Читать книгу Centratur - zwei Bände in einer Edition - Horst Neisser - Страница 7

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Westen


Obwohl die Welt in Flammen steht, darf das Heimland in dieser Geschichte nicht vergessen werden. Der alte Markgraf kam von seiner Reise in den Süden nicht zurück und hat vor seinem Tod die Herrschaft auf seinen Sohn Horsa übertragen. Der wiederum hat nun mit rebellierenden Untertanen zu kämpfen, und sogar seine eigenen Soldaten wollen ihm ans Leben. Er braucht dringend Verbündete. Deshalb macht sich auf den Weg zu einer Garnison, die in der äußersten Ecke des Heimlands stationiert ist.

Auf dem Weg dorthin tötet er zwei Soldaten und trifft schließlich Marga und Werhan. Gemeinsam erleben sie einen schlimmen Verrat, geraten in viele Gefahren und wandern schließlich durch ein versklavtes Land.

Totschlag


Der junge Markgraf schlich den schmalen Weg von Gutruh hinunter, huschte über die Straße und bog vorsichtig nach Osten ab. Mogs Schwert hing verborgen unter dem alten, weiten Mantel. Auf dem Kopf trug er eine zerbeulte Mütze. Das Gesicht hatte ihm Ev sorgfältig mit Schmutz eingeschmiert, damit man ihn auf keinen Fall als den überall gesuchten Grafen erkannte. Die fremden, abgetragenen Kleider waren schon unangenehm, aber der Dreck im Gesicht brachte ihn schier zur Verzweiflung. Doch er wusste, diese Verkleidung war notwendig, so schickte er sich in sein Missbehagen.

Horsas Ziel war die Alte Oststraße, die nördlich um Heckendorf herumführte. Sie wurde jetzt nur noch von Bauern benutzt. Heute wusste niemand mehr im Heimland, wer diese Straße einst angelegt hatte. Es gab sie schon, als die Erits vor undenklichen Zeiten eingewandert waren. Die großen Könige bauten erst Jahrhunderte später die heutige Oststraße. Dass alle Reisenden die neue Straße bevorzugten, war nicht weiter verwunderlich. Im Gegensatz zur Alten Oststraße verlief sie gerade und war darum um ein Vielfaches kürzer.

Bald hatte Horsa die erste Wiese überquert und sich durch zwei Hecken gezwängt. Das Dorf lag nun schon in einiger Entfernung hinter ihm. Kein Haus war mehr zu sehen. Das Gras war noch feucht vom Morgentau, und seine Hosenbeine nass bis zu den Knien. Er kümmerte sich nicht darum, sondern ging munter weiter. Flink sprang er über Gräben und schlüpfte durch immer neue Hecken. Er fühlte er sich frei. Beinahe hätte er ein Lied gepfiffen, so machte ihm diese Morgenwanderung Spaß.

Die Alte Straße, die er schließlich erreichte, war einst gepflastert gewesen. Davon waren jedoch nur noch wenige Steine übrig. Jetzt bestand sie aus zwei tief ausgefahrenen Furchen, zwischen denen Gras wuchs. Auf beiden Seiten säumten Schlehenhecken und Hagebuttensträucher den Weg. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, und der Wanderer fand, dass es Zeit für eine Rast war. Guten Mutes setzte er sich in den Sonnenschein, breitete seinen Mantel aus und legte das Schwert neben sich ins Gras. Ev hatte ihm viele gute Sachen eingepackt, die er mit großem Genuss verzehrte.

Bis zum Einbruch der Nacht hatte er noch immer keine Menschenseele getroffen, nicht einmal als er am späten Nachmittag die Kleestraße, die zum fernen Beistalsee führte, kreuzte. Horsa suchte sich einen gemütlichen Platz in einem winzigen Hain, der nur aus fünf Bäumen bestand und mitten in den Wiesen abseits der Straße lag. Dort rollte er sich in seinen Mantel und schlief unbeschwert. Spät am nächsten Morgen reckte er sich und gähnte. Dann aß er mit mächtigem Appetit von seinen Vorräten, trank aus seiner Feldflasche und machte sich wieder auf den Weg.

Er kam auch an diesem Tag gut voran. Schließlich erreichte er die Steinbruchstraße und bog dort auf den schmalen, staubigen Weg ein, der nach Norden führte. Im Gegensatz zur Alten Straße gab es hier keine Hecken und nur vereinzelte Obstbäume spendeten Schatten. Die Herbstsonne brannte heiß von einem blauen, wolkenlosen Himmel. Horsa begann, unter seinem Mantel zu schwitzen.

Noch immer hatte es keine Zwischenfälle gegeben. Er wollte wieder einmal zum Singen ansetzen, da hörte er das Klopfen von Pferdehufen auf der ausgetrockneten Erde. Erschrocken suchte er nach Deckung, aber weit und breit war nichts, hinter dem er sich hätte verbergen können.

In der Ferne tauchten zwei Reiter auf, die ihren Pferden die Sporen gaben und rasch näherkamen. Minuten später zügelten sie ihre Ponys an seiner Seite. Es waren Soldaten des Markgrafen, ein Unteroffizier mit grauen Haaren und ein einfacher Soldat, der noch nicht einmal volljährig war. Dieser junge Bursche war sicher erst vor kurzem zur Armee eingezogen worden. Beide trugen keine blitzenden Uniformen sondern abgewetzte Wamse und zerschlissene Stiefel mit abgetretenen Absätzen. Sie waren nicht zu vergleichen mit dem eitlen Major, den er und Mog bei ihrer Flucht aus den Windspitzbergen getroffen hatten. Dies hier war das Fußvolk, Männer, für die der Dienst im Heer alles andere als ein Vergnügen war, die immer zu kurz kamen. Sie mussten stets die unangenehmen Aufgaben ausführen, den am wenigsten beliebten Dienst tun. Natürlich hatten auch sie Lust auf ein wenig Plündern; doch, wenn sie endlich zum Zuge kamen, war die Beute längst verteilt, und ihnen blieb das Nachsehen. Das waren die Enttäuschten, die Verbitterten, und das machte sie gefährlich.

„Wer bist du?" herrschte der Ältere den Grafen an.

„Ein Knecht aus Mühlendorf“. Horsa versuchte seiner Stimme einen furchtsamen Klang zu geben. „Aber wer seid ihr?"

„Wir sind zwei arme Schweine, die bei dieser Hitze nach dem Rechten sehen und Grafen suchen müssen. Aber das geht dich gar nichts an. Hier stellen wir die Fragen“.

„Sehe ich wie ein Graf aus?"

„Nein, weiß Gott nicht“. Die Antwort kam spontan, und sie ärgerte Horsa.

Der Sergeant fuhr mit dem Verhör fort: „Auch, wenn du kein Graf bist, was machst du hier?"

„Ich bin auf dem Weg nach Steinbruch“.

„Was willst du dort? Antworte Bursche, sonst hole ich dir die Worte einzeln aus dem Mund, und das wird dir nicht gefallen“. Der Soldat war wütend. „Wegen euch Gelichter müssen wir hier herum traben“.

„Ich soll dort etwas abgeben“. Horsas Stimme zitterte, er kam ins Stottern und bemerkte verzweifelt, dass er versäumt hatte, sich rechtzeitig eine Ausrede zu überlegen.

„Was sollst du abgeben und wem?"

„Arznei für meine Großmutter“.

„Laß' seh'n!"

„Ich habe sie in meinem Rucksack“.

„Vorzeigen!"

Ächzend stiegt der Sergeant vom Pony und kam auf ihn zu. In diesem Augenblick geriet Horsa in Panik. Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, riss sein Schwert unter dem Mantel hervor, rannte auf den alten Soldaten zu und stieß es ihm, ohne lange zu überlegen, in den Leib. Dabei blickte er seinem Opfer ins Gesicht. Er sah die Augäpfel, sah, dass das Weiß mit einem gelblichen Schleier überzogen war. Er sah den abgeschabten Kragen der schäbigen Uniform und die unrasierten Wangen. Blut spritzte in einem breiten Strahl aus der Wunde, die das Schwert gerissen hatte und traf den Täter.

Ohne sich weiter um den Sergeant zu kümmern, stürzte Horsa zu dem anderen Soldaten, der starr vor Schreck auf seinem Pony saß. Als der vermeintliche Bauerntölpel mit dem blutigen Schwert auf ihn zusprang, erwachte er aus seiner Lähmung. Er ergriff die Zügel und gab dem Pferd die Sporen, aber schon war Horsa bei ihm und riss ihn aus dem Sattel. Hart schlug der Soldat auf dem staubigen Boden auf. Er war von dem Sturz noch betäubt, als ihm bereits die Kehle zugedrückt wurde. Horsa roch den Schweiß des jungen Burschen, den Schweiß der Hitze und den Schweiß der Angst. Er roch den säuerlichen Gestank aus dem Mund des Mannes und drückte noch fester zu. Verzweifelt schlug dieser um sich, aber der Graf hielt eisern fest. Schließlich wurden die Bewegungen des Überfallenen schwächer und sein Gesicht bleich. Dann ging ein Zucken durch seinen Körper, und er war tot. Ruhig lag er da, nur noch ein dünner Speichelfaden rann aus seinem offenen Mund.

Horsa stand auf und sah verwirrt auf die beiden Toten. Er hatte die Soldaten umgebracht! Er ekelte sich vor dem Tod, dem Schmutz und vor sich selbst. Das Blut an seiner Kleidung widerte ihn an. Er übergab sich so lange, bis sein Magen völlig leer war. Dann setzte er sich in den Staub und weinte bitterlich.

Immer wieder stammelte er: „Was habe ich getan? Was habe ich getan? Das wollte ich nicht! Wirklich, das wollte ich nicht!"

Als er sich wieder gefasst hatte, reinigte er sich von den Spuren des Kampfes. Zuerst säuberte er seinen Mund und wischte die Blutspritzer von seiner Kleidung, so gut es eben ging. Dann reinigte er sein Schwert am Mantel des Sergeanten. Zuletzt schleifte er die Leichen zum Straßenrand und bedeckte sie notdürftig mit trockenem Gras. Als alles gerichtet war, bestieg er eines der Ponys, nahm das andere am Zügel und trabte nach Norden.

Es war ihm klar, dass er die Steinbruchstraße so bald wie möglich verlassen musste. Die Herbstsonne brannte unbarmherzig vom Himmel. Gerne hätte er sich gewaschen, denn er fühlte sich innen und außen schmutzig. Doch Wasser war weit und breit nicht zu entdecken. Seinen Mantel trug er längst nicht mehr. Er hatte ihn hinten am Sattel zusammengerollt festgebunden, und sein Schwert hing offen an seiner Seite. Welchen Zweck sollte es noch haben, die Waffe zu verbergen? Er war ein Mörder und würde bald als Mörder gejagt werden. Es gab kein Ausweichen und keine Hoffnung auf Flucht.


Er mochte eine Stunde geritten sein, da sah er in der Ferne eine Staubwolke. Auf der Höhe von Windfeld war der Markgraf so nahe an die Staubwolke herangekommen, dass er sie als einen Flüchtlingstreck erkennen konnte, der sich mühsam dahinschleppte. Es waren elf Leute, die zwei Leiterwagen zerrten und schoben. Er zügelte sein Pony und fragte, wohin die Gesellschaft unterwegs sei?

