich am ganzen Körper zitterte. Doch ich erklomm Stufe um Stufe.

Auf dem Dach stand ich zwischen vier spitzen Säulen, und es geschah lange Zeit nichts. Man hatte mir keine Anweisungen gegeben, was zu tun sei, und so wartete ich. Und während ich wartete, sah ich in den nächtlichen Himmel. Ich sah die Myriaden von Sternen, sah das breite Band der Milchstraße. Es war wunderbar. Dieser Himmel war das Schönste, was ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Ich vergaß alles Leid der letzten Tage, alle Schrecken und Nöte. Ich sah nur noch den Himmel um mich und fühlte mich in ihm geborgen.

In diesem Augenblick des höchsten Glücks erfasste mich ein mächtiger Windstoß. Der Wind umklammerte mich und riss mir die Kleider vom Leib. Nackt stand ich da in meiner Unschuld, und meine weiße Haut leuchtete in der Finsternis. Und wieder kam ein Windstoß. Diesmal warf er mich zu Boden. Aber ich fiel nicht hart, denn der gleiche Wind fing mich auf. Ich lag auf dem Rücken, meine Beine waren weit gespreizt, und der Wind umgab mich. Er war überall auf mir und auch in mir. Ich war ganz erfüllt von dem Wind, und der Wind war mir vertraut, wie nur der Gemahl vertraut sein kann. Endlich ließ der Wind von mir ab. Ich erhob mich taumelnd, raffte meine Kleider zusammen und tastete mich zitternd die Treppe hinunter. Die alten Männer erwarteten mich, sahen mich an und wussten Bescheid. Es wurde nicht viel gesprochen.

Lediglich Sophil sagte: 'Nun hast du deinen Gemahl doch noch gefunden.'

Sie brachten mich zu Bett, und Aramar hielt die ganze Nacht über bei mir Wache. Tage später ritten wir zurück ins Paradland, und obgleich an mir nichts Besonderes war, und niemand von meinen Erlebnissen auf dem Loron wissen konnte, kamen von überall Menschen zu mir. Auch versprengte Hüter erschienen und schlossen sich mir an. Sie, die Gefolgsleute meines toten Bräutigams, übertrugen mir, dem Mädchen, nein besser der Frau, die Führung und unterwarfen sich meinem Urteil. Bauern, die den Sturm überlebt hatten, machten sich zu mir auf. Als Waffen hatten sie Dreschflegel und Sensen mitgebracht. Wir begannen, gegen die Eindringlinge zu kämpfen. Der Kampf dauerte viele Jahre. Er war hart und grausam und ging oft über meine Kräfte. Aber wenn ich aufgeben wollte, so fühlte ich in mir ein Feuer, und auf den weiten Feldern umschmeichelte mich der Wind. Dann konnte ich auch wieder das Feuer in den Herzen meiner Gefolgsleute entzünden.

Der Kampf wurde gewonnen. Im Paradland konnte man wieder leben. Wir richteten die Häuser notdürftig her und zogen ein. Doch es wurde nie mehr so wie früher. Die Leute starben einer nach dem anderen. Die Jahre und Jahrhunderte vergingen. Ich blieb, und das Alter kam nur langsam über mich. Ich weiß nicht mehr, für wie viele Generationen von Menschen ich den Glanz der Jugend ausstrahlte. Viele Männer kamen und freiten um mich, und so mancher gefiel mir. Doch keinem konnte ich mein Wort geben, denn ich war schon vergeben. So blieb ich ledig und war doch in all der Zeit nie allein. Aramar besuchte mich, wann immer er konnte, und wir hatten viel Spaß zusammen. Er war der einzige, der mein Geheimnis kannte, und nun wisst auch Ihr Bescheid. Ich weiß nicht, warum ich Euch alles erzählt habe, aber es schien mir an der Zeit. Vielleicht kennt Aramar den Grund, warum mir jetzt erlaubt wurde zu reden?"


Die Reisegesellschaft hatte schweigend und mit großen Augen zugehört. Auch nachdem Axylia geendet hatte, sagte niemand ein Wort.

Der Zauberer meldete sich: „Axylia, Liebes, du sollst mit uns nach Whyten kommen. Ich brauche dich!"

„Was soll ich in Whyten? Ich gehöre hierher ins Paradland. Ich bin die Frau des Paradland. Was willst du von mir?"

„Das weiß ich selbst noch nicht genau. Du wirst gebraucht, da bin ich sicher. Bitte komme mit uns."

Bedächtig nickte Axylia, und alle legten sich auf den Boden zum Schlafen.

Am nächsten Morgen brach die Gemeinschaft früh auf. Die alte Frau hatte ein Bündel geschnürt und das Haus fest verschlossen. Dann wanderten sie unter den neugierigen Blicken der Bürger von Olifo, die alle zusammengeströmt waren, zur Stadt hinaus. Verstohlen hörte man böse Worte über Fremde, die man lieber von hinten sehe. Das nasskalte Wetter hatte sich verzogen, und ein strahlender Sonnenschein begleitete sie. Es war die rechte Zeit zum Reisen, und Galowyn sang mit klarer Stimme ein Lied. Urial trieb schweigend sein Maultier an, aber seine Augen blickten nicht mehr so finster wie am Vortag. Axylia ritt auf einem Esel hinter der Gruppe her.


Die Zwerge


Am dritten Tag erreichten sie Galbad, ein Bauerndorf. Bereitwillig verkaufte man ihnen dort frische Ziegenmilch und Brot. Düstere Vorboten kommenden Unheils habe es gegeben, erfuhren sie, während sie aßen. Ein Kalb mit zwei Köpfen und fünf Beinen sei geboren worden. Vom Gebirge sei Kunde gekommen, dass eine Frau ein Kind mit einem Ziegenkopf auf die Welt gebracht habe. Wenn schon so etwas geschehe, müsse man mit allem rechnen, sagten die Leute düster. Das Zeitalter werde in einem Inferno enden. Prediger zögen durchs Land und verlangten Buße. Man gebe ihnen alles, was man entbehren könne. Aber dies wäre nicht genug. Auch gebe es Pläne aufzubrechen und zu fliehen. Aber man wisse nicht, wohin sich wenden. Vor dem Untergang könne man schließlich nicht davonlaufen. Galowyn schauderte es, und sie drängte zum Aufbruch. Auch die Leute waren froh, als die Fremden weiterzogen.

Das Dorf lag schon weit hinter ihnen und noch immer hatte keiner ein Wort gesprochen. Alle waren sie erschüttert von dem, was sie gehört hatten. Endlich brach Fallsta das Schweigen.

„Du kannst es drehen, wie du willst“, sagte er trocken, „der Arsch bleibt immer hinten.“

An diesem Tag begegnete der Gruppe niemand mehr. Dies änderte sich erst vier Tage später. Schon von weitem sahen sie in dem flachen Land die große Staubwolke, die sich ihnen näherte. Die Frauen hielten sich im Schutz des Wagens, und die Männer griffen nach ihren Waffen. Aramar und der Zwerg verließen die Alte Südstraße und verbargen sich fünfzig Fuß neben ihr. Ein möglicher Gegner sollte nicht sofort erkennen, wie groß der Widerstand sein würde.

Beim Näherkommen erkannten sie Zwerge. Es waren vierzehn an der Zahl, sie liefen geordnet im Gänsemarsch hintereinander. Auch die Zwerge hatten gemerkt, dass ihnen jemand entgegenkam, und ihre Äxte geschultert. Nun stellten sie sich in Doppelreihen quer über die Straße und fragten nach Name und Ziel der Reisenden. Urial, der es übernommen hatte, für alle zu sprechen, erklärte, sie seien in friedlicher Absicht unterwegs und würden sich ungern aufhalten lassen. Doch der Anführer der Zwerge sagte, sie wären in der Übermacht und könnten deshalb Bedingungen stellen. Dann verlangte er den Wagen zu untersuchen, was Urial ablehnte. Nun wurden die Mienen auf beiden Seiten drohender, und die Knöchel um die Schäfte der Waffen weiß. Da stürmte Glaxca herbei und stellte sich zwischen die Fronten.

„Ruhig, Brüder“, rief er.

„Wer bist du?"

„Ich bin Glaxca, Kraks Sohn, und komme aus dem Grauen Gebirge. Wir sind auf dem Weg nach Whyten und haben dort wichtige Geschäfte. Ihr solltet uns in eurem eigenen Interesse unterstützen, anstatt uns aufzuhalten."

„Wir leben in Zeiten, in denen ein Zwerg nicht einmal einem anderen Zwerg trauen kann. Überall sind unerkannt Boten und Agenten des fernen Feindes. Woher wissen wir, dass du noch auf unserer Seite bist?"

„Boten und Agenten? Von welchem Feind sprecht ihr?" Aramar war auf der Straße erschienen.

„Wie viele von euch verbergen sich noch in diesem Gestrüpp?" lachte der alte Zwerg. Dann fuhr er ernst fort: „Solltet ihr den Agenten wirklich noch nicht begegnet sein? An allen Herd- und Lagerfeuern, in allen Gasthäusern und Fürstenburgen jenseits des Gebirges tauchen seit einiger Zeit glatzköpfige Menschen auf. Sie kommen von weit her aus dem Osten. Sie wissen viel und führen große Reichtümer mit sich, die sie großzügig verteilen. Die Glatzköpfe rufen zu Rebellion und zum Kampf auf. Den Geschöpfen im Norden sagen sie, sie müssten sich gegen die im Süden wehren, und im Süden hetzen sie gegen den Norden. Ihre Worte und ihr Gold fallen auf fruchtbaren Boden. Hass hat sich in die Herzen eingeschlichen, und Schwerter und Äxte werden geschärft. Man weiß nicht, wem man noch trauen kann."

„Das ist eine schlimme Kunde, die ihr bringt. Doch ein Zwerg wird immer einem Zwerg vertrauen!" rief Kraks Sohn aus.

„Auch unser Volk ist dabei, sich zu entzweien. Die eine Sippe blickt gierig auf den Besitz der anderen. Alle meinen, sich vor den Nachstellungen der anderen vorsehen zu müssen. Dabei ist gerade Einigkeit die Stärke der Zwerge. Was wären unsere Händler ohne das Vertrauen in unsere Kundschafter und Boten. Misstrauen ist der Beginn eines jeden Krieges. Keiner wird vor sich selbst zugeben, dass er der Angreifer ist. Jeder glaubt von sich, dass er sich nur verteidigt. Selbst wenn er zuerst zur Axt greift, dann seiner Meinung nach nur, um dem Angriff der anderen zuvor zu kommen.

Wir wollen bei diesem schlimmen Spiel nicht mitmachen und sind deshalb geflohen. Ich bin Wrok aus dem Volk der Wrusak. Hier im Westen jenseits des Gebirges suchen wir nach neuen Siedlungsstätten, wo wir und unsere Kinder in Frieden den Stein bearbeiten und Handel treiben können. Wir haben schon nach dem sagenhaften und verschollenen Feuertal gesucht, aber keinen Eingang gefunden. Deshalb wandern wir weiter. Sobald wir einen Ort finden, an dem wir uns niederlassen können, werden unsere Frauen und Kinder nachkommen. Ich habe euch dies alles erzählt, weil ihr auf mich einen vertrauensvollen Eindruck macht. Enttäuscht mich nicht."

„Da hast du gut daran getan“, sagte Aramar mit warmer Stimme. „Wir sind euch Brüder im Geist. Hattet ihr auf eurer Wanderung Begegnungen, von denen wir wissen müssten?"

„Wir wurden an der Pforte von Equan überfallen. Der Fürst von Ammyl hat dort sein Lager aufgeschlagen und bedroht das Land. Gleichzeitig riegelt er den Weg nach Osten ab. Er belagert Rotamin und versucht, in den verschlossenen Turm zu kommen. Dies soll ihm bisher noch nicht gelungen sein. Der Zauber der Altvorderen ist zu mächtig. Alle, die durch dieses Gebiet wollen, lässt der Fürst aufgreifen. Wir konnten seinen Soldaten nur mit knapper Müh und Not entgehen. Aber wir haben dafür Blutzoll zahlen müssen. Kalaan, der Sohn meiner Schwester wurde von einem Speer getroffen und siecht an der Wunde dahin. Er wird wohl nicht mehr lange leben."

„Das ist wahrlich schlechte Kunde, die ihr da bringt!" Urial hatte die Worte voller Entsetzen ausgerufen.

„Wir haben zum Glück zwei Heilkundige bei uns, die werden sich um Kalaan kümmern“, sagte Aramar. Urial holte ein Bündel mit Verbandzeug, Salben und Kräutern aus dem Wagen und ging durch die Reihen der Zwerge. Hinter ihrer Linie lag auf einer Trage der Verwundete. Axylia schloss sich ihm an.

„Was wisst ihr noch zu berichten?“ fragte der Zauberer weiter.