Ein alter Mann, der nur noch zwei Zähne im Mund hatte, antwortete: „Nach Norden“.

„Das sehe ich. Aber was ist euer Ziel?"

„Wir haben kein Ziel, Herr. Unser Ziel ist es, in nächster Zeit etwas Essbares zu finden und eine ruhige Nacht zu verbringen. Das sind die Ziele, die für uns noch erreichbar sind. Alle anderen haben wir schon lange aufgegeben“.

„Ihr müsst doch wissen, ob ihr nach Steinbruch oder Eichelhain wollte?"

„Ganz wie es Euch beliebt, Herr!"

„Nicht wie es mir beliebt. Ich möchte wissen, was ihr vorhabt“.

„Warum möchtet Ihr das wissen?"

„Vielleicht kann ich mit euch reisen?"

„Das würde Euch wenig Freude machen. Wir kommen nur langsam voran, und Ihr seid auf euren beiden Ponys viel schneller als wir. So viel Zeit, wie wir brauchen, habt Ihr sicher nicht. Zeit ist das einzige, was uns noch geblieben ist. Alles andere haben wir verloren“.

„Ich will aber mit euch reisen. Meine Ponys könnten wir vor eure Karren spannen, dann kämen wir schneller voran“.

„Zu gütig, der Herr. Doch dieses Entgegenkommen können wir nicht annehmen“.

„Heißt das, ihr wollt mir verbieten, mit euch zu ziehen?"

„Was heißt verbieten, Herr? Flüchtlinge können niemanden etwas verbieten. Wir sind nur geduldet. Aber es wäre für uns und für Euch nicht gut, wenn wir zusammen gesehen würden“.

„Wir sollten den gütigen Patron erst einmal begrüßen“, mischte sich nun eine helle Stimme ein. Sie gehörte einem jungen Mann, der vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt war. Er ging auf Horsa zu und schüttelte ihm die Hand.

„Ich heiße Werhan“, sagte er freundlich. Dann wandte er sich an den Alten: „Lasst ihn, Vater Adelkrag! Wenn er unbedingt will, soll er eben mit uns ziehen. Die Hilfe seiner Ponys können wir gut gebrauchen. Wir alle sind in dieser Hitze am Ende unserer Kräfte“.

Das Wort des jungen Mannes schien Gewicht zu haben, denn der Alte gab sofort nach, obgleich er noch einwandte: „Ich bin nicht deiner Meinung, Werhan. Ich habe so ein Gefühl, als würde uns dieser Fremde in große Schwierigkeiten bringen“.

„Was haben wir zu verlieren?" Und an Horsa gerichtet, fragte Werhan: „Wie heißt Ihr?"

"Ich heiße Käsbein“.

"Na gut, Herr Käsbein, steigt ab und spannt Eure Pferde vor. Dann wollen wir machen, dass wir weiterkommen. Vielleicht findet sich irgendwo ein schattiges Plätzchen für eine Rast. Verdient hätten wir's. Diese verdammte Sonne ist noch schlimmer als der ewige Regen, den wir zuvor hatten“.

Rasch wurden die Pferde abgesattelt, und die Sättel auf einem der Wagen verstaut. Dann zauberte Werhan Pferdegeschirr herbei, und kurz darauf zog der Treck mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Die Menschen liefen nun aufrecht und unbeschwert neben den Wagen. Horsa hatte sein Schwert, bevor er auf die Flüchtlinge getroffen war, in seinen Mantel gesteckt und trug das Paket unter dem Arm. Werhan gesellte sich zu Horsa und sprach mit ihm über so belanglose Dinge wie das Wetter und den Weg. Dabei legte er immer wieder vertraulich seine Hand auf Horsas Arm. Neben Werhan lief ein junges Mädchen. Es war vielleicht zwei Jahre jünger als der Mann. Werhan hatte sie als seine Schwester Marga vorgestellt. Sie waren schon über eine Stunde unterwegs, da blieb Marga plötzlich ängstlich stehen.

„Vor uns kommen Reiter", sagte sie.

„Na, dann sollen sie kommen“, antwortete Werhan.

„Aber es sind Soldaten!"

„Wir können vor ihnen nicht davonlaufen, also sollten wir uns auch nicht vor ihnen fürchten“.

Die Karawane zog weiter. Weit und breit war nichts zu sehen, was auf nahende Soldaten hingedeutet hätte.

„Woher will sie wissen, dass Soldaten kommen?" fragte Horsa erstaunt.

„Von den Vögeln“, antwortete ihr Bruder.

„Was heißt: von den Vögeln?"

„Marga versteht die Sprache der Vögel, und die Vögel rufen sich gegenseitig alles zu, was im weiten Umkreis vor sich geht. Sie haben auch dein Kommen angekündigt, und sie haben berichtet, was da im Süden einige Wegstunden hinter uns geschehen ist“.

Horsa war rot im Gesicht geworden.

„Was meinst du mit, ‘was da im Süden geschehen ist’?"

„Da hat ein Kampf stattgefunden, und da liegen Leichen. Wir sind jetzt eine Schicksalsgemeinschaft“. Werhan duzte den neuen Gefährten: „Es wäre besser, wenn du mir reinen Wein einschenken würdest. Nur so kann ich dir helfen, und nur so kann verhindert werden, dass man uns mit dir zusammen henkt“.

Horsa presste trotzig die Lippen zusammen. Konnte er diesen daher gelaufenen Gestalten wirklich vertrauen?

„Es wäre besser, du würdest reden“, drängte Werhan. „Wir haben nicht mehr viel Zeit“.

„Es gibt nichts zu reden“.

„Nun gut, du wirst deine Gründe dafür haben, dass du mir nicht die Wahrheit sagst. Für jetzt gebe ich mich damit zufrieden. Ich werde dir, wenn wir auf die Soldaten treffen, helfen. Aber merke dir, du kannst auf mich nur einmal rechnen und dann nie wieder, wenn du nicht mit deiner Geschichte herausrückst“. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Noch etwas! Wenn die Soldaten kommen, lass mich reden. Sage nichts, auch wenn du direkt angesprochen wirst. Es hängt alles davon ab, dass du dich nicht einmischst. Dein Bündel versteckst du übrigens besser in einem unserer Wagen“.

Gejagt


Es verging keine halbe Stunde, da sahen sie Reiter. Es war ein gutes Dutzend. Alle in glänzenden Uniformen und bis an die Zähne bewaffnet. Horsa überlegte, ob diese Männer zu der Garnison in Steinbruch gehörten. Dann könnte er sich zu erkennen geben, bräuchte nicht weiter Versteck zu spielen und wäre bereits am Ziel seiner Wanderung angelangt. Schon wollte er vortreten und seinen Namen sagen, aber eine innere Stimme warnte ihn. Es war besser, kein Risiko einzugehen. So hielt er sich für den Moment noch zurück.

Die Schar kreiste den Flüchtlingstreck ein, und ihr Anführer fragte barsch nach Herkommen und Ziel. Wahrheitsgetreu gaben die Menschen Auskunft. Horsa verbarg sich bei der Befragung hinter einem Planwagen und hoffte, übersehen zu werden. Aber weit gefehlt. Der Hauptmann hatte ihn erspäht und rief erstaunt: „Was will dieser Erit bei euch?"

Ohne zu zögern antwortete Werhan, und seine Stimme hatte einen so servilen Ton, dass es den Grafensohn schauderte: „Ach, das ist nur Käsbein. Er ist ein wenig blöd im Kopf. Wir sollen ihn in Lindendorf abliefern. Dort ist er einem Bauern als Knecht verdingt. Allein konnte man ihn nicht auf den Weg schicken. Deshalb haben uns die Seinen Geld gegeben und gebeten, ihn mitzunehmen. Schließlich ziehen wir auch nach Lindendorf, und seine Familie spart sich so einen weiten Weg“.

„So, er ist ein bisschen blöd?" mischte sich nun der zweite Offizier ein. „Wenn man mit Flüchtlingen durch die Gegend walzt, muss man in der Tat sehr blöd sein. Mit einem Gesindel wie euch würde ich nicht einmal eine Meile gehen, ohne zu kotzen. Schließlich stinkt ihr und klaut wie die Raben“.

„Sehr wohl, Herr Offizier“, antwortete Werhan noch unterwürfiger, „wir stinken. Aber wir würden es niemals wagen, Euer Ehren, einen Erit zu bestehlen. Wir haben die allergrößte Ehrfurcht vor Erits. Der Ruhm der Erits ist bis an die Grenzen von Centratur gedrungen“.

Nun trägt er zu dick auf, dachte sich Horsa. Aber es schien der richtige Ton zu sein, denn der Soldat zeigte sich befriedigt und wechselte das Thema.

„Gut genährte Ponys habt ihr“, sagte er mit einem misstrauischen Ton in der Stimme. „Wie kommen arme Flüchtlinge zu solchen Tieren?"

„Ja, den Tieren ging es bisher gut, wenngleich sie schon alt und ein wenig struppig sind. Aber Euer Hochwohlgeboren haben natürlich sogleich erkannt, dass uns Flüchtlingen solche Tiere nicht zustehen. Da sieht man wieder den guten Blick, den Euer Ehren haben. Natürlich können dies nicht unsere Tiere sein, und es sind auch nicht unsere Tiere. Wir haben diese Ponys in Kommission genommen. Wir sollen sie zusammen mit dem Blödel in Lindendorf abliefern“.

Als er erneut blöd genannt wurde, zuckte Horsa zusammen. Dieser ungezogene Bengel verletzte ständig seine Ehre. Zwar verstand er die Taktik, die Werhan verfolgte, aber er musste sehr an sich halten, um nicht laut zu protestieren. Er presste seine Hände zu Fäusten, bis seine Fingernägel tief ins Fleisch drangen. Der Schmerz half ihm, die Fassung zu bewahren.

„In seiner Familie ist der Blödel mit seiner Blödheit scheinbar nicht allein. Leute, die einem Gelichter wie euch zwei Pferde anvertrauen, müssen selbst ganz schön blöd sein. Nun macht aber, dass ihr weiterkommt und haltet uns nicht mehr auf. Wir haben es eilig und haben durch euch Pack schon viel Zeit verloren“.

Die Reiter gaben ihren Pferden die Sporen, und die Kavalkade brauste davon.

„Na, ist das nicht gut gegangen?" wandte sich Werhan triumphierend an Horsa. Er wollte gelobt werden, aber dieser knirschte nur mit den Zähnen und sagte gepresst: „Wenn du mich noch ein einziges Mal blöd oder Blödel nennst, schlage ich dir die Zähne ein“.

Der junge Mann war noch immer gut gelaunt und ging auf die Drohung nicht weiter ein. Er sagte nur: „Sieh da, sieh da, unser Gast leistet sich den Luxus und hat Ehrgefühle. So etwas gewöhnt man sich als Flüchtling rasch ab. Wenn du bei uns bleiben willst, mein Lieber, musst du lernen noch mehr wegzustecken“.

„Ich will aber nicht bei euch bleiben, verdammt noch mal“, schrie der Markgraf.

Die anderen Mitglieder des Trecks hatten bisher kein Wort gesprochen, sondern dem Streit der beiden jungen Männer nur zugehört. Jetzt sagte eine der Frauen: „Ich glaube, wir müssen weiter“.

„Und ob wir weiter müssen“, erklärte Werhan ruhig. „Bei diesem Tempo brauchen die Reiter knapp drei Stunden, bis sie die Toten finden. Sie werden dann sofort umkehren, um Jagd auf uns zu machen. Ihre Pferde sind dann jedoch schon müde. Das bedeutet, dass sie für den Rückweg vier Stunden benötigen. Wir haben also insgesamt sieben Stunden, um zu verschwinden. Wenn sie uns erwischen, werden sie kurzen Prozess mit uns machen“.

Dies war eine nüchterne Situationsbeschreibung und traf den Sachverhalt genau. Horsa wurde bewusst, in welche Lage er diese armen Menschen gebracht hatte. Wenn sie durch die Soldaten umgebracht würden, so wäre es seine Schuld. Aber warum hatten sie ihm geholfen? Warum hatten sie ihn aufgenommen? Sie schienen doch genau über seinen Mord im Bilde zu sein.

Werhan fuhr fort: „Wir müssen herunter von der Straße. Hier werden sie uns zuerst suchen. Östlich von hier fließt der Erfstrom. Dort wollen wir ein Versteck suchen“.

Es begann ein Wettlauf mit der Zeit. Die Wagen wurden ohne weiteren Disput quer feldein nach Osten gelenkt. Sie fuhren durch staubige Felder und zogen eine große Dreckwolke hinter sich her. Damit sie schneller liefen, gab man den Pferden kräftig die Peitsche. Die einfachen Karren holperten und rumpelten, und die Menschen stolperten hinterher.

„Wir hinterlassen einen großen Wegweiser“, keuchte Horsa zu Werhan und deutete auf die Staubwolke am Himmel. Sie waren seit zwei Stunden unterwegs und kamen trotz aller Anstrengungen nur mühsam voran. Immer wieder gruben sich die Wagenräder in den lockeren Boden, und alle mussten helfen, die Karren wieder flott zu machen.

„Die Soldaten werden schon nicht zurückblicken. Wir müssen über diese Felder, wenn wir entkommen wollen“.

„Aber die ganzen Anstrengungen sind doch sinnlos. Unsere Spur ist unübersehbar, und die Soldaten brauchen ihr nur zu folgen. Eine bessere Fährte kann man kaum legen“.

„Daran haben wir natürlich gedacht“. Werhan lachte. „Blöd sind wir nämlich nicht“.

Als das Wort 'blöd' fiel, hätte der Markgraf diesem daher gelaufenen Flüchtling am liebsten ins Gesicht geschlagen.

„Also blöd sind wir nicht“, wiederholte dieser noch einmal, „deshalb sind einige von uns zurückgeblieben und verwischen mit Ästen die Spuren“.

Horsa wusste nichts zu entgegnen und schwieg. Die Umsicht, mit der diese Menschen seine Probleme lösten, nötigte ihm Hochachtung ab. Es war beinahe dunkel, als sie endlich das Rauschen des großen Stromes vernahmen. Die Leute waren zu müde, um noch ein Lager aufzuschlagen. Jeder ließ sich niederfallen, wo er gerade stand und schlief ein. Nicht einmal Wachen stellten sie auf. Beim ersten Morgengrauen wurde Horsa an der Schulter gerüttelt. Es war Werhan, der ihn weckte. Müde und zerschlagen erhob sich der Graf. Da sah er Marga, die schon wartete. Gemeinsam gingen sie hinunter zum Fluss und setzen sich dort wortlos ins feuchte Gras. Das Mädchen begann zu pfeifen und zu trällern, und die Vögel antworteten.

„Die Reiter haben die Leichen gefunden“, übersetzte sie schließlich mit tonloser Stimme. „Sie reiten die Straße zurück nach Norden. Sie sind bereits bei den Häusern angekommen. Reiter in der Dunkelheit. Vor den Häusern sind Zelte. Viele Zelte. Großer Aufruhr. Viele Reiter brechen auf. Viele Reiter reiten nach Süden auf der Straße. Reiter reiten über die Felder“.

„Genau wie ich es vorhergesagt habe“, meinte Werhan befriedigt.

„Deine Rechthaberei hilft uns wenig“, warf Horsa bitter ein. „Sie werden uns noch heute aufspüren, da bin ich mir sicher“.

„Das weiß ich auch, deshalb müssen wir schnell weg“.

„Aber wohin?"

„Über den Fluss“.

„Verdammt noch mal, wie willst du den Fluss überqueren?" Horsa war ungehalten. Schon seit seiner Kindheit hatte er sich über törichtes Gerede geärgert. „Die nächste Brücke ist viele Meilen flussabwärts. Wir sollten endlich einen vernünftigen Plan fassen“.

Werhan blieb gelassen. Er ignorierte den Zorn des Grafen.

„Ich habe in der Nacht, während ihr geschlafen habt, eine kleine Erkundung unternommen und dabei eine interessante Entdeckung gemacht. Das Wasser zwischen dem westlichen Ufer und der Insel vor uns ist so seicht, dass wir mit den Wagen hinüberkommen. Wir sind durch Zufall auf eine Furt gestoßen. Ich kann nur hoffen, dass die Soldaten diese Furt nicht kennen“.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?" Horsa versuchte einzulenken. „Du hättest mich wecken sollen, dann hätten wir die Gegend gemeinsam erkundet“.

„Das war nicht nötig. Der Schlaf hat Euch gutgetan, Herr“. Werhan war in seinen unterwürfigen Ton verfallen. „Doch wenn Ihr es nun gestattet, so sollten wir uns auf den Weg machen“.

Horsa spürte den Spott und zügelte seinen aufflammenden Zorn. Noch brauchte er diese Flüchtlinge. Natürlich hätte er seine Pferde nehmen können und den Fluss entlang nach Norden reiten. Die Leute wären dann mit ihren Wagen hier im Dreck stecken geblieben. Sie hätten sehen können, wo sie blieben. Dieser Gedanke erheiterte ihn. Aber er kam nicht dazu, ihn weiter auszumalen, denn nun bemerkte er, dass Werhan die ganze Zeit vertraulich die Hand auf seiner Schulter liegen hatte. Er schüttelte sie ab, empört über diese ungebührliche Vertraulichkeit. Der junge Mensch sagte nichts, wandte sich ab und organisierte den Aufbruch. Kurze Zeit später strebten alle dem nahen Fluss zu.


Das Ufer war mit Büschen bewachsen und fiel etwa drei Fuß ab. Werhan zeigte auf eine Stelle, wo die Uferböschung sich leicht senkte. Dorthin trieben sie die Ponys. Horsa war skeptisch, und auch der alte Vater Adelkrag warnte. Das Wasser war auch dort noch tief und reißend. Das Übersetzen würde gefährlich werden. Aber Werhan überging alle Einwände und lenkte den ersten Wagen selbst ins Wasser. Seine Einschätzung, es gebe eine Furt zwischen Ufer und Insel, war richtig und falsch zugleich. Das Wasser schlug über dem Pony zusammen, das in seinem Geschirr sogleich zu schwimmen versuchte. Werhan, der es führte, zwang es zum Waten. Aber der Wagen schwamm auf und wurde abgetrieben. Die Lage wurde gefährlich, und alle Flüchtlinge stürzten sich ins Wasser, um ihre Habe zu retten.

In diesem Augenblick wurde Werhan von einem Strudel erfasst. Er trieb hilflos von dem Wagen weg und immer schneller den Fluss hinab. Ohne zu überlegen schwamm Horsa hinter ihm her, bekam ihn zu fassen, und gemeinsam kämpften sie gegen die Strömung. Beiden drohten die Kräfte zu schwinden. Im letzten Moment gelang es Horsa, einen tief und weit über den Fluss hängenden Ast zu fassen. Er klammerte sich mit der linken Hand an das nasse Holz und hielt mit der rechten die Jacke des Mannes. Marga eilte am Ufer herbei. Sie hielt ein Seil in den Händen, das sie den beiden im Wasser zu warf. Lange dauerte der Kampf ums Überleben. Keuchend und Wasser spuckend lagen die Männer endlich am Ufer.

Als sie wieder atmen konnten, richtete sich Werhan auf und sagte: „Ich danke dir Horsa. Ohne dich wäre ich verloren gewesen. Nach allem, was ich von dir weiß, hätte ich das nicht von dir erwartet. Ich stehe nun in deiner Schuld“.

„Nein, du hast mir nicht zu danken. Seit gestern stehe ich in eurer Schuld. Ohne mich wärt ihr nicht hier, und ohne mich hättet ihr niemals diesen Fluss überqueren müssen. Was ihr für mich getan habt, ist mir erst bewusst geworden, als ich dich dort hilflos im Wasser treiben sah“.

Werhan legte ihm lange die Hand auf die Schulter und sah ihm tief in die Augen. Dann nickte er ernst.

„Deine Gedanken haben sich tatsächlich verändert“, sagte er warm. „Ich glaube, nun sind wir eine Gemeinschaft“.

Marga hörte ihnen zu. Ihre Augen glänzten, und man konnte erraten, dass sie geweint hatte. Aber sie sagte kein Wort. Der Graf sah sie mit neuer Aufmerksamkeit an. Ihre Kleider und ihr Gesicht waren schmutzig. Auf ihren nackten Armen waren rote Kratzer von Dornen. Das schwarze Haar war verfilzt. Aber dennoch war das Mädchen schön. Sie hatte eine zierliche Gestalt und war so groß wie er. Seltsame Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Doch für solche Überlegungen blieb ihm keine Zeit.

„Wie kommt es, dass du schwimmen kannst? Ich weiß, dass Erits das Wasser scheuen“. Der junge Mann unterbrach seine Gedanken.

„Eines Tages traf ich auf einem meiner Streifzüge durch die Rentnitzau einen fremden Mann. Er war groß und hatte eine seltsam helle, beinahe weiße Haut. Am auffälligsten aber war ein feuerrotes Mal, das sich quer über sein Gesicht zog. Er sprach mich an und wünschte mir einen guten Tag. Ich wollte gerade Rast machen, und so setzten wir uns nach einem kurzen Gespräch an das Ufer der Rentnitz und packten unsere Vorräte aus. Der Mann war freundlich, nannte aber nicht seinen Namen. Später fragte er mich wie zufällig, ob ich schwimmen könne und, als ich verneinte, ob ich es lernen wolle. Meine größte Sorge war schon immer, so ängstlich und kleinkariert zu werden wie die anderen Erits im Heimland. Deshalb stimmte ich zu, und der Mann brachte mir das Schwimmen bei. Als meine Landsleute später sahen, dass ich freiwillig ins Wasser sprang, erklärten sie mich für verrückt. Heute hat sich die Mühe ausgezahlt.“

Sie hatten keine Zeit, noch länger über Horsas verborgene Talente zu sprechen, denn Werhan mahnte zur Rückkehr. Dort sahen sie, dass in der Zwischenzeit die übrigen Flüchtlinge unter der Führung von Vater Adelkrag Wagen und Pferd gerettet hatten. Gemeinsam packten sie nun an und unter großen Mühen war nach etwa einer Stunde das Übersetzen erfolgreich beendet. Die beiden Ponys und die Karren wurden sorgsam im Gebüsch verborgen, und alle lagen schließlich erschöpft im Gras auf der Insel.