„Man hört so allerhand. Nicht nur der Fürst von Ammyl ist in Equan eingefallen, sondern auch der König von Mykontex. Alle wollen sie reiche Beute machen, aber hinter ihnen steht ein anderer. Der Zauberkönig soll wiederaufgetaucht sein und den Pakt mit seinen alten Verbündeten erneuert haben. Auch heißt es, bevor der Fürst von Ammyl kam, habe eine Schlacht nördlich des Ilgaigebirge stattgefunden. Ein Heer aus Mykontex sei auf Soldaten aus Equan getroffen. Die Verluste auf beiden Seiten müssen schrecklich gewesen sein. Gewonnen habe keine der beiden Parteien, denn alles was noch laufen konnte, sei geflohen. Es sind wirklich schlimme Zeiten, und keiner weiß, wie sie enden werden.“

Später, als die Zwerge weitergezogen waren, hielten die Reisenden Rat. Aramar meinte, es sei unsinnig, einen Durchbruch durch die Pforte von Equan zu versuchen. Er schlug deshalb vor, direkt nach Süden bis zum Fuß des Ilgaigebirge zu ziehen. Von dort sollten sie über den Os-Pass nach Hispoltai wandern. Es sei zu hoffen, dass Equan noch nicht ganz in Feindes Hand gefallen sei.

Zögernd stimmte Urial dem Rat zu, aber wollte sich von der Reisegesellschaft trennen. Er meinte, er könne die Pforte von Equan nicht umgehen. Er müsse, Gefahr oder nicht, dort hindurch.

Aramar fragte verwundert nach seiner wirklichen Absicht.

Darüber könne er nicht reden, er habe einen Auftrag, antwortete Urial.

Glaxca sprang empört auf, griff nach seiner Axt und fragte, ob es ein Auftrag des Feindes sei?

Dazu müsse man erst einmal wissen, welcher Feind gemeint sei, stieß nun auch Urial hervor und griff nach seinem Schwert. Er habe bisher verschiedene Feinde ausgemacht, und wisse nicht, ob die Gesellschaft nicht für einen von ihnen unterwegs sei. Seine eigenen Absichten seien auf jeden Fall lauter und seine Auftraggeber über jeden Verdacht erhaben.

Auf Aramars Frage nach seinen Auftraggebern und dem Wortlaut seiner Mission, folgte beharrliches Schweigen.

Dann werde man es aus ihm heraus prügeln, sagte der Zwerg.

Der Disput zog sich noch lange hin und wurde immer wilder und bedrohlicher.

Endlich sagte Aramar: „Nun denn, so werden Glaxca und ich nicht den von mir vorgeschlagenen Weg gehen. Stattdessen werden wir bei dir bleiben, wir werden uns an deinen Fersen heften und uns nicht abschütteln lassen, bis wir deine Absicht erkennen können. Du magst uns nun gleich deine Pläne enthüllen, oder wir werden sie eines Tages entdecken, ohne dass du es verhindern kannst. Einfacher für uns alle, und einfacher auch für dich, wäre der erste Weg."

Urial antwortete nicht, sondern stand wütend auf und verließ die Runde.

Als er zurückkehrte, sagte er bitter: „Ich befinde mich in einer Falle. Ich hätte alleine reisen sollen. Nun muss ich Euch mein Vorhaben offenbaren. Ich werde nach Rotamin gehen und den Loron übernehmen."

„Noch einer“, sagte Aramar, „der in den Turm eindringen will. Willst du dem Fürsten von Ammyl Konkurrenz machen?"

„Ich werde hineinkommen!"

„Und wie, wenn ich fragen darf?"

„Das wird sich zeigen."

Der Sarkasmus erstarb auf dem Gesicht des Zauberers. „Wer bist du wirklich?"

„Ich bin der neue Herr des Turmes."

„Wer hat dich berufen?"

„Der Weiße Rat."

„Seit wann sendet der Weiße Rat Anfänger zu derart wichtigen Aufgaben?"

„Aus der Erzählung um Axylia habe ich entnommen, dass Ihr einst mit Mitgliedern des Rates Verbindung hattet."

Aramar lächelte bei diesen Worten still in sich hinein. Urial merkte es nicht und fuhr fort: „Seit damals hat sich viel verändert. Immer weniger junge Leute wollen in die Klöster des Rates eintreten. Sie scheuen die schweren Übungen, die sie dort erwarten. Auch sehen sie den Sinn nicht mehr ein. Die Existenz von Mächten außerhalb unserer Erfahrungswelt wird von immer weniger Menschen anerkannt. Kurz, die Zauberer wurden alt und starben, und neue kamen nicht nach. Deshalb müssen die wenigen, die noch verblieben sind, schon in jungen Jahren schwere Aufgaben übernehmen."

Aramar war erschüttert. „Das ist die schlimmste von allen Nachrichten, die ich seit meiner Rückkehr nach Centratur gehört habe. Zwei Mächte gab es bisher, die auf der Erde die Geschicke der Lebewesen lenkten. Die Könige sorgten für Sicherheit, Ordnung und Recht. Die Zauberer des Weißen Rates kümmerten sich um ihre Seelen, um die unsichtbaren Mächte, die uns umgeben sowie um die Vergangenheit und Zukunft auf der Welt. Der Hochkönig ist nun tot, und der Einfluss des Rates ist, wie du sagst, im Schwinden begriffen. Was soll aus der Welt nur werden?"

„Noch ist mit dem Rat zu rechnen, und wir werden unsere Aufgabe auch weiterhin erfüllen“, sagte Urial stolz.

„Und ich werde Euch helfen und Euch nach Rotamin begleiten“, mischte sich Glaxca, Kraks Sohn, ein. „Mein Vater hat einst für die Rettung von Centratur gekämpft und geholfen, dass Ormor besiegt werden konnte. Meine Aufgabe ist es, seinen Kampf fortzusetzen. Mir scheint, eine scharfe Axt wird heute wieder dringend benötigt."

„Auch ich werde mitkommen“, sagte Fallsta ruhig. „Ich bringe ein Schwert und zwei in schwerer Arbeit gehärtete Fäuste mit."

„Mit mir könnt Ihr auch rechnen“, sagte Smyrna, „und unterschätzt uns Frauen nicht."

„Ja, unterschätzt uns nicht. Wir haben schon so manche Schlacht mit unseren Mitteln gewonnen. Ich will mein Blut opfern, wenn es nötig ist. Auf jeden Fall bin ich in der Not dabei." Galowyn hatte zwar theatralisch gesprochen, aber jeder sah, dass es ihr ernst war, und deshalb lachte keiner.

„Die Entscheidung ist gefallen“, sagte Aramar. „Da kann ich natürlich nicht abseits stehen. Ich werde mich euch anschließen."

„Dass ich mitkomme, habe ich schon versprochen“, sagte zuletzt Axylia schlicht.

„Und mich fragt keiner“, sagte Urial fassungslos, „ob ich Euch überhaupt dabei haben möchte."

„Nein, Euch fragt keiner“, bekräftigte Fallsta. „Ihr seid auch nicht wichtig, sondern die Aufgabe, für die Ihr bestimmt seid."

„Wir können uns nicht um Eitelkeiten kümmern“, Aramar war es sehr ernst. „Es geht um das Schicksal der Welt. Wenn es uns gelingt, den Loron zu besetzen, wird es ein leichtes sein, die Pforte von Equan zu befreien. Hier im Süden gibt es dann einen mächtigen Hort des Widerstandes. Wenn Nowogoro im Norden noch gehalten wird, so überzieht die Welt ein Kräftefeld mit diesen beiden Brennpunkten. Und dann gibt es noch einen Ort."

„Was wisst Ihr von ihm?" Urial sprang auf.

„Oh, ich weiß ein wenig mehr, als du mir zutraust“, lächelte Aramar wieder. „Doch davon ein andermal. Wichtig ist auf jeden Fall, dass wir Rotamin schützen."

„Ich soll zwar Herrscher des Turmes werden, aber bei diesem Rat hier bin ich wohl nicht von Bedeutung." Urial schien beleidigt, und dennoch zuckte ein Lächeln um seine Mundwinkel.


Auf der Flucht


Die Reise nach Süden verlief ohne weitere Zwischenfälle. Bei Solcho, einem abgebrannten Dorf, verließen sie die Straße und wandten sich nach Osten zum Gebirge. Auf halber Höhe schlugen sie zwischen Buchen ein Nachtlager auf. Sie stellten den Wagen am Rand des Waldes ab und zogen sich auf eine Lichtung zurück. Dort zündeten sie ein kleines Feuer an und rollten sich nach einem kärglichen Abendessen und der Einteilung der Wachen in ihre Reisedecken. Am nächsten Morgen war Urial verschwunden. Er hatte die vorletzte Wache gehabt und Fallsta, der nach ihm an der Reihe gewesen wäre, nicht geweckt. So hatte er einen Vorsprung von mehreren Stunden bekommen. Seinen Wagen hatte er mitgenommen.

„Dieser Narr“, schimpfte Fallsta. „Warum stiehlt er sich davon?"

„Er wird seine Gründe haben“, sagte Aramar, „aber was seine Gründe auch sein mögen, er hat mit dieser Flucht gezeigt, dass er für seine Aufgabe nicht reif ist. Es muss schlimm um den Rat bestellt sein, wenn er solche angehenden Zauberer zu früh in den Einsatz schickt."

„Wir müssen ihm folgen und ihm helfen“, entschied Galowyn.

„Ja, aber wir werden etwas mehr Hirn einsetzen als er." Damit beendete Aramar die Debatte.

Fallsta untersuchte die Wagenspuren. „Er ist direkt nach Süden gezogen. Wenn das nur gut geht!"

Sie brachen auf. Der Zwerg und der Goldsucher wurden als Späher vorausgeschickt, während Aramar mit den Frauen langsam folgte. Nach ein paar Stunden kamen die Kundschafter atemlos zurück. Sie berichteten von einer schlimmen Entdeckung. Urial sei direkt zu den feindlichen Wachen gefahren. Er habe sich anscheinend nicht die geringste Mühe gegeben, sich zu verbergen. Sein Wagen stehe hinter den feindlichen Linien, sei aber geplündert und verwüstet. Er selbst und sein Maultier seien verschwunden. Am Ort des Überfalls sei das Gras auf seltsame Weise verbrannt.

„Der Narr hat auf seine Zauberei vertraut“, sagte Aramar wütend. „Er ist ein Anfänger, der erst in Ansätzen in die Kunst eingeweiht ist. Nun ist er in der Hand der Feinde, und mit ihm der Schlüssel zum Loron. Wenn sie den Turm besetzen können, werden Whyten und Equan fallen. Dann sehe ich für Centratur keine Rettung mehr. Was Urial gezeigt hat, war kein Mut, sondern Hochmut und Verantwortungslosigkeit. Ich habe gleich erkannt, dass er nicht reif für die große Aufgabe ist. Wir müssen ihn befreien, bevor er alles verrät!"

„Das wird schwer sein“, meinte Fallsta. „Das Lager des Fürsten von Ammyl ist durch eine dreifache Postenkette gesichert. Zudem stehen dort mindestens tausend Mann. Gegen die haben wir keine Chance."

„Dann hilft nur eine List“, mischte sich Smyrna ein. „Wir Frauen werden ins Lager gehen."

„Das ist zu gefährlich“, sagte Fallsta. „Man wird Euch vergewaltigen und wieder hinauswerfen."

„Ihr solltet uns nicht unterschätzen“, meinte nun auch Galowyn stolz. „Frauen haben ihre eigenen Waffen, die sind oft wirksamer als Eure Schwerter. Zudem haben wir etwas, was euch Männern häufig fehlt, wir sind klug und haben Einfälle."

„Auch damit werdet ihr tausend Krieger nicht besiegen."

„Wer sagt denn, dass wir sie besiegen wollen. Es geht doch lediglich darum, Urial frei zu bekommen. Wir werden zu den Wachen ziehen und ihnen die Köpfe verdrehen. Wenn wir ihr Vertrauen haben, sagen wir, dass Urial zu uns gehört. Wir wären eine fahrende Truppe, und er wäre unser Narr, der mit Taschenspielertricks die Leute unterhält. Wir müssten ihn wiederhaben, um unser Programm abzuziehen. Dann bieten wir Gold an und warten, was geschieht."

„Die Idee ist nicht schlecht“, sagte Aramar nachdenklich. „Wenn wir überhaupt eine Chance haben, dann auf diese Weise."

„Der Plan ist unsinnig“, widersprach der Zwerg. „Er hat zu viele Lücken. Wo wollt Ihr das Gold hernehmen, das Ihr zur Bestechung braucht? Wie wollt Ihr verhindern, dass man Euch vergewaltigt? Wie wollt Ihr erklären, dass ein fahrender Taschenspieler das Gras in fünfzehn Fuß Umkreis versengen kann? Was ist, wenn sie Euch das Gold abnehmen und dann aus dem Lager werfen oder ganz einfach umbringen? Wieso glaubt Ihr, dass diese Männer bestechlich sind?"