Kaum waren sie ein wenig zu Atem gekommen, da flüsterte Marga: „Die Reiter kommen“.

Bald darauf sahen sie durch die Zweige, hinter denen sie sich verborgen hatten, Reiter am anderen Ufer. Sie trugen Uniformen und suchten sorgfältig alles ab. Ihre Zahl war groß. Die Leute auf der Insel wagten kaum zu atmen.

„Sie werden bald weiter reiten“, flüsterte Werhan beruhigend.

Aber er täuschte sich. Die Soldaten blieben und schlugen im Schein der warmen Nachmittagssonne nahe dem Flussufer ein Lager auf. Zelte wurden aufgestellt, Feuer entzündet, die Offiziere ließen zum Appell antreten. Die Leute auf der Insel waren gefangen.

„Wir müssen still ausharren“, brummte Adelkrag wütend. „Vielleicht nächtigen sie nur und ziehen morgen weiter?

„Ich kann nicht warten“, sagte der Graf. „Dazu habe ich keine Zeit“.

„Diese Zeit werdet ihr Euch wohl nehmen müssen“, entgegnete ihm der Alte.

„Ich kann nicht!" Horsa war verzweifelt.

„Willst du uns nicht endlich die Wahrheit sagen?" Werhan hatte ganz ruhig gesprochen, aber seine Worte brachen den Bann. Von Anfang an erzählte Horsa seine Geschichte, er sprudelte sie beinahe heraus. Er berichtete von seiner Flucht und endete mit dem Mord an den Soldaten. Seine neuen Gefährten hörten ihm aufmerksam zu, und ihre Gesichter wurden immer ernster.

Horsa beendete seine lange Erzählung mit den Worten: „Ich muss sofort den Widerstand organisieren“.

„Es gibt noch eine andere Gefahr“, erklärte ihm Werhan zu. „Orokòr sind an den Grenzen dieses Landes gesehen worden“.

Der Markgraf erbleichte und sagte: „Dann darf ich erst recht keine Zeit mehr verlieren“.

„Du hast recht“, stimmte Werhan zu, „und ich werde mit dir gehen“.

Marga meldete sich schüchtern zu Wort und zu Horsas Erstaunen, erklärte auch sie, dass sie ihn begleiten wolle. Niemand widersprach. Vater Adelkrag, so wurde nach kurzer Beratung beschlossen, solle mit dem Treck auf der Insel verweilen, bis die Soldaten abgezogen wären. Sie hatten einige Vorräte, von denen sie ein paar Tage zehren konnten. Horsa gelobte, aus Steinbruch Hilfe zu schicken. Aber die Flüchtlinge sahen ihn nur skeptisch an.

Auf der westlichen Seite des Flusses war das Soldatencamp, also blieb für ihre Flucht nur der Osten. Dort aber floss der Hauptarm des Erfstroms. Schwimmend war die Strömung nicht zu bezwingen. Ein Floß schien die Lösung. Zum Glück war der östliche Teil der Insel mit Bäumen dicht bewachsen und von den kampierenden Soldaten so weit entfernt, dass diese die Axtschläge nicht hören konnten. Die Stämme wurden mit Seilen verbunden, drei Ruder sollten das ungeschlachte Schiff manövrierfähig machen. Horsa, Werhan und Marga schnallten ihre Bündel um und sprangen auf die Stämme, die sofort tief ins Wasser eintauchten. Die alten Leute schauten ihnen mit versteinerten Mienen nach.

In der Nähe der Insel war das Wasser noch verhältnismäßig ruhig, und Horsa stellte sich schon auf eine leichte Überfahrt ein. Doch die Freude war verfrüht, denn plötzlich ergriff die Strömung das schwache Floß und warf es hin und her. Es drehte sich um sich selbst, und die unerfahrenen Schiffer ruderten, so gut sie konnten, um es wieder unter Kontrolle zu bringen. So sehr sie sich jedoch mühten, das östliche Ufer kam keinen Meter näher. Stattdessen wurden sie immer weiter abgetrieben.

„Wir schaffen es nicht“, schrie Horsa, um das Tosen des Flusses zu übertönen.

„Wir müssen“, war Werhans lapidare Antwort.

Da erhob sich Marga. Voller Staunen sah Horsa zu ihr hinüber. Obgleich das Floß schlingerte und schwankte, stand sie ganz ruhig und breitete die Arme über dem Kopf aus. Dann rief sie mit heller Stimme Worte, die der Graf nicht verstand. War es Magie? Halfen Vögel, Fische oder andere Lebewesen? Horsa wusste es später nicht mehr zu sagen. Aber er erinnerte sich, dass das Floß mit sanfter Gewalt zum östlichen Ufer getrieben wurde und endlich lautlos anlegte. Die Männer griffen nach Zweigen an der Uferböschung, und dann standen sie wieder auf dem Trockenen. Die Strömung riss die Baumstämme zurück in die Flussmitte. Das Wasser begann zu kochen. Aus den Fluten ragten grüne Steine gegen die das Holz mit lautem Krach prallte und zerbarst.

„Diese Stromschnellen hätten uns das Leben gekostet“, sagte Horsa atemlos.

Bewundernd sah er sich nach Marga um. Hoch aufgerichtet und stolz stand sie da. Ihre nassen Kleider klebten an ihrem schmalen Körper. Die untergehende Sonne stand hinter ihr, und in ihrem Schein bot sich die junge Gestalt hüllenlos den Augen des Grafen. Der konnte sich nicht satt sehen. Der Mann wäre am liebsten aufgesprungen und hätte sie in die Arme genommen.

„Mein Schwesterlein entwickelt Fähigkeiten, die nicht einmal ich ihr zugetraut hätte“, durchbrach Werhan das Schweigen.

Horsas seufzte: „So etwas wie diese Floßfahrt möchte ich nicht noch einmal erleben.“

„Man kann nie wissen“, die Stimme Margas klang seltsam und geheimnisvoll. Sie hatte sich in der kurzen Zeit, seit Horsa sie kannte, völlig verändert. Aus dem kleinen, scheuen Mädchen war eine eindrucksvoll schöne, junge Frau geworden.

Sie gönnten sich keine lange Pause, sondern brachen sogleich auf und liefen am östlichen Ufer nach Norden. Die Nacht war schon lange hereingebrochen, als sie noch immer wanderten.

Zaghaft und verlegen sagte irgendwann Werhan zu dem Gefährten: „Ich muss dir etwas gestehen“. Bei diesen Worten legte er Horsa seine Hand auf den Arm und fuhrt fort: „Ich kann deine Gedanken lesen, wenn ich dich berühre“.

„Das ist doch nicht möglich“, fuhr es dem Grafen durch den Kopf.

„Doch, doch!" antwortete Werhan laut.

„Wie soll das vor sich gehen?" dachte der Graf.

„Das kann ich dir nicht erklären“.

Plötzlich wurde es beiden klar, dass sie ein seltsames Zwiegespräch führten. Sie blieben stehen und lachten. Marga gesellte sich zu ihnen. Ein fürchterlicher Verdacht schoss Horsa bei ihrem Anblick durch den Kopf. Er wurde rot und schämte sich fürchterlich.

„Kann Marga etwa auch..?" stotterte er.

„Nein“, Werhans Stimme beruhigte ihn, „nur ich habe das Gedankenlesen gelernt“.


Die Hexe


Gegen Mitternacht schlugen sie endlich ihr Lager auf. Feuer wagten sie nicht zu machen, und so saßen sie müde und mit klammen Kleidern zusammen, nachdem sie im Finstern von den durchnässten Vorräten gegessen hatten. Sie waren viel zu aufgewühlt von den Ereignissen des Tages, als dass sie hätten schlafen können. „Weshalb habt ihr mir eigentlich geholfen?" fragte Horsa.

„Der Zauberer Aramar hat von dir erzählt und uns aufgefordert, dich zu unterstützen“, erklärte Marga mit ruhiger Stimme.

„Wo war das? Wo seid ihr ihm begegnet?"

„Es war vor genau zehn Tagen“.

„Also kurz nachdem wir uns auf dem Bauernhof getrennt hatten“, murmelte Horsa nachdenklich.

„Es war weit jenseits des Erfstrom. Wir kampierten am Rande der Oststraße. Seit Tagen hatte es geregnet, und unsere Vorräte waren aufgebraucht. Zur Kälte kam also noch der Hunger.

Gegen Mitternacht hörten wir zwei Reiter, die trotz der Dunkelheit im Galopp nach Osten ritten. Als sie uns entdeckten, hielten sie an. Eine bekannte Stimme fragte, wer wir seien. "

„Ihr kanntet die Stimme?"

„Ja, natürlich, es war Aramar“.

„Wer war bei ihm?"

„Ein Zwerg“.

„Was hat Aramar gesagt?"

„Dass er zwar sehr in Eile wäre, sich aber freue, uns zu treffen. Dann erteilte er uns den Befehl, sofort nach Westen aufzubrechen. Er beschrieb uns genau den Weg, den wir nehmen müssten. Auf dieser Straße würden wir dir begegnen, sagte er. Du würdest in großer Gefahr sein, und wir sollten dir helfen. Es gehe um Leben und Tod. Er selbst werde noch an anderen Orten gebraucht, wolle aber so schnell wie möglich zurückkommen. Dann stoben die beiden weiter. Sie waren während der Unterredung nicht einmal abgestiegen. Wir sind dann sofort aufgebrochen und ins Heimland gezogen. Alles verlief ohne Zwischenfälle, deshalb dachten wir schon, Aramar habe sich geirrt. Dann kamst du aber, und den Rest der Geschichte kennst du ja“.

„Wieso habt ihr ihm vertraut?"

„Wir waren ihm einige Zeit zuvor im Westen begegnet. Es war in der Nähe des Golfs von Orex, und er hat uns sehr geholfen“.

„Ihr habt von mir die Wahrheit hören wollen. Ich glaube, ich habe ein Recht, auch eure Vergangenheit zu erfahren. Wo kommt ihr her? Wer seid ihr?"

„Wir kommen aus einem Land tief im Süden“, begann Marga ohne auf die Zustimmung ihres Bruders zu warten. „Meine Erinnerungen an meine frühe Kindheit sind nur bruchstückhaft und nicht zusammenhängend. Wenn ich mich anstrenge, sehe ich vor meinem geistigen Auge eine große Stadt. Sie ist auf fünf Hügeln gebaut. Ihre Mauern sind schneeweiß. Schneeweiß ist auch der Wald von Türmen, der sie überragt. Durch fünf Tore ziehen den ganzen Tag Wagen und Menschen ein und aus“.