„Viele Fragen auf einmal“, gab Axylia zu. „Mit Euren Bedenken habt Ihr sicher Recht. Aber wir haben keine andere Wahl. Deshalb sollten wir nicht länger Fragen anhäufen, sondern lieber beantworten. Schnaps oder Bier müssen wir nicht mitbringen, die können wir auch an den Lagerfeuern brauen. Für Urials Zaubereien wird uns noch eine Erklärung einfallen, und drei erfahrene Frauen können mit wilden Männern umgehen. Verlasst Euch darauf! Ein Problem wird das Gold werden. Wo sollen wir es hernehmen? Keiner von uns trägt große Reichtümer mit sich."

„Vielleicht“, sagte Fallsta zögernd, „kann ich da helfen."

Er ging etwas abseits hinter einen Busch und kam mit einem Lederbeutel zurück. Langsam nestelte er ihn auf und schüttete kleine Goldbrocken in seine Hand.

„Dafür habe ich zwei Jahre gearbeitet“, sagte er, „und ich hatte viel damit vor. Aber das Gold wird nun für einen wichtigeren Zweck gebraucht."

„Eine großzügige Gabe“, bemerkte der Zauberer erstaunt. „Ich kenne nur Wenige, die so handeln würden wie Ihr. Ich will alles tun, dass Euch der Schaden ersetzt wird."


Rasch wurden die Vorbereitungen getroffen. Es galt keine Zeit zu verlieren, denn sie wussten nicht, ob man Urial foltern würde. Jeden Moment konnte er sein Geheimnis verraten, dann wäre alles zu spät. Dann zogen die drei Frauen zusammen mit dem Esel los. Der Goldgräber, der Zauberer und der Zwerg blieben zurück. Unruhig liefen sie auf und ab und versuchten, sich auszumalen, was wohl im Lager vor sich ginge. Es wurde für sie ein langer Tag und eine lange Nacht. Dann vergingen wieder ein Tag und noch eine Nacht. Sie aßen wenig und schliefen unruhig. Immer wieder stand Aramar am Saum des Waldes und spähte nach Süden, dorthin, wo sich ihrer aller Schicksal entschied.

Endlich waren im dünnen Morgennebel in der weiten Ebene kleine Punkte zu sehen, die quälend langsam näherkamen. Der Zauberer alarmierte seine Begleiter. Sie versuchten, etwas zu erkennen. Die Punkte entschwanden immer wieder ihrem Blickfeld und wurden von Nebelschwaden umhüllt. Dann waren sie wieder sichtbar und wurden größer, konnten auseinandergehalten werden. Es waren fünf an der Zahl. Aramar blieb die Ruhe selbst, aber Glaxca trat vor Unruhe von einem Bein auf das andere, und Fallsta murmelte vor sich hin: „Wenn es doch gut gegangen ist! Wenn es doch gut gegangen ist!"

Nach einer weiteren Stunde unterschieden die Männer eine kleine Gestalt, die mit einem Tier vorauslief, und der die anderen Personen folgten.

Glaxca rief: „Das ist Axylia mit ihrem Esel!"

Und Aramar, der mit dem Geist sah und mehr erkannte, als Augen enthüllen, fügte hinzu: „Und dahinter kommen die beiden anderen Frauen und Urial. Sie haben es geschafft!"

Nicht lange danach trafen die Frauen und der Mann ein und fielen erschöpft zu Boden. Sie keuchten so sehr, dass sie kein Wort herausbrachten. Endlich fasste sich Axylia und krächzte: „Schnell! Wir müssen weg. Das ganze Heer ist uns auf den Fersen."

„Was ist geschehen?" rief Fallsta. „Wie habt ihr Urials Befreiung erreicht? Was ist vorgefallen?"

„Später“, sagte Smyrna müde, „erst müssen wir von hier weg und uns in Sicherheit bringen. Dann ist Zeit zum Erzählen."

Aramar ging zu dem jungen Zauberer, der die Hände auf seine Knie gestützt hatte und um Luft rang. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Schön, dass ihr wieder da seid. Wir haben uns Sorgen gemacht."

Da richtete sich Urial auf und fuhr den alten Mann an: „Habt ihr diesen Unsinn inszeniert und mir die Frauen auf den Hals geschickt? Was sollte diese Befreiungsaktion? Ich wäre auch alleine mit der Bande fertig geworden. Haltet euch doch endlich aus meinen Angelegenheiten heraus. Jetzt sind sie tatsächlich hinter uns her, und wir müssen fliehen. Es wird für mich nun sehr schwierig, zum Turm zu kommen. Dabei war ich ihm schon so nah."

„Ja, ihr wart ihm nah. Aber ihr wart an Händen und Füßen gefesselt und solltet gefoltert werden!" Galowyn war wütend. „Wenn es nicht um unser aller Schicksal ginge, so sollte man euch zurückschicken und von den Soldaten vierteilen lassen."

„Was wisst ihr schon“, sagte Urial abfällig. „Hier geht es um mehr, als euer Frauenhirn begreifen kann."

„Diese dummen Frauen haben euch aber gerettet."

„Ich betone noch einmal, dass dies gegen meinen Willen geschehen ist!"

„Ihr seid ein Idiot und bleibt ein Idiot!"

„Hört auf zu streiten“, sagte Aramar, „wir müssen fort."

Die Frauen waren zu erschöpft zum Laufen, deshalb wurden Galowyn und ihre Dienerin auf die Pferde gehoben, und Axylia bestieg ihren Esel. Dann eilten alle nach Osten in die Berge. Voraus lief der Zwerg. Er fühlte sich in dieser Umgebung heimisch. Seine Augen erfassten alle Aufstiegsmöglichkeiten, die auch für die Tiere gangbar waren. Er sah, wo Gefahr drohte und erkannte Schluchten, in denen sie sich verlaufen und Zeit verloren hätten. Er führte sie sicher und schnell durch die Unwirtlichkeit der Bergwelt. Den Schluss machte Urial, und neben ihm hielt sich Aramar, der den jungen Mann nicht aus den Augen ließ.

Als sie schon eine Weile geklettert waren, sahen sie beim Zurückblicken eine mächtige Staubwolke in der Ebene.

„Da kommen sie“, sagte Axylia und trieb ihren Esel an.

Als der nackte Fels begann, und für die Tiere kein Fortkommen mehr möglich war, stiegen die Frauen ab.

„Graufell wird ab jetzt für sie sorgen“, sagte Aramar und jagte die Pferde mit einem kräftigen Schlag auf die Kruppe davon. Dann begann für alle ein mühsames Klettern. Plötzlich rief Smyrna, die ein wenig Luft geholt und dabei zurück in die Ebene geblickt hatte: „Mein Gott, sie klettern uns nach. Diese verdammten Soldaten haben die Jagd auf uns nicht aufgegeben."

Diese Entdeckung spornte alle noch mehr an. Der Weg war nun so schlecht, dass sie immer öfter auf allen Vieren die Felsen empor klettern mussten. Als sich der Weg gabelte, rief Glaxca seinen Freund Aramar zu sich. Es galt zu entscheiden, ob sie links eine Geröllhalde oder rechts eine schmale Schlucht durchqueren sollten. Sie berieten noch, als Donnern und Blitzen sie herumfahren ließ. Auf einem Felsen stand Urial und schleuderte mit hocherhobenen Händen Feuerbälle in die Tiefe, wo er die Verfolger vermutete.

„Bist du wahnsinnig?" rief Aramar. „Man lässt dich einen kurzen Moment aus den Augen, und schon bringst du uns in Gefahr."

Er eilte zu dem jungen Mann und schlug ihm ins Gesicht.

„Höre endlich auf, uns Scherereien zu machen. Mit deinen lächerlichen Kunststückchen hast du den Verfolgern verraten, wo wir sind. Nun werden wir keine ruhige Minute mehr haben, und es ist nicht einmal sicher, ob wir wirklich entkommen können.“

„Ich bin ein Zauberer und laufe nicht vor diesen Bastarden davon. Das habe ich nicht nötig! Aber deine Überheblichkeit geht mir schon lange auf die Nerven. Du solltest dich nicht mit einem Zauberer anlegen. Nun werde ich dir eine Lehre erteilen, die du dein Leben lang nicht vergessen wirst."

Mit diesen Worten richtete der junge Mann seine Fingerspitzen gegen den Alten. Auf seinem Gesicht lag große Anstrengung, als er einen von seinen Zaubern gegen den verhassten Reisegefährten schleuderte. Doch der Angriff schien zu misslingen, denn Aramar zeigte keinerlei Wirkung. Er stand da, lächelte und gab ihm erneut eine Ohrfeige. Urial zitterte am ganzen Leib und setzte noch einmal zum Zaubern an. Sein Gegner lächelte noch mehr und schlug wieder zu. Aber dies war nicht der Schlag eines alten, müden Mannes, sondern glich mehr dem Tritt eines Pferdes.

„Dir werde ich es zeigen!" Urial war außer sich. „Du legst dich mit dem Herrn des Loron an, mit einem der mächtigen Zauberer aus Nowogoro."

„Ich habe keinen mächtigen Zauberer vor mir, sondern einen unreifen Burschen, dem man, aus welchen Gründen auch immer, zu viel Macht verliehen hat. Nun muss ich dir das beibringen, was man in Nowogoro versäumt hat. So unbeherrscht und töricht wie du jetzt bist, kannst du niemals die Herrschaft über den Loron antreten."

Der junge Mann versuchte all seine Zauberkunst, und nach jedem vergeblichen Versuch erhielt er einen neuen Schlag ins Gesicht. Seine Wangen waren inzwischen rot und geschwollen, und aus seiner Nase lief Blut. Doch er gab nicht auf, und die Exekution wurde mit unerbittlicher Härte fortgeführt.

Endlich sank Urial zu Boden und stöhnte: „Wer bist du?"

„Das habe ich dir doch schon ein paar Mal gesagt, und du kennst viele meiner Namen. Ich bin Aramar. Man nannte mich einst auch Grauwolf oder den Blauen Alten."

„Aber wer bist du wirklich? Wer verbirgt sich hinter deinen Namen?"

„Einst war ich der Erste im Rat und ich habe meine Macht noch nicht verloren. Wenn es sein muss, kann ich sogar dafür sorgen, dass sich die Erde auftut. Aber meine Macht kommt aus Einsicht in meine Schwäche. Ich weiß, dass sie nicht mein Verdienst ist. Dies macht mich vorsichtig und gebietet mir Zurückhaltung. Herrschen kann man nur mit Bescheidenheit. Die wirkliche Zauberei und die größte Macht haben ihre Wurzeln in Demut und Mitleid. Die ärgsten Übel, die Sterbliche befallen können, sind Selbstüberschätzung und Größenwahn. Sie galten zu allen Zeiten als die schlimmste Sünde. Aber nur allzu oft, wenn ein Sterblicher hochgestiegen ist, wird er von diesen Schwächen überwältigt, und damit ist sein Untergang besiegelt.

Du aber, du bist noch nicht auf dem Höhepunkt, mein Freund, sondern erst am Anfang. Dennoch hat dich der Größenwahn schon wie eine Krankheit befallen. Wie gut, dass du in mir den Meisterheiler dieser Krankheit getroffen hast. Du kannst meines Beistands gewiss sein."

„Seid ihr etwa der Aramar, von dem die Sagen berichten? Ich habe nie geglaubt, dass er wirklich gelebt hat."

„Ich bin es, mein Freund."

„Warum habt ihr euch nicht früher zu erkennen gegeben?"

„Ich habe während der ganzen Reise keinen Hehl aus meiner Identität gemacht und mehrfach meinen Namen genannt. Im Haus von Axylia habe ich sogar vom Innern des Loron berichtet."

„Dieser Erzählung habe ich nicht geglaubt. Ihr wart für mich ein wichtigtuerischer Geschichtenerzähler, ebenso wie dieses Kräuterweiblein."

„Steh’ auf! Du weißt jetzt, wer ich bin."

Urial erhob sich, schüttelte verwirrt den Kopf und klopfte sich den Staub von den Kleidern. Feierlich sagte er: „Wenn das so ist, dann übergebe ich euch hiermit die Führung der Reisegruppe."

Aramar zog seinen Hut und verbeugte sich tief: „Ich danke dir, mein Freund. Ich hoffe, ich erweise mich würdig."

Axylia schaltete sich ein: „Für weitere höfliche Gespräche haben wir leider keine Zeit. Die netten Leute, die du auf unsere Spur gesetzt hast, kommen nämlich rasch näher, und sie werden mit uns nicht plaudern wollen."

Als sie nach vielen Stunden hoch über der Ebene auf einem Felsvorsprung erschöpft zu Boden sanken, waren ihre Kleider durchgescheuert, und ihre Fingerkuppen bluteten. Sie hatten ein schmales Felsband erreicht, das sich an der Bergwand entlang nach Süden zog und von Zwergen in alten Zeiten angelegt worden war. Auf diesem in den Felsen gehauenen Weg tasteten sie sich voran, nachdem sie wieder zu Kräften gekommen waren.