„Aber die Gesichter der Menschen“, fiel nun Werhan ein, „sind ernst. Ein Schatten der Trauer liegt auf ihnen, Trauer und Furcht. Die Menschen in dieser schönen Stadt sind unglücklich“.

„Ich sehe einen Mann“, fuhr Marga fort, „er hat blondes Haar. Er streicht mir über mein Haar. Ich küsse ihn auf die Wange. Sein Bart kratzt. Seine Haut ist schweißnass. Er ist in Eile“.

„Und ich erinnere mich an eine Frau. Sie weint. Immer wieder fragt sie, warum wir fortmüssen. Vater antwortet, aber Mutter versteht ihn nicht. Vielleicht will sie ihn nicht verstehen. Sie packt Kleider zu Bündeln und verstaut Hausrat in Taschen. Wir haben nicht viel Zeit. Wir brechen auf. Vater läuft voran. Er führt einen Esel. Wir folgen mit unserer Mutter. Mutter hält uns an der Hand. Wir eilen durch das große Tor. Keiner beachtet uns“.

Erregt fällt ihm das Mädchen ins Wort. Die Erinnerung reißt sie mit: „Wir haben uns im Gebüsch verborgen. Reiter jagen vorüber. Ich habe Angst und weiß nicht warum. Ich spüre, Vater und Mutter haben auch Angst. Dann wandern wir weiter. Ich bin müde. Vater trägt mich. Irgendwann sitze ich auf dem Esel, hoch oben auf dem Gepäck. Ich versuche zu schlafen“.

„Ich erinnere mich an eine Hütte aus runden Stämmen mitten in einem großen Wald. Vater arbeitet als Holzfäller. Er ist sehr unglücklich. Abends badet Mutter seine Hände in warmem Wasser und massiert seine Muskeln. Ich vermute, dass die ungewohnte Arbeit für ihn zu schwer ist. Wir haben nur wenig Essen. Immer wieder sitzen die Eltern abends zusammen. Sie glauben, dass wir schlafen. Sie murmeln. Ich höre, dass sie nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Wir gehen Eicheln sammeln im Wald. Mutter kocht die Eicheln stundenlang. Wir können sie dennoch nicht essen, sondern nur das Kochwasser trinken. Von morgens bis abends suchen wir Beeren und Pilze, aber wir finden nur wenige“.

„Ich habe Hunger. Ich wache mit Hunger auf und gehe mit Hunger zu Bett. Der Hunger tut nicht mehr weh. Ich habe mich an ihn gewöhnt. Aber ich bin schwach. Ich bin immer müde. Mein Bruder und ich husten ständig. Auch Mutter hustet. Wir sind krank. Ich liege den ganzen Tag in der Hütte. Es ist dunkel dort und schmutzig. Die Luft ist schlecht. Der Rauch des Feuers zieht nicht richtig ab. Die Hütte ist voller Qualm. Der Rauch brennt in meinen Augen, er brennt in meiner Lunge. Ich glaube zu ersticken. Dann möchte ich nur noch schlafen“.

„Meine Schwester liegt reglos auf ihrem Lager. Noch habe ich Kräfte, kann mich bewegen. Mein Bauch ist aufgetrieben. Er schmerzt. Mir ist übel und schwindelig. Da höre ich eines Nachts Vater und Mutter zusammen reden. Ihre Stimmen klingen verzweifelt.

Vater sagt: 'Ich weiß mir keinen Ausweg mehr. Wir müssen es tun. Ich kann nicht länger zusehen. Sie leiden. Ich bin schuld. Es muss etwas geschehen.'

Mutter weint.

‘Wir müssen wieder unter Menschen“, sagt sie, „wenn wir hier bleiben, sterben wir alle.'

'Und wenn wir zurückkehren, bringen sie mich um. Nein, ich muss am Leben bleiben, um der Sache willen’, entgegnet er. 'Es geht um die Befreiung von Mahahala. Wir dürfen unser Leben nicht wegwerfen. Und wenn es sein muss, auch das Sterben der Kinder in Kauf nehmen. Wir dürfen nicht an uns denken. Mahahala braucht uns, ihm sind wir verpflichtet.'

Mutter sagt bitter und gequält: 'Dann bringe uns doch gleich um!'

'Sage so etwas nie wieder!' Vater schreit diesen Satz heraus, und Mutter muss ihn mit einem Hinweis auf uns beruhigen. 'Das kann und das darf ich nicht. Ich darf meine Hände nicht besudeln. Sie müssen für die gute Sache rein bleiben.'"

„Tage später, Werhan und ich sind im Wald und suchen nach Nahrung. Wir finden nichts. Als wir zur Hütte zurückkehren, ist mir schwindlig vor Hunger. Niemand ist zu sehen. Kein Rauch dringt aus der Hütte. Alles ist still. Wir treten ein, da liegen sie. Vater hat man die Kehle aufgeschnitten und Mutter blutet aus Messerstichen. Sie lebt noch.

Ich knie mich neben sie und rufe: 'Mutter, was ist geschehen?'

Sie stammelt: ‘Sie haben uns gefunden. Sie kamen so schnell und so überraschend.’

Sie atmet pfeifen. Dann fällt ihr Kopf zur Seite. Sie schließt die Augen.“

Werhan ergreift das Wort: „Ich werfe mich auf sie. Nehme sie in meine Arme.

Ich schluchze: ‘Mutter, bleibe bei uns. Mutter, ich will dich immer liebhaben.’

Die letzten Worte schrie der junge Mann laut. Voller Verzweiflung schlug er die Hände vor das Gesicht. Horsa legte ihm seinen Arm um die Schulter, bis er einschlief. Auch die junge Frau rollte sich zusammen und schloss die Augen. Nur Horsa blieb wach, um Wache zu halten und die Geschehnisse des Tages zu überdenken.

Gegen Morgen schlummerte auch der Graf ein. Doch beim ersten Sonnenstrahl erwachte er. Sein Körper schmerzte von der Kälte und der unbequemen Lage, in der er die Nacht verbracht hatte. Er sprang auf, reckte sich und federte in den Knien. Dann weckte er die Gefährten. Wieder aßen sie von den spärlichen Vorräten, dann machten sie sich auf den Weg. Die Felder und der Fluss dampften im Nebel. Es war kühl und unfreundlich. Horsa wagte nicht, an das Gespräch der vergangenen Nacht anzuknüpfen, aber Marga begann von sich aus.

„Wir müssen dir noch erzählen, wie es mit uns weitergegangen ist. Was wir in den nächsten Tagen gemacht haben, weiß ich nicht mehr“.

„Wir haben die Hütte verlassen. Du wirst vor Hunger bewusstlos. Ich versuche dich zum Schutz vor den Tieren auf einen Baum zu zerren, aber es gelingt mir nicht“. Werhan nahm den Faden wieder auf. „So bleiben wir beide auf dem Moos liegen. Es wird dunkel und ich sehe überall Schatten auf mich zukommen. Ich zittere am ganzen Körper. Ich mache mir vor Angst in die Hose. Dann ist wieder Tag“.

„Er rüttelt mich. Wir stützen uns gegenseitig. Wir schleppen uns durch den Wald“.

„Wir wissen nicht, in welche Richtung wir laufen sollen. Wir taumeln im Kreis herum“.

„Dann geschieht das Wunder“. Marga ist ganz atemlos. „Wir sind noch nicht weit gegangen. Da ist eine Lichtung. Wir treten hinaus. Auf der Lichtung steht eine Hütte aus Baumstämmen. Die Ritzen sind mit Moos verstopft. Um das Blockhaus sind Klettergerüste für Pflanzen. Dort wachsen Beeren und Blumen. Ein Garten ist angelegt mit Früchten verschiedenster Art. Ich sehe rote Himbeeren und schwarze Brombeeren. Der Anblick gibt mir Kraft. Wir eilen zu dem Haus. Kein Zaun versperrt uns den Zutritt. Wir stürzen uns auf die Beeren und stopfen uns die Münder voll. Während wir auf beiden Backen kauen, sagt eine freundliche Stimme: 'So viele Beeren sind ungesund für kleine Kinder. Kommt herein, dann bekommt ihr etwas Ordentliches zu essen.'

Eine Frau mit langem schwarzen Haar und einem braunen Mantel steht hinter uns. Sie kam uns Kindern damals sehr alt vor, aber ich glaube, sie war noch ziemlich jung. War es der Hunger, die Erschöpfung oder die Angst, mir wird schlecht. Ich breche alles, was ich in mich hineingestopft habe, wieder heraus und verliere das Bewusstsein. Als ich erwache, liege ich im Haus auf einem Lager aus Heu ganz nahe bei der Feuerstelle. Ich bin mit Decken zugedeckt und habe Schüttelfrost. Neben mir liegt mein Bruder. Die Einsiedlerin kniet neben ihm und flößt ihm aus einem Holzbecher etwas ein“.

„Es ist ein Tee, der bitter schmeckt. Später gibt es eine dünne Hühnersuppe und immer wieder diesen Tee. Wir sollen viel trinken, sagt die Frau. Nach ein paar Tagen geht es uns besser. Sie macht Brennnesselsalat, kocht uns Hagebuttengemüse und immer wieder Hühnersuppe. Bald können wir aufstehen und umhergehen. Da ist das Haus, der große Gemüsegarten, die Wiese mit den Obstbäumen. Dort hüte ich die Ziege und die vier Schafe, und im Herbst pflücken wir süße Kirschen, Äpfel und Birnen“.

„Und ich gehe mit der Frau in den Wald. Wir sammeln Salbei, Kamillen und Rosmarin. Auch von den Königskerzen nimmt sie etwas mit, bewahrt es aber streng getrennt von den anderen Kräutern auf. Ich muss auf Bäume klettern und Misteln schneiden. Alles wird zu Hause getrocknet und in kleinen Säckchen an die Decke gehängt.

Einmal frage ich unsere Retterin, wer sie sei. Sie antwortet leise: 'Eine einsame Frau'“.

„An den Winterabenden sitzen wir um die Feuerstelle. Das Feuer rußt nicht. Die Frau strickt oder spinnt die Wolle der Schafe. Dabei erzählt sie. Sie erzählt von den Zeiten, bevor es Menschen gab. Sie lässt mächtige Königreiche in unserem Kopf entstehen und zerfallen“.

„Sie war weise. Ich habe mir vieles von dem gemerkt, was sie uns sagte. So zum Beispiel: Wichtig ist nicht, was jemand sagt, sondern was jemand tut. Gesagt wird viel in der Welt und getan wenig. Wenn du jemanden erkennen willst, achte auf seine Taten und nicht auf seine Reden“.

„Und ich habe mir gemerkt: Die Weisheit steckt im Herzen und nicht im Gehirn“.

„Ich erinnere mich an eine andere Szene. Es ist Sommer. Wir sitzen auf der Bank vor dem Haus. Die Frau hat ein Huhn gefangen und ihm den Kopf abgehackt. Während sie es rupft erklärt sie mir: 'Das Tier ist dein Bruder und deine Schwester. In dieser Welt kannst du nur leben, wenn sich jemand für dich opfert. Deshalb müssen wir den Tieren für ihr Opfer dankbar sein.'

'Aber’, entgegne ich, 'die Tiere wollen doch nicht getötet werden. Wie kannst du von Opfer sprechen, wenn du sie zwingst?'

'Oh’, meint sie, 'Opfer werden in der Regel nicht gefragt. Wenn alle Opfer freiwillig wären, gäbe es wahrscheinlich keine Opfer. Aber es geht auch nicht um das Tier, sondern um uns. Es geht darum, dass wir schuldig werden müssen, wenn wir leben wollen. Und es geht darum, wie wir mit dieser Schuld umgehen. Nehmen wir den Tod von Hase und Ziege, von Huhn und Fisch als selbstverständlich hin, oder begreifen wir, dass hier ein Lebewesen für uns sein Leben gelassen hat. Wo bliebe sonst unsere Dankbarkeit dafür, dass wir leben dürfen, während dieses Huhn sterben musste?'

'Was habe ich mit dem Huhn zu tun?' frage ich erstaunt.

'Das Huhn ist deine Schwester und das Schaf dein Bruder. Wenn du sie tötest, stirbt stets auch ein Teil von dir. Habe die gleiche Ehrfurcht vor deiner Nahrung, die du vor dir selbst hast! Leute, die töten um des Tötens willen, haben nie gelernt, sich selbst zu achten.' "

„Einmal, wir sind vielleicht schon drei Jahre dort, werden wir beide krank. Wir haben Masern oder Keuchhusten oder eine andere Krankheit, die Kinder bekommen. Wir liegen auf unseren Heulagern und die Frau gibt uns Tee. Dabei erklärte sie: 'Jede Krankheit will uns etwas sagen. Jede Krankheit bringt den Menschen einen Schritt weiter. Wenn die Krankheit heraus will, sollst du sie nicht unterdrücken, sonst bleibt dir ihre Botschaft verborgen. Ihr müsst die Botschaft der Krankheit entschlüsseln. Ihr müsst lernen, was euch die Krankheit lehren will“.

„Na, und was hat sie euch gelehrt“, fragte Horsa spöttisch.

„Sie lehrt einen jeden etwas anderes. Im Übrigen, wenn sich das so leicht mitteilen ließe, bräuchten die Menschen nicht mehr krank zu werden. Nein, die Lehren deiner Krankheit musst du schon selbst ziehen“.

Werhan hatte ernst geantwortet und war nicht auf den Scherz eingegangen. Horsa erwiderte nichts und schämte sich ein wenig.

Marga überspielte die Verlegenheit und fuhr fort: „Die Frau wird von den Tieren geliebt. Stets fliegen Schwärme von Vögeln um ihr Haus. Katzen liegen überall. Hühner picken auf dem Hof. Hasen hoppeln herum und sind nicht in Ställe gesperrt. Nur Schweine gibt es nicht. Die Frau sagt, als wir sie nach Schweinen fragen: 'Wer Schwein isst, wird selbst zum Schwein.'

Wir lernen Heilkräuter erkennen, Ziegen melken, Hühner schlachten, Körbe flechten, Obst einmachen“.

„Und Gedanken zu lesen“, platzte Werhan heraus.

„Die Frau im Wald hat dir das beigebracht?" fragte Horsa erstaunt.

„Ja, es war mein Geburtstagsgeschenk. Sie konnte eine Menge Dinge, die andere Menschen nicht können“.

„Aber warum hat dann Marga das Gedankenlesen nicht gelernt?"

„Die Frau meinte, wenn ich die Gedanken der Männer erkennen könnte, würde ich nur in Verlegenheit kommen. Es wäre besser, wenn ich nicht wüsste, was in den Köpfen der Männer vorgeht“.

Horsa errötete und blickte zu Boden.

„Zum Ausgleich dafür, dass ich Gedankenlesen durfte, brachte die Frau meiner Schwester das Sprechen mit den Vögeln bei. Ich weiß nicht, welches von beiden die größere Gabe ist“.

Es war inzwischen Mittag geworden, und sie hatten eine große Strecke zurückgelegt. Das wurde ihnen erst jetzt bewusst, denn die Zeit war mit dem Erzählen rasch vergangen. Bisher war ihnen niemand begegnet, und auch die Vögel hatten Marga nichts mitgeteilt.

Sie vesperten auf einer Wiese und lagen dann auf dem Rücken und sahen in den hohen, blauen Himmel. Horsa wünschte sich, jetzt mit Marga allein zu sein. Er hätte sie gern in den Arm genommen. Da erinnerte er sich, was die Alte über die Gedanken von Männern gesagt hatte und zwang sich ganz rasch, an etwas Anderes zu denken. Nach einer Stunde brachen sie wieder auf. Eine Zeitlang gingen sie schweigend neben einander.

Endlich fragte Horsa: „Wie ist es weitergegangen? Warum habt ihr diese Frau, die euch so viel Gutes tat, verlassen?"

Die beiden taten, als hätten sie seine Frage nicht gehört. Deshalb hakte er nach: „Jetzt möchte ich auch wissen, wie eure Geschichte endet“.

„Sie endet nicht schön“, sagte Marga, „und ich möchte nicht darüber reden“.

Horsa war entrüstet: „Ihr könnt doch nicht mittendrin aufhören!"

„Er hat ein Recht darauf, das Ende zu hören“, lenkte Werhan ein. „Aber ich will es kurz machen. Es waren etwa fünf Jahre vergangen. Es war eine glückliche Zeit gewesen, wahrscheinlich die schönste Zeit in unserem Leben. An einem Tag im Spätherbst, draußen pfeifen schon die kalten Stürme durchs Land, sitzen wir im Haus beim Mittagessen. Die Frau hat Grütze gekocht und sie mit Kräutern und Gewürzen abgeschmeckt. Sie mundet köstlich. Plötzlich geht die Tür auf, ein eiskalter Windstoß fährt herein, und in der Tür steht ein Mann. Wir sind völlig überrascht, denn in all den Jahren haben wir niemals einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen als die Frau. Der Mann tritt herein und hinter ihm drängen andere nach.

Einer sagt: 'Na sieh mal an, wir kommen gerade recht zum Essen. Sind wir eingeladen?'

Die Frau antwortet: 'Setzt euch! Es wird auch für euch noch reichen.'

'Das glaube ich nicht’, sagt einer der Männer. 'Wir lassen uns nämlich nicht abspeisen. Das was wir wollen ist kein Brei, sondern etwas viel Besseres, wir wollen dein Geld.'

'Ich habe kein Geld’, antwortete die Frau.

'Erspare dir Ärger und uns Mühe’, grölt nun einer der Burschen. Sie sind alle noch recht jung. 'Rück’ es freiwillig heraus.'

'Ich kann euch nicht geben, was ich nicht habe.'

Da packen die Schweine die Frau und schlagen sie. Wir stehen hilflos und ängstlich in der Ecke und wissen nicht, ob wir schreien sollen. Unserer Freundin läuft das Blut aus Mund und Nase.

'Willst du nun endlich reden!' schreit einer der Schweine zornig und schlägt wieder zu. Da sackt die Frau zusammen. Die Männer treten sie mit Füßen, aber sie bleibt leblos liegen.

'Schafft die Hexe 'raus’, brüllt ein anderer.

Die wehrlose Frau wird auf den Hof gezerrt und in den Dreck geschmissen.

'Es ist kalt hier’, schreit einer dieser Schweine übermütig. 'Das Weib braucht Wärme. Kommt her.'

Dabei zeigt er auf uns.

‘Holt Holz und macht ein Feuer!’

Wir ahnen, um was es geht und weigern uns. Aber sie haben Gefallen an der Idee gefunden und prügeln uns so lange, bis wir schließlich Reisig holen und auf dem gestampften Boden Feuer machen.

'Na also‘, sagt der erste Mann. 'Ihr könnt eure Freundin doch nicht frieren lassen.'

Dann rufen sie: 'Und nun wird die Hexe geröstet!'

Die Frau ist inzwischen zu sich gekommen und versuche wegzulaufen. Aber sie ist zu schwach und wird sofort eingeholt. Sie strampelt mit Händen und Füßen als die vier Schweine ihre Beine ins Feuer halten. Aber sie hat keine Chance“.

Werhans Stimme erstickte. Er konnte nicht weitererzählen. Marga war stehen geblieben und schluchzte: „Sie rösten die arme, wehrlose Frau, die niemandem etwas zu Leide getan hat. Die Frau schreit. Es ist ein Schrei, der nicht aufhören will, der durch Mark und Bein geht, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Sie schreit so fürchterlich, und ich denke, wenn sie doch endlich aufhören würde zu schreien! Und dann schäme ich mich für diese Gedanken. Und sie schreit weiter. Die brutalen Schweine scheren sich nicht um ihr Schreien. Während die einen sie quälen, durchwühlen die anderen die Hütte und zerstören alles. Irgendwann erstirbt das Schreien. Es bleibt nur der Geruch von verbranntem Fleisch. Die Männer zünden alles an. Ich weiß nicht, warum wir in dem Durcheinander nicht weglaufen sind. Wir stehen beide wie versteinert und sehen der Verwüstung zu. Als alles brennt, werden sie wieder auf uns aufmerksam.

'Ihr kommt mit uns’, sagt einer. 'Ihr müsst doch froh sein, dass wir euch aus der Gewalt dieser Hexe befreit haben. Wer weiß, was die mit euch noch alles angestellt hätte. Hexen lieben Menschenfleisch, besonders schätzen sie das Fleisch von Kindern. Aber keine Angst, wir sind ja noch rechtzeitig gekommen. Und jetzt seid ihr frei und geht mit uns.'

'Ja’, sagt ein anderer. 'Und zum Dank dafür, dass wir euch mit so viel Mühe befreit haben, kannst du jetzt meinen Rucksack tragen.'

Ich nehme den Rucksack auf meine Schultern, und Marga trägt das Schwert eines dieser Schweine. Wir marschieren in den Wald, und hinter uns blökt die Ziege, die gemolken werden will. So beginnt unsere Flucht durch Centratur."

Hier endete Werhan, und sie sprachen den Rest des Tages auf ihrem Marsch kein Wort mehr miteinander.

Verrat in Steinbruch


Der Weg nach Steinbruch war weit. Obgleich die Wanderer den ganzen Tag kräftig ausschritten und sich kaum Pausen gönnten, waren sie, als es dunkel wurde, noch nicht am Ziel. Sie mussten eine weitere Nacht im Freien verbringen. Es wurde eine freudlose Nacht, in der sie sich ruhelos auf der harten, kalten Erde hin und her wälzten. Wie gerädert wachten sie auf. Horsa war unruhig. Die Zeit drängte. Deshalb machten sie sich sogleich auf den Weg und aßen ihr Frühstück beim Gehen.

Gegen Mittag befanden sie sich endlich auf der Höhe von Steinbruch. Jenseits des Flusses sahen sie aus Dächern Rauch aufsteigen. Eine hohe Palisade aus zugespitzten Baumstämmen umgab diesen äußersten Posten des Heimlandes.

„Da sind wir“, sagte Horsa. „Nun gilt es nur noch hinüber zu kommen“.

„Warum gibt es hier keine ordentliche Brücke?" fragte Werhan.