„Mich muss der Teufel geritten haben, als ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen habe“, stöhnte Galowyn. „Ich bin eine Künstlerin und keine Bergziege. Ich brauche Ruhe und ein wenig Luxus in gepflegter Umgebung. Meine Aufgabe ist es, Menschen mit meinem Gesang Freude zu bereiten und nicht vor ihnen davon zu laufen."

„Dich will doch seit Jahren niemand mehr hören“, keuchte Smyrna hinter ihr. „Sieh es von der guten Seite! Endlich bist du wieder begehrt. Bedenkt doch, wie viele Männer hinter dir herlaufen! Ist dies nicht wie ein neuer Anfang für dich?"

„Du bist entlassen!"

„Habt Dank, dass du mir nun zum fünfzigsten oder sechzigsten Mal meine Freiheit schenkst."

Es dunkelte bereits. Sie würden die Nacht in gefährlicher Höhe verbringen müssen. In der mondlosen Dunkelheit konnten sie bei der kleinsten Bewegung abstürzen. Deshalb setzten sie sich mit dem Rücken zur Felswand, wickelten sich so gut es ging in ihre Decken und hakten sich gegenseitig unter. Als sie es sich so bequem wie möglich gemacht hatten, und alle erschöpft schwiegen, hörten sie in der Ferne Steine poltern und Männerstimmen. Die Feinde hatten nicht aufgegeben und waren ihnen noch immer auf den Fersen.

Eine scheußliche Nacht stand ihnen bevor. Ende November würde es so hoch in den Bergen bitter kalt werden. Sie konnten weder ein Feuer machen noch sich durch Hüpfen und Bewegen wärmen. Aramar machte sich Sorgen, ob seine Begleiter den Morgen heil erleben würden. Kurz vor Mitternacht begann es zu schneien, und bald waren die verkrampften, zitternden Gestalten von einer Schneeschicht bedeckt. An Schlaf war nicht zu denken. Wenn sie einschlummerten, würden sie vielleicht nie mehr erwachen.

„Nun erzählt uns endlich, was im Lager der Ammylsoldaten geschehen ist?" wandte sich Fallsta an die Frauen.

„Es ist so gekommen, wie wir es uns gedacht hatten“, sagte Galowyn. „Wir erreichten die vorgeschobenen Wachposten und gaben uns als Frauen aus, die Geld und Abenteuer suchen. Die Soldaten waren guter Dinge, hoffen sie doch am Ende des Feldzugs als reiche Männer nach Hause zu kommen. Aber sie freuten sich über die Abwechslung. Ich sang, Smyrna tanzte und Axylia machte zotige Bemerkungen. Ich war gut, das dürft ihr mir glauben! Bis jetzt habe ich eben noch jedes Publikum begeistert. Die Männer hatten viel Spaß und schlugen uns auf den Hintern, und so mancher versuchte, einen Kuss zu ergattern. Sie waren nicht betrunken, und so bewachten sie sich gegenseitig, damit keiner von ihnen bei uns den Vortritt bekäme. Dies schützte uns vor Vergewaltigung.

Später erzählten sie, dass sie am Morgen einen komischen Vogel gefangen hätten. Er hätte mit Donner und Blitzen um sich geworfen. Sie hätten aber nur gelacht, und seien alle zusammen über ihn hergefallen. Er hätte keine Chancen gehabt. Später sei der junge Mann ins zentrale Lager gebracht worden. Dann aber berichteten sie etwas Seltsames. Nach ein paar Stunden sei ein kleines, glatzköpfiges Wesen erschienen, einer von den Beratern ihres Herrn, und habe sich genau nach den Umständen der Festnahme erkundigt. Jeden einzelnen von ihnen habe er ausgefragt. Er habe alles ganz genau wissen wollen."

„Die Glatzköpfigen habe ich auch getroffen“, mischte sich Urial ein. „Sie redeten mit einem seltsamen Akzent. Immer wieder forderten sie mich auf zu gestehen und drohten mir Folter an. Sie ahnten ja nicht, dass sie einen Zauberer vor sich hatten, dem Folter nichts anhaben kann."

„Hast du schon einmal die Tortur erdulden müssen?" warf Aramar ein.

„Nein, aber ich kann mir gut vorstellen, wie es ist. Man kann sich mental gegen alles wappnen."

„Du musst noch viel lernen“, sagte der alte Mann nur, „aber nun fahrt fort, Galowyn!"

„Wir erzählten den Männern, dass der Spinner zu uns gehöre, aber völlig harmlos sei. Wir tischten ihnen genau die Geschichte auf, die wir zuvor ausgemacht hatten. Axylia schmückte das Ganze noch ein wenig aus und gab frühere Abenteuer unseres Spinners zum Besten. Wir lachten alle zusammen, bis uns die Tränen kamen."

Smyrna, die neben Urial saß, spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Aber der Mann aus Nowogoro sagte nichts.

„Die Soldaten verstanden nicht, warum wir unseren Spinner wiederhaben wollten. Sie sagten, eine Herausgabe des Gefangenen sei unmöglich. Die Glatzköpfe des Fürsten von Ammyl kümmerten sich persönlich um ihn. Gegen sie könne man nichts machen. Nachdem wir bis tief in die Nacht hinein mit den Soldaten gefeiert hatten, schliefen wir lang in den Morgen. Als sich die Nebel verzogen, wachten wir auf und gingen zu einem kleinen Bach, um uns zu waschen. Während ich mich über das Wasser beugte, spürte ich plötzlich, dass jemand hinter mir stand. Erschrocken wandte ich mich um und sah einen der Glatzköpfe. Die Gestalt war klein und gedrungen, hatte große Ohren und überhaupt keine Haare. Sie stand stumm hinter mir und sah mich mit ihren großen Augen an. In diesem Blick war kein Interesse an mir oder an meiner Schönheit. Ich bin sicher, selbst wenn ich mich nackt ausgezogen hätte, wäre sie unbeteiligt geblieben. Der Glatzkopf sah mich an, wie man eine Fliege ansieht, bevor man sie zerquetscht.

Dann sagte der Fremde mit einem so starken Akzent, dass ich ihn kaum verstand: 'Komm mit!'

Smyrna und Axylia beachtete er nicht. Er hatte nur Interesse an mir. Auf seinen Wink erhob ich mich und folgte ihm mit nassen Haaren. In einiger Entfernung stand ein Wagen mit zwei Pferden. Ein Soldat saß auf dem Kutschbock. In ihn sollte ich einsteigen. Smyrna und Axylia waren nun aufmerksam geworden und eilten herbei, um mir beizustehen. Doch den Glatzkopf kümmerten ihr Schreie und ihre Proteste nicht. Er bedeutete dem Kutscher abzufahren. Wir fuhren direkt ins Lager. Vor einem Gestell, an das man Urial mit ausgestreckten Armen und Beinen gebunden hatte, hielten wir an.

'Kennst du ihn?' fragte der Glatzkopf.

Ich sagte: 'Ja!'

'Wer ist er?'

'Ein Gaukler, der mit ein paar Tricks etwas Geld verdient. Er ist nicht besonders klug und sicher nicht gefährlich.'

In diesem Augenblick schrie Urial: 'Natürlich bin ich gefährlich! Wartet nur, bis ich mich mit meinem Zauber befreie und hier aufräume.'

Der Gnom schenkte unserem schwierigen Freund keine Beachtung, sondern fragte: 'Wo kommt ihr her, und was ist das Ziel eurer Reise?'

Ich antwortete: 'Wir kommen aus Weiler und wollen nach Cantrel. Ich habe dort ein Engagement bei Hofe.'

Letzteres entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber es ist so gut wie sicher, dass ich in Cantrel singen und rauschende Triumphe feiern werde.

Das Gespräch mit dem Glatzkopf war unangenehm; während der ganzen Zeit, war mir, als stecke mein Kopf in Nebel. Bleierne Müdigkeit war in mir. Ein fremder Wille streckte sich nach mir aus. Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um mich nicht zu unterwerfen. Lange hätte ich diese Befragung nicht durchgehalten."

„Das habe ich auch erfahren“, sagte Urial leise. „Zwar habe ich versucht, in dieser unwürdigen Situation Stärke zu beweisen. Aber all meine Zauberkraft entschwand, wenn der Glatzkopf auftauchte. Ich habe übrigens nicht herausgefunden ob einer oder mehrere dieser Gnome im Lager waren. Wenn es mehrere waren, so unterscheiden sie sich nicht voneinander."

„Dann hatte der Glatzkopf jedes Interesse an mir verloren, und ließ mich einfach stehen“, fuhr Galowyn fort. „Ich lief hinter ihm her und fragte, ob ich unseren Gaukler mitnehmen könne, aber er gab mir keine Antwort. So zog ich dreist mein Messer aus dem Stiefel und wollte Urials Fesseln aufschneiden. Ohne sich umzuwenden zischte der Gnom einen Befehl, drei Soldaten stürzten sich auf mich, zerrten mich zurück und warfen mich auf den zerstampften Boden. So leicht war unsere Mission nicht zu erfüllen.

Niemand hinderte mich, durch das Lager zu streifen. Die Leute wohnen in großen Koten, in jedem Zelt brennt ein Feuer. Sie scheinen ausreichend mit Verpflegung versorgt zu sein und können die Belagerung noch bis weit in den Winter hinein fortsetzen. Alle im Lager fühlten sich sehr sicher. Sie verlassen sich scheinbar auf ihre vorgezogenen Wachposten. Die Soldaten sitzen in ihren Zelten und spielen Karten."

„Habt Ihr den Fürsten gesehen?" fragte Aramar.

„Nein, nur einige seiner Hauptleute. Niemand schenkte mir besondere Beachtung, was mich beinahe etwas verdross. Immerhin schritt eine berühmte Künstlerin zwischen ihren erbärmlichen, schmutzigen Zelten hindurch. Aber, so dachte ich mir, wer weiß, wozu es gut ist, dass sie mich nicht erkennen. Inzwischen waren auch meine Begleiterinnen angekommen. Sie hatten sich Sorgen um mich gemacht und waren mir gefolgt."

„Ihr könnt euch unsere Erleichterung vorstellen, als wir Galowyn durch das Lager stolzieren sahen." Smyrna hatte den Faden der Erzählung aufgenommen. „Sie trug den Kopf so hoch, dass sie kaum noch den Erdboden sah und hatte das Oberteil ihres Kleides soweit herunter gestreift, dass es nur noch von den Brustwarzen gehalten wurde. Dennoch beachtete sie niemand. Dies wunderte mich, denn man kann gegen unsere Galowyn sagen, was man will, die Männer fliegen noch immer auf sie. Wenn die Soldaten diese Frau nicht beachteten, konnte mit ihnen etwas nicht stimmen."

„In der Tat diese Männer verhielten sich wie Eunuchen. Ich kroch sogar in eine der Koten und setzte mich auf die Pritsche. Wir plauderten; doch als ich meinen Rock etwas lüpfte, sahen sie nicht einmal hin. Diese Männer waren nicht normal. Wenn ich da an die Wachen draußen im Feld denke! Die hätten doch wer weiß was für einen Blick auf meine Beine gegeben."

„Zur Mittagszeit wurden wir vom Glatzkopf zum Essen eingeladen. Suppe mit viel Fleisch wurde aus großen eisernen Kesseln an die Männer ausgeteilt. Auch wir bekamen eine hölzerne Schüssel und einen hölzernen Löffel. Auf der Suppe schwammen Fettaugen. Ich war sehr hungrig und konnte kaum erwarten, mit dem Essen zu beginnen. Doch gerade als ich den Löffel zum Mund führen wollte, zischte Axylia: 'Nicht essen!'

Erstaunt sahen wir sie an.

'Macht weiter! Tut so, als ob ihr esst, aber schüttet die Suppe weg.'

'Das ist doch dieselbe Suppe, wie sie die Soldaten auch essen?'

'Na eben! Aber wenn du jemals wieder Spaß an einem Mann haben willst, liebe Galowyn, so löffle diese Suppe nicht aus.'

So kam es, dass wir hungrig blieben."

„Der Anblick der Männer hatte mich nachdenklich gemacht“, mischte sich Axylia ein. „Als ich dann meinen Napf mit Suppe in der Hand hielt, roch ich ganz fein ein Kraut, das ich vor vielen Jahren in der Hand gehalten hatte. Ein durchreisender Händler hatte es von weit aus dem Osten mitgebracht und wollte es mir verkaufen. Es sei ein Wunderkraut, sagte er mir damals. Es mache Menschen gefügig und lähme jeglichen Geschlechtstrieb. Das Kraut hatte einen eigenartigen Geruch, der mir in der Nase blieb. So konnte ich uns vor dem verhängnisvollen Essen bewahren. Damit niemand etwas merkte, liefen wir von nun an wie Traumwandler durch die Zeltreihen. Dabei sah ich den Glatzkopf, der uns interessiert betrachtete und zufrieden nickte."

„Gegen Abend gab es noch einmal Suppe“, Smyrna berichtete weiter. „Auch diesmal täuschten wir das Essen nur vor. Ich war inzwischen so hungrig, dass mir die Warnung von Axylia fast gleichgültig wurde. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte alles verschlungen. Anschließend kamen zwei Männer und brachten uns ins Zelt des Glatzköpfigen. Dieser stand gegen einen geschnitzten Tisch gelehnt und sah voller Verachtung zu uns hoch. Seine langen, schmalen Hände, deren Finger in goldenen Hüllen steckten, lagen auf der Tischplatte.

'Setzt euch', sagte der Gnom mit schnarrender Stimme. 'Es ist nun Zeit, dass ihr mir alles erzählt. Also, von woher kommt ihr wirklich?'

'Von Weiler, Herr!'

'Nun gut, dies scheint der Wahrheit zu entsprechen. Aber wer ist dieser Trottel, den wir dort draußen angebunden haben?'"

„Wort für Wort wiederholte ich ihm alles, was ich ihm schon einmal gesagt hatte“, erinnerte sich Galowyn. „Aber gerade diese Übereinstimmung mit meiner früheren Aussage muss ihn misstrauisch gemacht haben. Wieder senkte sich ein schwerer Schleier auf uns herab, der den Geist lähmte. Er ließ uns müde auf unseren Hockern zusammensinken. Die wimpernlosen Lider des Glatzkopfes waren herabgesunken und hatten seine Pupillen halb verborgen. Dennoch beobachtete er uns ganz genau.

'Ihr wollt mir etwas mitteilen', sagte er, und es klang freundlich und geduldig. Diesmal verstanden wir ihn klar und deutlich. Jede von uns hatte das Gefühl, als spräche er nur zu ihr. Alle wussten wir, dass wir ihm nicht lange würden widerstehen können. Noch ein paar Minuten, und wir würden alles erzählen."

„Da erhob sich Axylia“, sagte Galowyn. „Sie ging gebückt und sah sehr klein und sehr unscheinbar aus. Sie hinkte auf den Glatzkopf zu, so als wäre sie ihm völlig zu Willen und wolle ihm im Vertrauen etwas sagen. Die Lider über seinen großen Augen hoben sich ein wenig, und ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er winkte ihr mit dem Kopf, näher zu kommen. Dann hatte ihn Axylia erreicht. Sie beugte sich zu seinem Ohr, wie um ihm etwas zuzuflüstern und rammte ihm unvermittelt einen angespitzten Stock in den Hals. Der Glatzkopf stöhnte auf und fiel vom Stuhl. Ein Strahl von rotem Blut schoss neben dem Stock aus der Wunde. Aber er starb nicht sofort. Seine Augen waren weit geöffnet, und sein Geist schlug schwer auf uns ein. Wir taumelten hin und her und brachen schließlich in die Knie. Ich weiß nicht, ob wir den Angriff überlebt hätten, wenn sich Axylia nicht aufgerafft, den Stock mit blutigen Händen aus der Wunde gezogen und erneut zugestoßen hätte. Sie stieß und stieß und zerfetzte den Hals des Gnoms. Endlich war er tot, und der Druck auf unser Gehirn ließ nach."

„Dann warteten wir“, fuhr Smyrna fort, „bis es ganz dunkel war. Die Befreiung von Urial war nicht schwierig, denn die beiden Wachen schliefen. Sie fühlten sich in ihrem Lager scheinbar sehr sicher. Wir hätten uns klammheimlich davonmachen können, wenn Urial nicht hätte unbedingt bleiben wollen. Es kam zu einem heftigen Streit zwischen ihm und Axylia. Die beiden wurden so laut, dass die ersten Soldaten in ihren Zelten aufwachten und nach Ruhe brüllten. Wahrscheinlich glaubten sie, dass sich zwei von ihnen in die Haare gekommen wären. Endlich gab unser Zauberer nach und wir huschten zwischen den Zelten hindurch. Eine Gefangennahme wäre unser Todesurteil gewesen. Aber niemand bemerkte, und niemand verfolgte uns.

Wir hofften uns in der Dunkelheit an den Männern auf dem Vorposten, bei denen wir die erste Nacht verbracht hatten, vorbeidrücken zu können. Aber sie entdeckten uns und hielten uns an. Sie waren gut gelaunt und luden uns ein, uns an ihrem Feuer zu wärmen. Das taten wir auch, um jeden Argwohn zu zerstreuen. Wir erzählten, man habe den Narren freigelassen, nachdem er sich als ungefährlich erwiesen hätte. Dabei bangten wir, Urial könnte uns widersprechen und uns verraten. Aber er blieb trotzig still. Dann machten wir uns auf den Weg und rannten durch die Nacht. Den Rest wisst ihr."

Die Sängerin hatte die abenteuerliche Geschichte beendet. Urial hatte die ganze Zeit geschwiegen und nicht widersprochen. Smyrna, die neben ihm saß, legte ihre Hand tröstend und beruhigen auf seinen Arm, aber er schüttelte sie ab.


Die aufregende Erzählung hatte das Blut der frierenden Menschen in Wallung gebracht und sie warmgehalten. Nun spürten sie plötzlich wieder die Kälte, die in ihr Fleisch bis. Ihre Decken schützten sie nur wenig vor dem kalten Wind.

„Diese Nacht stehen wir so nicht durch“, sagte Aramar, „Wir müssen uns auf den Weg machen, auch wenn es gefährlich ist. Wenn wir bleiben, sind wir auf jeden Fall erledigt."

Ächzend erhoben sie sich und fassten sich an den Händen. So bildeten sie eine lebende Kette, an deren Spitze der Zauberer schritt. Auf seiner Fingerspitze tanzte eine winzige Flamme, die ihm den Weg in dieser gefährlichen Umgebung wies. So klein sie auch war, man konnte sie sicher in der Dunkelheit weit sehen. Trotz des Lichtes trat Aramar plötzlich ins Leere. Er konnte sich gerade noch an der Wand festhalten. Vorsichtig bückte er sich, leuchtete auf den Weg und erschrak. Dort, wo das Steinsims sein sollte, war nichts. Der Pfad war auf der Länge von einigen Fuß eingebrochen.

„Wir müssen springen“, sagte der Zauberer ruhig.

„Was?" schrie Galowyn, so dass es durch die dunklen Berge hallte. „Springen? Und das in der Nacht, wo man nichts sieht? Das kann ich nicht! Das ist ganz und gar unmöglich!"

„Wir haben keine andere Wahl. Es gibt kein Zurück und bis zur Dämmerung können wir hier nicht bleiben. Nur Mut, es wird alles gut gehen."

„Nein! Lieber falle ich auf der Stelle tot um, als dass ich so einen Wahnsinn mitmache. Ich bin Sängerin und keine Akrobatin."

„Wenn wir hierbleiben, erfrieren wir, und im Übrigen sind uns die Verfolger auf den Fersen."

Sie sahen zurück. In der Ferne waren schwankende Lichter, die langsam näherkamen.

„Ich werde den Anfang machen“, sagte Fallsta. Im schwachen Schein von Aramars Flamme untersuchte er den Abgrund.

„Das Licht markiert den Punkt des Absprungs. Es ist nicht weit. Springt, so kräftig ihr könnt, ins Ungewisse. Drüben ist der Boden fest und eben. Ihr werdet sofort Halt finden."

Der Goldsucher nahm Anlauf und sprang. Seine schemenhafte Gestalt entschwand ihren Blicken. Alle hielten den Atem an, bis er leise rief: „Ich bin drüben. Es ist ganz einfach. Der Nächste kann jetzt kommen. Ich werde versuchen, ihn festzuhalten."

Urial machte sich fertig und kam mit Leichtigkeit über den Abgrund. Danach folgte Smyrna, die zwar tapfer, aber vor Aufregung zitternd und weinend Anlauf nahm, um dann auf der anderen Seite glücklich zu jubeln. Nach ihr sprangen der Zwerg und Axylia. Dann blieben nur noch Galowyn und Aramar übrig.

„So“, meinte der Zauberer, „nun fasst Euch ein Herz. Wie Ihr seht, ist es nicht schwer und allen gelungen."

„Es geht nicht“, stöhnte die Sängerin. „Ich bin wie gelähmt. Ich kann mich nicht bewegen, auch wenn ich es wollte."

Aramar tastete sich im Dunkeln zu ihr und legte ihr seine Hand auf die Stirn. Ruhe kam über die zitternde Gestalt. Der stoßweise Atem wurde langsam und tief. Wohlige Wärme durchströmte ihren Körper. Nach ein paar Minuten ließ sie der alte Mann wieder los und trat zurück. Wortlos rannte daraufhin die schöne Frau in der Dunkelheit auf das schwache Flämmchen zu und sprang. Im letzten Moment aber verließ sie der Mut. Sie stieß sich nicht mit ihrer ganzen Kraft ab. Der Sprung war zu kurz. Ihre Füße berührten auf der anderen Seite zwar noch die Abbruchkante, aber dann kippte sie hinten über. Der Zauberer, der das Verhängnis bemerkt hatte, ließ einen grellen Blitz aufflammen. Urial und der Zwerg eilten hinzu und fassten die Frau, bevor sie in den Abgrund fiel. Sie zogen sie auf den sicheren Felsen, wo sie schwer atmend liegen blieb.

Nun hörten sie in der Ferne Geschrei und Gepolter. Die Verfolger hatten den Blitz gesehen und neuen Antrieb für ihre Jagd erhalten. Bald würden sie hier sein. Aramar setzte nun auch über den Abgrund, und dann eilten sie weiter, so schnell sie konnten.

Bald schob sich Glaxca wieder vorsichtig an die Spitze und tuschelte mit dem Zauberer. Von da an untersuchten beide sorgfältig die Felswand zu ihrer Linken. Nicht lange und sie blieben stehen.

„Hier muss es sein“, flüsterte der Zwerg und war verschwunden. Nach einer Weile hörten sie ihn leise rufen.

Sie folgten seiner Stimme und wurden von ihm in eine Öffnung in den Berg gezogen. Als sie eingetreten waren, fiel hinter ihnen eine schwere Tür zu.

„Nun sind wir in Sicherheit“, sagte Glaxca.

Verloren stand die Reisegesellschaft im Dunklen, bis plötzlich ein helles Feuer aufflammte. Nun konnten sie sich umsehen. Sie befanden sich in einer kleinen Kammer, die in den Felsen gemeißelt war. Eine steinerne Tür verschloss den Eingang so dicht, dass kein Windhauch hereindrang. In der hinteren Ecke erkannten sie eine Feuerstelle mit einem kunstreichen Kamin. Dort hatte Glaxca ein Feuer entfacht. Sogar trockenes Holz war vorhanden.

„Wo sind wir?" fragte Axylia erstaunt.

„In einer Zwergenunterkunft“, sagte Glaxca zufrieden. „Während wir uns durch die Nacht tasteten, habe ich nachgedacht. Ich versuchte, mich an die alten Überlieferungen zu erinnern. Damals, vor vielen Menschenaltern, waren wir Zwerge in allen Landen wohl angesehen. Wir galten als hervorragende Handwerker und ehrliche Händler. Wir lebten in Freundschaft mit allen Völkern und wurden reich. Erst später hat der Dunkle Herrscher uns und die anderen Menschen entzweit, indem er Lügen über uns verbreitete. Ganz besonders befreundet waren wir mit den Zauberern. Der jeweilige Herr des Loron hielt mit uns engen Kontakt. Die Leute meines Volkes, die in Feuertal wohnten und arbeiteten, versorgten dieses fremdartige Kloster mit allem Nötigen. Dazu hatten sie einen Pfad gebaut, der von der unterirdischen Stadt Feuertal quer durch das Gebirge bis nach Rotamin und zum Loron führte. Der Pfad hieß Zmànuk, der hohe Weg. Zmànuk überquerte Schluchten auf Brücken, war in Felswände geschlagen und führte über sieben Pässe. Die Zwerge waren auf Zmànuk stets lange unterwegs und je nach Jahreszeit den Unbilden der Natur ausgesetzt. Deshalb bauten sie Unterstände, Kammern, die sie Zmànuksai nannten. Dort fanden sie vor Regen und Schnee Schutz und konnten sich aufwärmen. Nahrungsvorräte waren hier deponiert und Heilmittel, falls jemand unterwegs krank wurde. In einer solchen Kammer halten wir uns gerade auf. Früher standen hier noch Truhen, Tische, Stühle und Liegen. Es war recht wohnlich, und die Leute meines Volkes freuten sich immer, wenn sie auf ihrem Weg eine Zmànuksai erreichten. Es gibt bei uns sogar ein Sprichwort. Man sagt, wenn es einem schlecht geht: ‘Ich wollte, ich wäre in einer Zmànuksai.’

Heute bin auch ich froh darüber, dass wir eine solche Kammer gefunden haben, selbst wenn es hier etwas unwirtlich aussieht."

„Werden unsere Verfolger uns hier finden?" fragte Smyrna.

„Ich glaube nicht, dass sie es wagen, den Abgrund zu überqueren. Sollten sie es aber tun, so werden sie am Eingang dieser Kammer vorbei laufen“, beruhigte sie Aramar.