„Ich nehme an, weil man überraschenden Angriffen vorbeugen will. Immerhin sind wir hier in den Grenzlanden. Östlich des Erfstrom ist weites, unbewachtes Land. Nur der große Fluss schützt das Heimland. Jede Brücke würde diesen Schutz mindern und die Gefahr erhöhen. Aber es muss hier irgendwo einen behelfsmäßigen Übergang geben“.

Horsa wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war unerträglich schwül.

„Es wird heute noch ein Gewitter geben“, dachte er sich. „Hoffentlich haben wir dann in Steinbruch ein Dach über dem Kopf“.

Sorgfältig suchten sie das Flussufer ab, doch ohne Erfolg. Horsa schwitzte immer stärker und versicherte ungefragt alle paar Minuten: „Ich bin ganz sicher, dass wir hinüber kommen! Es muss einen Steg geben“.

Werhan sah ihn von der Seite zweifelnd an. Es war schon über eine Stunde vergangen, seit sie suchten, und die Sonne war hinter den dunkelgrauen Wolken nicht mehr zu sehen.

Endlich rief Marga: „Hier ist etwas!"

Die Männer eilten zu ihr und sahen verborgen zwischen Schilf und Binsen einen schmalen Steg. Er bestand nur aus zwei Brettern und hatte kein Geländer. Die Bretter ruhten auf Stämmen, die in den Grund des Flusses getrieben waren. Die Planken waren moosüberwachsen und glitschig. Es würde gefährlich sein, auf dieser morschen Brücke den großen Strom zu überqueren. In diesem Augenblick vernahmen sie erstes Donnergrollen, und es fielen dicke Tropfen.

„Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch vor dem Gewitter die andere Seite erreichen wollen“, sagte Werhan.

Doch es war zu spät. Schon prasselte ein heftiger Regen auf sie nieder, und Blitze erleuchteten den dunklen Himmel.

„Bei diesem Wetter möchte ich nicht über den Fluss“, beklagte sich Marga.

„Wir haben keine Wahl!" Horsas Stimme war anzuhören, dass er selbst Angst hatte. „Unter freiem Himmel ist ein Gewitter nie angenehm“.

„Dann los!" rief Werhan. „Wenn es denn sein muss, so sollten wir nicht zögern. Es kann nur noch schlimmer werden“.

Es zwängte sich durch Uferschilf und Morast und kletterte auf die Brücke. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, beide Arme zum Balancieren ausgestreckt, ging er vorwärts. Horsa wollte ihm folgen, erinnerte sich aber im letzten Moment an das Mädchen.

„Geh' du voran“, sagte er. „Ich bin hinter dir und kann dich auffangen, wenn du strauchelst“.

Sie kniff den Mund zu einem schmalen Spalt zusammen und betrat tapfer den nassen Steg. Die alten Bohlen bogen sich unter ihrem Gewicht und federten. Unter ihnen gurgelte der mächtige Strom, und von oben schüttete es wie aus Gießkannen. Langsam tasteten sie sich vorwärts. Sie waren schon in der Mitte des Flusses angekommen, als sich der Regen in Sturzbäche verwandelte. Dann schlug rechts neben ihnen ein Blitz ein. Der Donner, der sofort folgte, ließ sie taumeln. Aber dies war erst der Anfang. Um sie herum fuhren nun Blitze ins Wasser, und der Donnerhall warf sie hin und her. Es schien, als wollte jemand ihre Flussüberquerung mit allen Mitteln verhindern. Ängstlich standen sie auf den schmalen Planken und hielten sich an der Hand.

Marga war die erste, die sich zusammenriss und die Initiative ergriff.

„Bewegt euch!" schrie sie durch das tobende Unwetter. „Hier auf dem Fluss kommen wir um“.

Ihr Rufen riss die Männer aus ihrer Erstarrung und ließ sie weitertaumeln. Wie durch ein Wunder wurden sie von keinem Blitz getroffen, und je mehr sie sich dem anderen Ufer näherten, desto weiter entfernte sich das Gewitter. Zwar regnete es noch immer Bindfäden, aber die Blitze schlugen in größerer Entfernung ein, und der Donner wurde schwächer. Endlich hatten sie es geschafft und betraten aufatmend festen Boden. Kurz darauf standen sie vor dem Bollwerk des Forts. Triefend nass liefen sie an den grob behauenen Stämmen entlang bis zum Tor. Es war verschlossen.

Horsa rief: „Hallo! Aufmachen!"

Aber niemand hörte ihn. Erst als sie mit vereinten Kräften brüllten, wurde von innen der Riegel weggeschoben, und das Tor öffnete sich einen Spalt. Ein junger Erit streckte ärgerlich seinen Kopf heraus und fragte, welcher Idiot bei diesem Hundewetter Einlass begehre.

„Ich will zum General“, antwortete ihm Horsa herrisch und kurz angebunden. „Mach' endlich auf, Bursche“.

„So, du willst zum General?" entgegneter dieser schnippisch. „Könnte ich bitte deine Einladung sehen“.

Der Graf ereiferte sich über diese Unbotmäßigkeit über alle Maßen. Er tobte so sehr, dass dem Soldaten tatsächlich Bedenken kamen, ob vor dem Tor nicht doch Besucher von Bedeutung stünden und Einlass begehrten. Er öffnete den Torflügel noch weiter und ließ die Fremden hineinschlüpfen. Dann rief er seinen Offizier. Dieser hatte gerade geschlafen und war über die Unterbrechung seiner Nachmittagsruhe recht ungehalten. Die drei jungen Leute schienen Landstreicher zu sein, und er hatte keine Lust, sich allzu lange mit ihnen abzugeben. Horsa redete ihn freundlich an. Er erklärte, dass sie mit dringender Botschaft von weit her kämen und sofort beim General vorgelassen werden müssten. Er wahrte zwar sein Inkognito, deutete aber geschickt an, dass er von Rang sei. Dies beeindruckte den Offizier nicht.

Lügen und Hochstapelei sei er von dem Gelichter jenseits der Grenzen gewöhnt, erklärte er. Bei ihm verstärke sich der Verdacht, dass die drei ungebetenen Gäste Spione seien, die das Fort auskundschaften wollten.

Er gab deshalb Anweisung, die Fremden in sicheren Gewahrsam zu nehmen. Er würde sie in den nächsten Tagen verhören und ihnen die Wahrheit zwischen den Zähnen herausziehen.

Horsa war über den Verlauf der Unterredung entsetzt. Erregt erklärte er, dass sich das Heimland in großer Gefahr befinde. Er ließ sogar das Wort „Orokòr" fallen, rief damit jedoch nur ein allgemeines Schmunzeln hervor. Inzwischen waren noch andere Soldaten dazu gestoßen und hörten sich die Auseinandersetzung amüsiert an.

„So hört doch“, rief Horsa verzweifelt, „es geht um Leben und Tod!"

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Hauptgebäude, und heraus trat ein alter, würdiger Erit mit weißem Haar. Er war in Hemdsärmeln und seine Hosenträger baumelten links und rechts an seinen Hüften. Als man seiner ansichtig wurde, verstummten alle.

Der Offizier flüsterte: „Da habt ihr euren General! Ich glaube, ihr werdet bald wünschen, ihn nie gesehen zu haben!"

„Was geht hier vor?" fragte dieser mit hoher Fistelstimme.

„Drei Fremde haben sich eingeschlichen“.

Der Offizier hatte Haltung angenommen und erstattete schnarrend Bericht.

„Sie wurden gestellt und gaben als Entschuldigung an, sie wollten den Herrn General persönlich sprechen. Sie wurden verhört und in Arrest genommen. Es besteht die Gefahr, dass es sich bei den Individuen um Spione handelt. In diesem Fall müsste man ein Kriegsgericht einberufen. Weitere Klärung des Falles wird in den nächsten Tagen durch Verhöre stattfinden. Herr General wird selbstverständlich regelmäßig unterrichtet werden“.

„Sehr gut Dollfuß! Stehen sie bequem!" Der Weißhaarige war gut gelaunt und leutselig. „Ich will es mir nicht nehmen lassen, diese Individuen persönlich in Augenschein zu nehmen“.

Er rief seinen Burschen, der mit einem großen Regenschirm kam und watschelte auf die Gruppe zu. Nachdem er sich vor den Gefährten aufgebaut hatte, fragte er drohend: „Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Was wollt ihr? Wer hat euch geschickt?"

Zu dem Offizier gewandt sagte er: „Hört gut zu, damit ihr lernt wie man ein erfolgreiches Verhör führt, Dollfuß“.

Dann wieder zu den Fremden: „Ich will sofort eine Antwort! Also, wird's bald!"

Horsa trat vor und sagte: „Guter alter Weißbart. Kennst du mich nicht mehr? Ich bin es, Horsa, der Sohn deines Grafen. Du hast mich doch früher so oft auf deinen Knien gewiegt“.

Weiter kam er nicht. Der General schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Dabei brüllte er, und seine piepsige Stimme überschlug sich: „Ich lasse nicht zu, dass unser Herr beleidigt wird. Das lasse ich nicht zu! Abführen! Abführen! Ins Loch mit ihnen!"

Der junge Graf war so verdutzt über diese Reaktion, dass er schwieg. Fassungslos wurden er und seine Gefährten von den Soldaten gepackt und weggeschleppt.


Man warf sie in eine dunkle, feuchte Zelle im Keller unter dem Hauptgebäude. Dort standen lediglich eine Holzpritsche und in der Ecke ein Blechkübel für ihre Notdurft.

„Hast du damit gerechnet?" fragte Werhan. Horsa schüttelte den Kopf.

Dann sagte er mit gedrückter Stimme: „Jetzt ist alles verloren!"

Marga mischte sich ein: „Hört auf zu jammern! Überlegt euch lieber, wie wir aus diesem tristen Loch wieder herauskommen“.

„Ganz gleich wie oder wann wir wieder freikommen, es wird zu spät sein“.

„Hat er dich wirklich nicht erkannt?" Marga gab nicht auf.

„Scheinbar nicht. Obgleich ich einen Augenblick lang glaubte, so etwas wie Erinnern und Erkennen in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Aber ich muss mich wohl getäuscht haben, sonst säßen wir nicht hier“.

„Gemütlich haben wir es und so sauber“, das Mädchen deutete auf den Eimer. „Besonders für mich als Frau ist es angenehm, mit euch hier meine Zeit zu verbringen. Wehe, wenn ihr euch umdreht, wenn ich jetzt den Eimer benutze“.

Bei diesen Worten formten sich in Horsas Kopf seltsame Bilder, die ihn verlegen machten und von seinen Sorgen ablenkten.

Sie untersuchten sorgfältig die Zelle, rüttelten an dem Eisengitter des Fensters und klopften gegen die Tür. Alles war solide und gut gebaut. An ein Entkommen war nicht zu denken. Dann wurde es dunkel. Drei Personen konnten auf der Pritsche nicht gemeinsam schlafen. So kauerten sie sich auf dem rauen Holz zusammen und versuchten, im Hocken zu dösen.