Bald wich die Eiseskälte aus ihren Gliedern. Sie rollten sich in ihre Decken und schliefen einen erholsamen Schlaf.

Als der Zauberer das Morgengrauen spürte, weckte er sie erbarmungslos. Müde rieben sie sich die Augen und verlangten weiter zu schlafen. Aber der Hinweis auf die Verfolger ließ sie aufspringen. Wollten sie ihren Vorsprung halten, so mussten sie rasch aufbrechen. Traurig nahmen sie Abschied von der gastlichen Herberge im Stein und tasteten sich weiter auf ihrem gefährlichen Weg. Zwar war die Dunkelheit gewichen, aber nun verhinderte dichter Nebel jede Sicht.

Sie wanderten den ganzen Tag und begannen schon lange vor Anbruch der Dunkelheit mit der Suche nach einer weiteren Zmànuksai. Kurz nachdem das Licht der Sonne völlig verschwunden war, hatten sie wieder Glück. Glaxca und Aramar öffneten gemeinsam das geheime Schloss, dann stand einer gemütlichen Nacht nichts mehr im Wege.

Ein mächtiger Turm


Am Mittag des nächsten Tages erreichten sie das Tal Rotamin. Dort endete der steinerne Pfad, und die Wanderer standen vor einem Abgrund. Viel war nicht zu erkennen. Die Berge, die Rotamin einschlossen, lagen zwar bereits im Sonnenschein, aber Nebel erfüllte das weite Rund des Tals. Er brodelte und waberte wie eine weiße Suppe in einem großen runden Gefäß.

Aus der schwindelnden Höhe des Gebirges führte eine steinerne Treppe nach unten. Die schmalen Stufen waren in die Felswand gehauen und nun verwittert. Einst hatte ein hölzernes Geländer den absteigenden Zwergen Halt gegeben, doch längst war es weggefault. Wer dort hinunter stieg, wagte sein Leben. Aramar hielt seine Begleiter mit einer Handbewegung zurück. Schon allein an diesem Abgrund zu stehen, war gefährlich.

„Wie kommen wir dort hinunter, ohne uns den Hals zu brechen?" seufzte Glaxca.

Als der Nebel aufriss, gab er zuerst den Blick auf die vier Spitzen des Loron frei. Es waren runde Säulen, die sich nach oben gleichmäßig verjüngten. Sie waren so scharf, dass man sie als Lanzen hätte benutzen können. Dann wurde das obere Teil des Turms sichtbar. Es war rund und aus einem schwarz glänzenden Material. Fenster blickten nach allen Seiten. Nach kurzer Zeit konnte man den Grund des Tales erkennen, und dann tat sich ein Paradies auf. Trotz der späten Jahreszeit standen unten die Bäume noch in vollem Grün. Alleen liefen sternförmig auf den geheimnisvollen Turm zu. Felder in Form von Gärten unterbrachen die Baumreihen und kleine Seen und Bäche ergänzten das Bild. Ein Fluss stürzte als Wasserfall aus den Bergen in die Tiefe, floss quer durch das Tal und verließ es im Süden. Es war die Is, die viele Tagesreisen später als mächtiger Strom in das Worameer mündet. Das Wunderbarste aber war der Turm. Er war sehr schlank und sehr hoch. Seine Mauern waren glatt und schimmerten in einem Schwarz, das ins Dunkelblau überging. Auf halber Höhe zog sich ein Balkon oder eine Galerie um sein gesamtes Rund. Alles an diesem Turm strebte nach oben und mündete in Spitzen, die sich mit dem Himmel zu vereinen schienen.

Dort, wo sich Rotamin zur Ebene von Equan hin öffnete, konnte man ein großes Zeltlager erkennen. Aus diesen Zelten strömten nun im Morgengrauen Menschen in großer Zahl. In langen Reihen marschierten sie auf den Turm zu und trampelten dabei alles nieder, was ihnen im Weg stand. Es waren Soldaten aus Ammyl. Die Gefährten in der luftigen Höhe beobachteten voller Erstaunen, dass sich die Soldaten zu konzentrischen Kreisen um den Loron formierten. Schließlich war nach einem stundenlangen Aufmarsch das ganze Tal schwarz von Menschen. Nur um den Mittelpunkt dieser Versammlung, den Turm, gab es noch freien Raum. Dann, es musste ein Befehl ergangen sein, begannen alle Soldaten gemeinsam dumpf zu singen: „Omm amm mii. Omm amm mii. Omm amm mii.“

Das monotone Singen steigerte sich zu einem Orkan, der das ganze Tal füllte: „Omm amm mii. Omm amm mii. Omm amm mii.“

„Was soll das?" fragte Galowyn entgeistert und hielt sich die Ohren zu, denn selbst in dieser Höhe schmerzte der gebündelte Schall aus dem Tal.

„Sie versuchen den Loron mit einem gewaltigen Zauber zu sprengen“, antwortete Urial bestürzt. „Wir müssen etwas unternehmen. Sie werden den Turm öffnen oder vernichten."

„Der Loron ist stärker, als du glaubst. Der ganze Zauber, zu dem die Alten fähig waren, steckt in ihm. Er wird auch diesem brutalen Angriff widerstehen."

Das „Omm amm mii" schwoll noch weiter an, und der große Turm begann zu wanken. Im Rhythmus des "Omm amm mii" schwang er hin und her. Und noch immer steigerte sich der Zauberspruch. Die tausendköpfige Menge, die ihn gemeinsam rief, wurde von ihm selbst mitgerissen. Wie in Trance brüllten die Männer im Gleichklang: „Omm amm mii. Omm amm mii. Omm amm mii."

Der Turm bebte, und seine vier Spitzen schwangen in einem immer größeren Radius. Kein menschliches Bauwerk hätte diese Belastung ausgehalten. Es wäre gebrochen und in sich selbst zusammengestürzt.

„Wer hat den Fürsten und seine Männer diesen Zauber gelehrt?" Urial war entsetzt.

Auch Aramar war bleich geworden: „Um den Turm mache ich mir keine Sorgen. Aber wer einen solchen Zauber entfesseln kann, ist noch zu ganz anderen Teufeleien fähig."

„Es sind die Glatzköpfe“, sagte Axylia. „Sie sind gefährlich wie Klapperschlangen, und wir wissen noch immer nicht, um wen es sich bei ihnen handelt, und von woher sie kommen. In keiner Sage, die ich kenne, kommen sie vor. Wie kann man einen Feind bekämpfen, von dem man nichts weiß?"

„Heute wird der Turm standhalten“, stammelte Urial, „aber was wird morgen sein? Vielleicht haben sie bald einen noch mächtigeren Zauber? Sie schrecken vor nichts zurück, um an ihr Ziel zu gelangen. Kann man nichts dagegen unternehmen? Können wir den Loron nicht verteidigen?"

„Man könnte die ganze Bande wegfegen“, antwortete ihm Aramar, „aber dazu müssten wir im Loron sein. Außerhalb seiner Mauern sind wir machtlos."

„Was sollen wir tun?" fragte die alte Frau.

„In den Turm gehen und dem Spuk ein Ende machen." Aramar hatte ganz ruhig gesprochen.

„Wie wollt ihr da hineinkommen? Er wird streng bewacht. Habt ihr einen Schlüssel?"

„Unser junger Freund sagt, er weiß, wie er zu öffnen ist. Dazu braucht man keinen richtigen Schlüssel, sondern etwas, das man im Kopf mit sich herumtragen kann."

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Loron aufbekomme“, sagte Urial zaghaft. „Meine Meister haben mir nur verschiedene Methoden gesagt, die ich ausprobieren kann."

„Das Wissen und die Weisheit im Weißen Rat haben nachgelassen." Aramars Stimme war enttäuscht und bitter. „Da wird ein junger Bursche zu einer äußerst wichtigen Mission ausgewählt und durch die halbe Welt geschickt, aber ohne vernünftige Informationen und Hilfestellungen. Zum Glück ist deine Unwissenheit nicht tragisch, denn ich bin durch Zufall dein Gefährte. Ich weiß, wie der Turm geöffnet werden kann, schließlich habe ich ihn selbst vor vielen Jahren verschlossen."

Und wieder scholl das „Omm amm mii" aus der Tiefe. Es war nun ein Sturm, der die Blätter von den Bäumen riss. Das „Omm amm mii“ war so mächtig geworden, dass es die Männer selbst angriff. Sie mussten das Singen beenden, wenn ihnen ihr Leben lieb war. Deshalb gab jemand den Befehl zum Aufhören, und die Beschwörung erstarb. Eine fürchterliche Stille machte sich breit. Der Turm schwang noch ein wenig hin und her und stand dann kerzengerade, als wäre nichts geschehen.

Die Soldaten entfernten sich langsam und gebückt aus dem verwüsteten Tal, und die fernen Zuschauer meinten, ihre Enttäuschung über die vergebliche Anstrengung zu spüren. Nur ein paar kleine Gestalten blieben noch und untersuchten den Loron. Auch sie zogen schließlich ab und ließen den schwarzen Turm allein und unberührt zurück.


Viel Zeit war vergangen, und die Gruppe musste an den Abstieg ins Tal denken. Doch alle hatten Angst vor den steilen, zerbrochenen Stufen ohne Geländer, die mehrere hundert Fuß in die Tiefe führten. Würden sie jemals heil unten ankommen. Selbst Aramar waren Zweifel und Angst anzusehen.

„Wenn wir jetzt ein Seil hätten, mit dem wir uns gegenseitig sichern könnten“, sagte er, „wäre viel gewonnen."

„Seil! Das ist es“, jubelte Fallsta. „Wir brauchen Seile."

„Ja, schon gut“, beruhigte ihn Urial. „Das wissen wir. Aber wo sollen wir sie hernehmen? Tragt Ihr etwa ein Bündel davon unbemerkt bei Euch?"

„Natürlich nicht. Aber wir werden Seile herstellen."

„Und wie, wenn ich fragen darf?"

„Ihr dürft! Aus unseren Decken. Wir werden unsere Schlafdecken in Streifen schneiden und zu Seilen zwirbeln."

„Und womit werden wir uns in der Nacht vor der Kälte und dem Regen schützen?"

„Im Turm wird es warm und trocken sein."

„Schon recht! Aber was ist, wenn wir nicht in den Turm hineinkommen?"

„Wir haben keine Wahl. Wir müssen alles auf eine Karte setzen. Hier können wir nicht bleiben, zurück aber auch nicht. Unser Weg führt da hinunter. Das ist unser Schicksal. Übrigens werden wir bald Besuch bekommen, denn unsere Verfolger haben nicht aufgegeben. Ich glaube nicht, dass wir den Rest unseres Lebens hier auf diesem felsigen Pfad verbringen sollten. Also, beginnen wir mit dem Zerschneiden der Decken."

Fallstas Argumente waren überzeugend, und so begannen sie, ihre Decken mit Messern in Streifen zu schneiden. Nur die Sängerin murrte.

Ihre Decke stamme schließlich aus Rejkor, sagte sie. Ihr damaliger Verlobter habe sie im teuersten Geschäft am Platz gekauft. Die Decke sei in den Farben der Saison gehalten und aus hervorragendem Material gefertigt. Im Übrigen sei sie die einzige Erinnerung an den geliebten Mann, und nun solle die letzte Verbindung zu einer glücklichen Zeit im wahrsten Sinne des Wortes abgeschnitten werden.

Smyrna unterbrach das Lamentieren: „Ach Galowyn, hör doch auf! Dein geliebter Mann war ein fetter Geldsack, mit dem du dich ständig gestritten hast. Deine Decke gefällt mir auch, aber du hast sie nicht in Rejkor gekauft. Vielmehr hat sie jemand bei dem Geldsack als ein Pfand hinterlassen und nicht mehr auslösen können. Dein Verlobter ist deshalb recht billig an dieses Prachtstück gekommen. Und dir hat er sie verehrt mit der Bedingung, dass du dich nie wieder bei ihm sehen lässt. Zerschneide sie jetzt endlich und spart dir deine Selbstlügen."

„Mit so einer gemeinen Person bin ich jahrelang durch die Gegend gezogen. Nun offenbart sich endlich dein mieser Charakter. Pfui!" Galowyn murrte noch ein wenig, aber sie machte sich wie die anderen ans Werk. Bald lagen viele Streifen aus Wolle vor ihnen, die sie ineinander verdrehten und dann verknoteten. Die so entstandenen Seile waren zwar unförmig, aber stabil und für ihre Zwecke ausreichend.

Der Zwerg ging als erster. Sie banden ihm den Strick um die Brust, und er kletterte rückwärts vorsichtig die brüchige Treppe hinunter. Als er auf einem Absatz festen Halt gefunden hatte, sicherte er und die anderen folgten. Galowyn, die nicht schwindelfrei war, bemühte sich, nicht in die Tiefe zu sehen. Durch die Angst wurde sie ungeschickt, glitt aus, rutschte über die Kante einer Stufe und verlor den Halt. Steine polterten in die Tiefe. Die Frau schrie und baumelte über dem Abgrund. Nur das Seil um ihre Brust verhinderte den völligen Absturz. Glaxca stemmte sich mit seinen kurzen Beinen gegen den Felsen. Sein Kopf war rot angelaufen. Mit beiden Händen umklammerte er das provisorische Seil. Aber er wurde langsam aber unaufhaltsam zum Abgrund gezogen. Obwohl ihre Brust immer mehr eingeschnürt wurde, schrie Galowyn in ihrer Panik lauter und lauter. Fallsta und Aramar eilten zu Hilfe und wären beinahe selbst gestrauchelt und abgestürzt. Endlich hatten sie die Unglücksstelle erreicht und gemeinsam gelang es, die Sängerin zurück auf die Treppe zu ziehen. Da lag sie, bleich und keuchend. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Die anderen aber sahen sich ängstlich um und lauschten, ob jemand den Zwischenfall bemerkt habe. Aber nichts war zu sehen und zu hören.

Nun bewegten sie sich noch langsamer, und es dauerte Stunden bis sie unten waren. Doch es gab keine weiteren Zwischenfälle mehr. Die letzten Stufen hatten sie bei Dunkelheit erreicht. Dort standen sie dicht zusammengedrängt in der Nacht und warteten darauf, dass sich ihre zitternden Muskeln und ihr jagender Herzschlag wieder beruhigten. Nachdem sie aufgebrochen waren, hatten sie bald einen befestigten Weg erreicht, der direkt zum Eingang des Loron führte. Der bewölkte Himmel klärte sich auf, und die bleiche Mondsichel warf ihr düsteres Licht über das Tal. Weit und breit war keine Wache zu sehen. Glaxca und Fallsta gingen als Vorhut, und die anderen folgten vorsichtig. Alle hatten ihre Waffen in den Händen und waren bereit, sofort zu töten. Das ganze Tal der Is erschien ihnen verdächtig.

Als sie die Felder erreichten, die das feindliche Heer am Tag niedergetrampelt hatte, sagte Smyrna leise: „Es ist eine Schande."

Dann machten sie eine Pause.

„Habt ihr eine Erklärung dafür, warum wir bisher niemanden getroffen haben?" wandte sich Galowyn an den Zauberer.

Der lachte leise: „Ich habe damit gerechnet. Die Feinde haben den Zugang zum Tal im Süden hermetisch abgeriegelt und unter Kontrolle. Deshalb glauben sie, niemand könne sich hier aufhalten. Sie erwarten niemand aus den Bergen, denn der Pfad, den wir gekommen sind, dürfte ihnen nicht bekannt sein. Ich glaube, Rotamin ist im Augenblick für uns ein sicherer Ort“

Nach einer weiteren halben Stunde hatten sie den Turm erreicht. Dunkel und drohend ragte der Loron vor ihnen auf. Um sein Fundament herum war ein breiter Sockel gebaut, zu dem steinerne Stufen hinaufführten. Vorsichtig näherte sich die Gruppe dem Bauwerk. Glaxca und Fallsta gingen voraus und stiegen langsam die Treppe empor. Leise umschlichen sie die große Rundung. Dann folgten die anderen. Endlich standen alle vor dem großen Tor. Es war aus einem unbekannten Metall, das im Mondschein blau schimmerte. Kein Türgriff, kein Knopf, keine Klinke waren zu sehen, mit denen man den Eingang hätte öffnen können. Kalt und abweisend zeigte sich der Turm seinen Besuchern.

„Da sind wir, so wie du es dir gewünscht hast“, sagte Aramar zu Urial. „Du musst den Loron nur noch öffnen, dann du bist am Ziel deiner Wünsche."

Urial hatte dazugelernt und antwortete: „Meister, wer den Turm verschlossen hat, soll ihn auch wieder öffnen."

Aramar lachte leise und näherte sich dem dunklen Tor. Dort legte er beide Handflächen gegen das harte Material und schien in sich selbst zu versinken. Alle schwiegen, sie wagten kaum zu atmen. Lange stand der Zauberer dort. Endlich öffnete sich langsam und lautlos der Türflügel. Der Loron von Rotamin war bereit, sie zu empfangen.

Zögernd traten sie ein. Ein Menschenalter waren diese Gemäuer nicht mehr betreten worden. Die Luft war trocken und abgestanden, aber nicht giftig. Als sie das Tor hinter sich geschlossen hatten, ging ein mattes, warmes Licht an. Vor sich sahen sie eine breite Treppe, die sich nach oben wendelte. Die Stufen waren aus dunklem Holz und mit Teppichen belegt. Auf jedem Treppenabsatz zweigten Gänge ab.

„Hier können viele Gäste untergebracht werden“, erklärte Aramar. „Ihr werdet euch wohl fühlen."

In den Aufenthaltsräumen lagen Seidenteppiche. Überall standen Polsterstühle und Liegen. Sie waren mit rotem Samt bezogen. Vor den Fenstern hingen rote Brokatvorhänge. Die Wände des größten Raumes im zweiten Stock waren mit Stofftapeten bespannt. Aramar ging zu einer mit wunderschönen Intarsien versehenen Anrichte, holte geschliffene Gläser hervor und schenkte aus einer Karaffe eine goldgelbe Flüssigkeit ein.

„Meint ihr, man kann das Zeug nach all den Jahren noch trinken?" fragte Galowyn.

„Im Loron vergeht und verdirbt nichts. Die Zeit hat hier wenig Macht." Es war Axylia, die antwortete.

Alle saßen erschöpft, müde und glücklich auf den Polsterstühlen. Sie genossen den Trank und seine berauschende Wirkung. Doch Aramar war unruhig.

„Ich sollte erst einmal in das Herz des Loron steigen“, sagte er, „und mir die notwendigen Informationen besorgen. Willst du mich begleiten, Urial?"

Dieser erhob sich stumm, und gemeinsam schritten sie die Treppe nach oben in unbekannte Gefilde. Die Zurückgebliebenen warteten noch eine Weile, wurden es dann aber müde. Sie machten es sich so bequem, wie es nur eben ging, und schliefen schließlich ein. Sie erwachten erst wieder, als ihnen Sonnenstrahlen durch die Fenster auf die Gesichter schienen. Fallsta und der Zwerg suchten zusammen mit Smyrna nach etwas Essbarem für das Frühstück. Sie schwärmten aus und fanden in den unteren Stockwerken weitere bequeme Salons und seltsame Wirtschaftsräume. Da war eine Küche ohne Esse und Feuerstelle, Vorratsräume mit seltsamen Behältern und Speisen. Bei ihrer Suche gelangten sie in einen Raum im Zentrum des Turmes. Er hatte keine Fenster, war leer, kreisrund und seine Wände dunkelblau gestrichen. In seiner Mitte stand ein Gestell, das eine große Kugel aufnehmen konnte.

„Wir müssen Aramar fragen, wozu dieser Raum dient“, bemerkte Smyrna.

Galowyn war derweil an eines der runden Fenster getreten. Sie sah hinaus in den Sonnenschein des Morgens und begann auf einmal zu singen. Sie sang mit heller, klarer Stimme eine schwierige Koloratur und dieses Lied leitete die Sonne von draußen in die Räume des Turms. Axylia saß still in einer Ecke und hörte der Gefährtin versonnen zu. Die beiden Zauberer kehrten aus dem Obergeschoß zurück. Sie machten sorgenvolle Gesichter. In diesem Moment betrat auch der Rest der Gruppe den Raum. Die Suche nach Nahrung war erfolglos gewesen. Aramar war geistesabwesend und reagierte nicht auf die Frage nach Lebensmitteln. So blieb der Gruppe nichts anderes übrige, als den noch vorhandenen Proviant auszupacken und das ausgetrocknete Brot langsam zu kauen.

Während sie aßen, begann der Zauberer zu erzählen, was er und sein junger Genosse in der Nacht auf der Spitze des Turms erfahren hatten. Zuerst kam die gute Nachricht. Nowogoro sei noch nicht in der Hand des Feindes, und man werde zu verhindern wissen, dass der Feind das Kloster besetze.

Urial stand feierlich auf und sagte stolz: „Wir haben heute Nacht den mächtigen Zauber der Alten wieder über Centratur gebreitet. Das Licht und die Kraft erstrecken sich wieder vom Loron bis nach Nowogoro."

Alle sahen ihn verständnislos an. Deshalb erklärte Aramar, dass es ihnen in dieser Nacht gelungen sei, ein Kraftfeld zwischen den beiden Bauwerken an der südlichsten und der nördlichsten Spitze des Thaurgebirges aufzubauen. Dieses Feld habe in den alten Zeiten immer über dem Land gelegen, sei aber irgendwann einmal nicht mehr gepflegt worden und deshalb zusammengebrochen. Für Nowogoro sei diese Rettung in letzter Minute gekommen. Das Kloster sei ganz vom Feind eingekreist und hätte nicht mehr lange standhalten können. Nun aber gebe es im Norden wieder eine mächtige Zauberfestung, die nicht nur allen Angriffen trotzen könne, sondern gleichzeitig auch den Loron im Süden unüberwindlich mache. Mit dem Feld zwischen ihnen vereinigten sich beide Zentren im Geist des Weißen Rates. Ein mächtiges Bollwerk sei in Centratur entstanden, auf das sie ihre Hoffnung gründen dürften.

Dann wurden die schlechten Nachrichten ausgebreitet. Feindliche Truppen beherrschten Centratur. Da seien zum einen die Fürsten des Reiches, die sich nach dem Tod des alten, alle vereinenden Hochkönigs erhoben hätten. Jeder von ihnen strebe nach der Macht. Aber nicht nur Fürsten, sondern auch Heerführer und Offiziere wären abgefallen. Revolutionen seien ausgebrochen. Kurz, es sei ein Kampf darum entbrannt, wer in Zukunft die Herrschaft über alle Königreiche ausüben dürfe, und wem die vorhandenen Reichtümer gehörten. Zu allem Unglück sei ein furchtbarer Gegner wieder aufgetaucht, vor dem man sich in Sicherheit geglaubt, den man längst vergessen hatte. Ormor, der Zauberkönig, sei aus dem Berg, in den er tausend Jahre verbannt gewesen war, befreit worden. Er habe alle grausamen Geschöpfe des Nordens um sich versammelt und überziehe von da die Welt mit einem erbarmungslosen Krieg. Orokòr und noch schlimmere Gestalten seien wieder in der Welt unterwegs. Viele der Fürsten hätten sich Ormor unterworfen und machten mit ihm gemeinsame Sache. Im Süden seien, um die Verwirrung komplett zu machen, seltsame Wesen aus dem fernen Osten aufgetaucht. Glatzköpfe, die Streit und Zwietracht säten und Kriege anzettelten. Auch in der Umgebung von Ormor habe man sie beobachtet.

Besonders erschüttert sei er, sagte Aramar, und tiefe Sorgenfalten zeichneten sein Gesicht, dass sein geliebtes Heimland bedroht sei. Er könne ihm aber nicht zur Hilfe eilen, wolle er nicht das Heil der ganzen Welt gefährden. Er werde nämlich an anderen Brennpunkten gebraucht. Aber zum Glück gäbe es im Heimland jemanden, dem er vertraue. Auf ihn gründe sich seine Hoffnung, dass das Schlimmste verhindert werde.

Wer denn gefährlicher sei, fragte Axylia, Ormor oder die Glatzköpfe.

Das wisse er nicht, antwortete der alte Zauberer. Alle verfügten sie über mächtige Zauberkräfte, seien skrupellos und ihnen sei jedes Mittel recht. Als er geendet hatte, herrschte betroffenes Schweigen.

„So wie ihr es dargestellt habt“, sagte Axylia endlich, „sehe ich keine Hoffnung für uns. Ich weiß nicht, was wir gegen diese Feinde unternehmen könnten."

„Wir müssen die Kräfte der guten Menschen vereinen und den Widerstand organisieren“, antwortete ihr der Zauberer.

Nun meldete sich auch Urial zu Wort: „Wir haben auch eine Verheißung gehört, die wir zwar nicht verstanden haben, die uns aber dennoch Mut macht. Sie lautet: 'Zwei kleine Leute sind unterwegs. Vertraut auf sie.' "


Sie waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht darauf geachtet hatten, was vor dem Turm vor sich ging. Nun hörten sie auf einmal Lärm und viele Stimmen. Sie eilten an die Fenster und sahen im Morgenlicht lange Reihen von Kriegern in das Tal der Is ziehen. Die Soldaten schritten wie am Vortag in langen Reihen, und jeder Kolonne wurde ein dreieckiger Wimpel voraus getragen. Sie bildeten enge Kreise um den Loron, bis endlich alle an Ort und Stelle standen und stumm warteten. Ein hölzernes Podest wurde herbeigeschafft und vor den Stufen des Turmes aufgestellt. Darauf kletterten zwei kleine Gestalten. Ihre langen Arme waren von hellen Ärmeln überzogen, auf ihren Fingern steckten Nagelschoner und ihre kahlen Köpfe glänzten im Licht der Sonne. Wortlos hoben sie die Arme, so dass das Gold, das sie schmückte, blitzte. Auf ihre Zeichen hin begannen die Männer im Takt die Oberkörper hin und her zu wiegen, und dabei sangen sie die Laute: „Omm amm mi, omm amm mi."

„Ich glaube zwar nicht, dass sie dem Turm wirklich Schaden zufügen können“, sagte Aramar, „aber das Theater geht mir auf die Nerven. Ich werde ihm ein Ende bereiten."

Er öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon, der über der Eingangspforte aus dem Loron ragte, und trat hinaus. Verdutztes Schweigen breitete sich im Tal aus, als plötzlich ein Mensch auftauchte. Keiner der Angreifer hatte damit gerechnet, dass sich in dem geheimnisvollen Loron jemand aufhielt.

„Geht nach Hause in Frieden“, sagte der Zauberer in die Stille hinein. „Die Herren des Loron sind zurückgekehrt und beanspruchen ihre Macht. Wir wollen keinen Krieg mit euch, deshalb geht und meidet diese Welt des Geistes und des Friedens! Ihr könnt den Turm nicht bezwingen. Er wurde in der Zeit der Großen Könige gebaut. Ein mächtiger Zauber ruht auf seinen Steinen. Der Turm kann sich verteidigen, wenn er angegriffen wird. Diese Verteidigung ist tödlich. "

„Ihr haltet Euch für unbezwinglich?" schallte eine krächzende Stimme empor. "Da irrt Ihr! Eure Zeit ist abgelaufen! Die neuen Herren des Turmes sind wir, und wir erheben Anspruch auf ihn. Öffnet uns die Pforten des Loron, und Ihr könnt Euch unbehelligt aus dem Staub machen. Wenn Ihr aber Widerstand leistet und bleibt, so werdet Ihr wünschen, nie gelebt zu haben."

Einer der Gnome auf dem Podest hatte die Worte geschrien. Bei dem bösen Klang schauderten alle, die sie hörten.

„Diese Drohungen sind nutzlos. Spart sie Euch und kehrt dorthin zurück, von wo ihr gekommen seid. In Centratur ist kein Platz für Euch. Wenn Ihr nicht aufgebt, so wird es keiner von Euch überleben." Aramar sprach ruhig und mahnte zur Vernunft.

„Wie viele seid Ihr denn, dass Ihr es wagt, uns zu drohen?"

„Es kommt nicht auf die Zahl an. Ein Einzelner reicht, um Euch alle zu vernichten."

Großes Gelächter war die Antwort.

„Du willst es nicht anderes“, schrie der Glatzkopf wieder und schleuderte seinen Zauber auf den alten Mann. Doch der prallte wirkungslos ab. Wütend gab der Gnom den Soldaten einen Wink. Ein Pfeilhagel sollte den Zauberer treffen. Dieser hatte dem Heer aber bereits den Rücken gekehrt und die Balkontür geschlossen, so dass die Geschosse nur gegen die Festung prallten.

Kurz darauf setzte der Singsang wieder ein: „Omm amm mi, omm amm mi."

„Es hilft nichts. Den Wahnsinnigen muss eine Lektion erteilt werden. Sie wird fürchterlich sein. Mit dem Turm kann man keine Spiele treiben. Ich werde das Land von diesem Heer befreien."

Der Zauberer schritt durch den Turm. Sein Ziel war der blaue Raum, den die Männer und Smyrna nach dem Erwachen entdeckt hatten. Dort holte Aramar eine schwarze Kugel aus Metall, deren oberes Ende abgeschnitten war, aus einer Vertiefung in der Wand. Es war eine Klangschale. Diese Schale stellte er auf das Gestell in der Mitte des runden Raumes. Dann fuhr er sanft mit einem lederbezogenen Klöppel über die Kante der Halbkugel. Nach ein paar Minuten begann die Schale zu schwingen. Ein tiefer, klarer Ton erfüllte den Raum. Das Volumen des Tones nahm zu, schwoll an, erfasste den ganzen Turm, und das Bauwerk selbst begann zu schwingen. Erst ganz schwach, dann immer mächtiger. Der schwingende Loron erzeugte den gleichen Ton wie die Klangschale. Dieser Ton wurde lauter und lauter. Er breitete sich im ganzen Tal aus. Die Soldaten fühlten ihn mehr, als dass sie ihn hörten. Starr vor Schrecken kam das Wunder über sie und ihnen wurde warm und heiß. Der schwingende Turm brachte ihr Blut buchstäblich zum Kochen. Entsetzen erfasste alle und eine wilde Flucht begann. Die Männer trampelten sich gegenseitig nieder. Alle hatten nur noch einen Wunsch, das Tal Rotamin zu verlassen. Doch es gab kein Entrinnen. Einer nach dem anderen brach zusammen und verendete elend. Auch die Gnome starben. Zuletzt war der Boden übersät mit Leichen. Dreieckigen Wimpel überragten die Ernte des Todes.

„Deine Rache war schrecklich“, sagte Axylia leise. Sie und die anderen Mitglieder der Reisegesellschaft hatten fassungslos aus den Fenstern dem Unheil zugesehen.

„Ich hatte keine andere Wahl." Der mächtige Zauberer hatte sich wieder in den gebückten, alten Mann verwandelt, dem man unter den Arm greifen wollte, um ihn zu stützen. „Wenn wir den Kampf um Centratur nicht verlieren wollen, dann können wir keine Rücksicht nehmen. Entweder wir unterwerfen uns und liefern die Welt dem Bösen aus, oder wir umgeben unsere Herzen mit einem Panzer und vergessen unser Mitleid. Keiner der Angreifer hätte auch nur das geringste Gefühl der Barmherzigkeit mit uns aufgebracht. Doch ich lasse euch die Wahl: geht eurer Wege oder kämpft mit mir."

„Wir haben keine Wahl! Die Spielregeln sind in der Welt, und ihr habt sie eben definiert. Wenn alles vorbei ist, wird der Kampf mit unserem Gewissen beginnen."

Smyrna hatte für alle gesprochen.


Mittagszeit war schon vorbei und Aramar holte aus den Tiefen des Turmes köstliche Speisen. Doch hatte keiner Lust, etwas zu essen. Sie saßen trübsinnig in den weichen Polstern des großen Salons. Urial nahm den Zauberer beiseite und fragte: „Warum habt ihr Quantam bei der Beschreibung des Kraftfeldes nicht erwähnt?“

Die Antwort war kurz und barsch: „Weil dieser Name eines der größten Geheimnisse von Centratur ist. Nicht einmal du dürftest darüber Bescheid wissen!“

Am späten Nachmittag fanden sich alle zur Beratung zusammen.

„Wir brauchen Hilfe“, erklärte Aramar. „Dieser Sieg hier hat nichts zu bedeuten. Der Kampf, der uns bevorsteht wird schrecklich, und die Übermacht des Feindes ist groß. Zwar besitzen wir in Nowogoro und dem Loron zwei wichtige Bastionen und haben Zeit gewonnen, aber ohne Unterstützung bleiben die friedvollen Völker von Centratur ohne Chance."

„Wer könnte denn helfen?" erkundigte sich Galowyn.

„Es gibt nur ein Volk, das stark und mächtig genug für diesen Kampf wäre, die Achajer."

„Die Achajer haben sich auf ihre Inseln zurückgezogen. Wie können sie von unseren Sorgen erfahren? Und wenn sie Bescheid wüssten, würden sie kommen?" Glaxcas Stimme klang verzweifelt.

„Es wäre klug und in ihrem Interesse, wenn sie uns zu Hilfe kämen. Zuerst fällt nämlich Centratur, aber dann streckt der Feind seine Klauen auch nach den Inseln aus. Wie immer sie sich auch entscheiden. Wir müssen sie benachrichtigen. Du wirst zum Golf von Orex reiten, Glaxca. Dort liegt ein Schiff der Achajer. Ich werde einen Brief schreiben, den gibst du dem Kapitän. Dann soll das Schicksal seinen Lauf nehmen. Doch ob nun die Achajer kommen oder nicht, ich werde mit allen meinen Kräften gegen die Feinde antreten."

„Woher soll Glaxca ein Pferd bekommen?" mischte sich Fallsta ein. „Und wie habt ihr beide euch überhaupt getroffen?"

„Getroffen haben wir uns“, fuhr der Zauberer fort, „durch Zufall. Es war im Heimland. Ich war auf dem Weg in den Süden. Da wurde ich von einer ganzen Kompanie Eritsoldaten überfallen. Zwar konnte ich mich wehren, wäre der Übermacht aber doch erlegen, wenn nicht Glaxca vorbeigekommen wäre und mir mit seiner Axt beigestanden hätte.“

„Ich mag es nicht, wenn die Kräfte ungleich verteilt sind", murmelte der Zwerg. „Alte Leute soll man ehren und nicht umbringen.“

„Glaxca hatte dem Morden der Orokòr zusehen müssen und war auf der Suche nach Hilfe. Wir freundeten uns rasch an und setzten unseren Weg gemeinsam fort. Inzwischen haben wir so manche Gefahr erlebt.“

„Wie bekommst du ein Pferd?" fragte Fallsta noch einmal den Zwerg.

„Graufell wird inzwischen den Weg zu uns gefunden haben. Er wird uns ein prächtiges Ross von den Weiden Equans holen." Für Aramar gab es keinen Zweifel an seinem Pferd. „Dann reitet Glaxca nach Norden, und wir gehen nach Süden."

„Was wird mit den Leichen dort draußen geschehen?" fragte Urial. „Wenn sie bleiben und verwesen, vergiften sie das Tal."

„Ich werde mich um sie kümmern“, antwortete der alte Zauberer düster. „Aber zunächst müssen wir festlegen, wer den Loron bewacht."

„Dies ist mein Auftrag. Selbst wenn ihr mich zerreißt, ich werde dem Gebot meiner Oberen folgen, bis zum Tod."

Urial hatte leise aber mit großer Festigkeit in der Stimme gesprochen.

„Du wirst deinen Auftrag erfüllen“, stimmte ihm Aramar zu. „Aber dieser Turm ist zu wichtig, um dich allein zu lassen. Du wirst Hilfe brauchen. Doch wer von uns könnte dich unterstützen?"

„Ich!" sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. Axylia stand auf und trat in die Mitte der Versammlung. „In diesem Turm hat sich mein Schicksal entschieden. Hier werde ich bleiben und wachen, bis meine Zeit gekommen ist."

Aramar erhob sich und sprach mit feierlicher Stimme: „So übertrage ich dir Urial und dir Axylia die Herrschaft über den Loron, den Turm des Weißen Rates. Wenn dieser Turm fällt, so wird auch Centratur fallen, und keine Macht kann dann noch Rettung bringen. Ihr seid allen Geschöpfen dieser Welt mit eurem Blut verantwortlich. Auf eure Schultern lege ich die Verantwortung. Seid stark und klug und widersteht allen Gefahren und Anfechtungen.

Ihr werdet im Loron alles finden, was ihr braucht. Deshalb verbiete ich euch, diesen Turm zu verlassen, bis ich wiederkehre. Böse Mächte werden kommen und versuchen, euch herauszulocken. Wenn ihr euch überreden lasst, ist alles verloren. Ihr seid nur stark im Turm. Vor seinen Mauern werdet ihr zu schwachen Menschen. Haltet die Verbindung mit Nowogoro und seid bei Tag und bei Nacht auf der Hut. Eure Wachsamkeit darf nie erlahmen. Stets darf nur einer von euch schlafen. Und ihr müsst Hader und Zwist unterdrücken. Bedenkt stets: ihr seid das Bollwerk in unserem Kampf. Von euch hängt unser aller Schicksal ab. Mögen die Unsichtbaren euch beistehen!"

Er legte den beiden seine Hände auf den Kopf und wandte sich dann ab.

„Nun kommt noch eine unangenehme Aufgabe“, sagte er endlich.

Er trat hinaus auf den Balkon und erhob beide Hände zum Himmel. Feuer fiel herab und hüllte gleich einem Sturm das Tal ein. Alle toten Krieger verbrannten. Und die Bäume und das Gras und die Hecken, und alles was lebte, verbrannten auch. Das ganze Tal Rotamin wurde schwarz und tot.

„In dieser verwüsteten Landschaft muss ich euch allein lassen“, sagte Aramar bitter, als er zurückkam. „Verzeiht mir, aber ich hatte keine andere Wahl. Auf jeden Tod folgt ein anderer, und die eine Untat zieht die nächste nach sich. Wir haben uns auf den Kampf eingelassen und müssen nun auch die Folgen tragen. Ich hoffe, dass das Leben in diesem Tal bald den Tod überwindet."

Sie schliefen noch eine Nacht im Loron, dann machte sich jeder auf seinen Weg. Glaxca eilte nach Norden, der Zauberer wanderte mit Fallsta, Galowyn und Smyrna nach Süden. Urial und Axylia aber verschlossen den Turm von innen und richteten sich auf eine lange Wache ein.

Centratur - zwei Bände in einer Edition

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