Es mochte gegen Mitternacht gewesen sein, als ein leises Geräusch sie aufschrecken ließ. Langsam öffnete sich der Zugang zu ihrem Gefängnis. Der Lichtschein einer Windlampe fiel herein, dann schob sich ein Erit durch den Eingang. Es war der alte General. Über die gebeugten Schultern hatte er seinen Armeemantel mit den goldenen Litzen geworfen. Stumm trat er ein, und stumm und verwirrt sahen ihm die Gefangenen entgegen. Er beachtete die beiden Menschen nicht, sondern ging geradewegs auf Horsa zu. Vor dem jungen Grafen fiel er auf die Knie und fasste nach seinen Händen.

„Herr“, sagte er, „ich habe Euch sogleich erkannt“.

Er schwieg eine Weile, und keiner seiner Gefangenen sagte ein Wort, dann fuhr er fort: „Ich verstehe Euren Zorn, aber ich musste Euch gefangen nehmen. Ich folge damit nur dem Auftrag, den Euer Vater mir einst gegeben hat. Ich solle, so sagte er, hier in dieser verlassenen Gegend die Stellung halten, und meine Soldaten möglichst unbeschadet durch alle Wirren der Zeit führen. Diesen Befehl habe ich bisher treu und gewissenhaft ausgeführt, bis Ihr gekommen seid, um uns zu stören. Natürlich weiß ich, dass das Heimland in Gefahr ist. Auch ich habe meine Boten und Spione. Aber was kann ich dagegen unternehmen? Wenn ich eingreife, opfere ich sinnlos das Leben der mir anvertrauten Männer. Kann ich das verantworten? Kann ich zulassen, dass sie sterben? Das können nicht Euer Wille, und auch nicht der Wille Eures Vaters sein! Hätte ich Euch nicht verhaftet, sondern Euch als Herrscher anerkannt, so hätte ich mich Eurem Willen unterwerfen müssen. Den Gehorsam, den ich von meinen Männern verlange, muss ich schließlich auch selbst bringen. Wenn ich Euch vor allen den Befehl verweigert hätte, wenn ich Eure Autorität nicht anerkannt hätte, so hätte ich gleichzeitig die meine untergraben. Auch das kann nicht Euer Wille sein. Ich musste Euch deshalb festsetzen.

Doch warum seid Ihr gekommen? Warum lasst Ihr mich den Auftrag, den ich einst erhalten habe, nicht ordentlich zu Ende bringen? Warum wollt Ihr, dass wir alle sterben? Wenn ich mich Euch widersetze, so handele ich in Eurem eigenen Interesse!"

Der Graf unterbrach den langen Monolog: „Und was ist mit den Orokòr? Ihr wisst, dass sie an unseren Grenzen stehen!"

„Ach ja, die Orokòr! Der Orokòr ist ein gefährliches Wesen. Seine Hautfarbe ist dunkel, und er ist von äußerster Grausamkeit. Der Dunkle Herrscher hat ihn einst für seine bösen Zwecke geschaffen. Der Orokòr lebt in Höhlen und wäscht sich nie. Deshalb ist in seiner Gegenwart ein strenger Geruch anzutreffen. Der Orokòr tritt nur ganz selten alleine auf. Er ist ein Rudelwesen, das sich bedingungslos seinen Führern unterwirft“.

Werhan konnte nicht länger zuhören: „Was soll diese Belehrung über die Orokòr. Zum einen bin ich sicher, dass sich die Orokòr nicht so einfach beschreiben lassen. Auch bei ihnen gibt es Unterschiede. Zum anderen, und das ist viel wichtiger, Orokòr sind im Heimland. Jetzt in diesem Moment töten sie Erit-Frauen und Erit-Männer. Euer Auftrag ist es, Eure Landsleute zu verteidigen. So tut dies gefälligst!"

Er war, während er sprach, zu dem General getreten und hatte ihn an der Schulter gefasst.

Dieser schüttelte die Hand ab und entgegnete wütend: „Ich lasse mich nicht gern unterbrechen und schon gar nicht von einem dahergelaufenen Strolch. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich mit meinen paar Männern das Heimland vor den Orokòr retten könnte. Wenn wirklich Orokòr eingedrungen sind, so muss man eben warten, bis sie wieder abziehen. Wenn wir uns bis dahin in Reserve halten, können wir als militärischer Ordnungsfaktor den Aufbau organisieren. Ein Mann in meiner Position muss auch an den Tag danach denken. Er darf sich vom Tagesgeschehen nicht überrollen lassen“.

„Und all das Grauen, das die fremden Eroberer in der Zwischenzeit anrichten?"

„Damit muss man leben. Der Schwache kann sich kein Mitleid leisten!"

„Er ist einfach nur feige“, sagte Marga leise wie zu sich selbst.

Der General erbleichte und verlor die Nerven: „Ich muss mich nicht beschimpfen lassen“, tobte er. „Mein Leben lang habe ich meine Pflichten treu erfüllt. Mein Herr hatte nie Grund, über mich zu klagen. Stets lag mir das allgemeine Wohl am Herzen, ich stellte es höher als mein eigenes. Nun kommen junge Leute, dazu noch Fremde, und beschimpfen mich. Das habe ich nicht verdient. Herr, warum schweigt Ihr dazu. Warum stellt Ihr euch nicht vor Euren Diener? Fürsorge ist die oberste Pflicht eines Herrn, und nun bedarf ich Eurer Fürsorge vor den Angriffen dieser ... dieser ... Flüchtlinge“.

Begütigend legte ihm Werhan noch einmal die Hand auf die Schulter.

„Ihr selbst braucht euer Rattenloch hier nicht zu verlassen. Wir wollen nur ein paar von euren Soldaten, die helfen, das Schlimmste zu verhüten“.

„Wenn ich euch Soldaten mitgebe, wer soll dann hier im Norden die Grenze schützen? Hier ist ein gefährliches, ein bedrohtes Gebiet. Jenseits des Flusses und der Berge sind wilde Lande. Von dort drängen immer wieder Feinde ins Heimland. Ich kann es nicht verantworten, die Grenzen für jedermann zu öffnen“.

„Aber die Feinde sind doch schon längst im Land. Wir müssen sie hier bekämpfen“, rief Horsa verzweifelt.

„Schlimm genug, dass Feinde eingedrungen sind. Wollt Ihr das Übel noch vergrößern, indem Ihr noch mehr Feinde ins Land lasst? Man muss den Schaden begrenzen, indem man zumindest diese nördliche Grenze bewacht! Nein, ich kann Euch keinen einzigen meiner Männer mitgeben“.

Werhan nahm die Hand vom General und sagte zu den anderen: „Er glaubt zumindest im Augenblick selbst, was er sagt. Vor ein paar Tagen war übrigens eine Abordnung der Orokòr hier und hat den Alten gemahnt, still zu halten. Der Schreck über diesen Besuch sitzt ihm noch immer in den Knochen“.

Der General erbleichte bei diesen Worten, drehte sich wortlos um und lief auf den Gang hinaus. Niemand bewegte sich. Nach einigen Augenblicken kehrte er zurück. Er ignorierte noch immer die beiden Menschen und wandte sich nur an den Markgrafen.

„Herr“, sagte er und seine Stimme zitterte, „ich will nicht von Euch scheiden, ohne Euch ausdrücklich meiner Loyalität versichert zu haben. Ich werde mich niemals gegen Euch wenden. Wenn ich jetzt gehe, so bleibt diese Tür offen. Auch alle anderen Tore sind nicht abgeschlossen, und die Wachen habe ich abgezogen. Lebt wohl! Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich Euch gesund wiedersehen werde. Ihr seid einst auf meinen Knien geritten, und ich möchte noch viele glückliche Jahre in Eurem Dienst verbringen“.

Nach diesen Worten trat er langsam und würdig auf Horsa zu und küsste ihn mit bleichen Lippen. Dann verließ er mit gebeugten Schultern die Zelle.

Die Gefangenen sahen sich ratlos an und warteten eine Weile, dann folgten sie ihm vorsichtig. Tatsächlich standen alle Türen offen, und kein Soldat war zu sehen. Als sie aus dem Gebäude traten und zum großen Tor gingen, umfing sie die Nacht. Der Boden war noch feucht vom Regen. Über ihnen wölbte sich ein prächtiger Sternenhimmel. Die Luft war nach dem Gewitter des Tages kühl und rein. Auch der Eingang zum Fort war nicht geschlossen, so dass sie rasch hinausschlüpfen konnten. Sie standen am Fuß der Palisaden.

„Was nun?" fragte Horsa.

„Erst einmal weg von hier“, antwortete Werhan und machte sich auf den Weg.

In die Berge

Sie folgten der Straße, die beim Tor begann. Sie schlängelte sich am Fuß des Bustergebirges entlang und verband die nördlichen Orte des Heimlands. Werhan blieb an einem verwitterten Wegweiser stehen.

„Wir müssen endlich wissen, was los ist“, sagte er. „Vielleicht können uns die Vögel helfen. Die meisten schlafen jetzt zwar, aber ich hoffe, Marga, du kannst wenigstens Kontakt zu einigen Nachtvögeln bekommen“.

Die junge Frau nickte und begann zu flöten und zu trillern. Kurz darauf hörte man aus der Ferne eine Antwort. Ein zweiter Vogel fiel ein und ein dritter. Bald war die Luft unter dem funkelnden Sternenhimmel erfüllt von einer hellen Melodie. Marga pfiff zurück, und es entspann sich ein Pfeifkonzert.

Atemlos und gespannt fragte Horsa: „Was hörst du? Was sagen sie?"

Die Frau ließ sich nicht stören und flötete weiter.

Der Graf wurde immer ungeduldiger. „Verdammt noch 'mal, so sag' doch, was los ist!"

Werhan schaltete sich ein und legte den Finger auf den Mund. „Sei doch still!" flüsterte er.

Als das Zwiegespräch zwischen Marga und den Vögeln beendet war, wandte sie sich an ihren Begleiter: „Du darfst mich nicht unterbrechen, wenn ich mit ihnen rede. Sie sind sehr scheu und leicht beleidigt. Ich muss mich ihnen ganz widmen, wenn sie sich zu einem Gespräch herablassen“.

„Also, was haben sie gesagt?" Horsa ging nicht auf ihre Vorwürfe ein.

„Schwarze Geschöpfe sind überall. Gestern hat es viele Tote gegeben. Auch Tiere sind ermordet worden. Die Straßen werden alle bewacht und sind nicht mehr sicher“.

„Was ist mit den Orten vor uns?"

„Du meinst Lindendorf und Eichelhain?"

„Ja, genau“.

„In diesen Dörfern haben die schwarzen Gestalten die Herrschaft übernommen. Die Leute dürfen bei Nacht die Häuser nicht verlassen. Bei Tag werden sie unter Bewachung zur Arbeit auf die Felder getrieben“.

„Das ist ja schlimmer, als ich gedacht habe“, stöhnte Horsa.

„Ich hatte so etwas in den Gedanken des Generals gelesen“, sagte Werhan. „War aber nicht sicher. Es hätte auch ein Irrtum sein können. Doch nun ist klar, der alte Mann hat einen Waffenstillstand mit den Feinden geschlossen. Diesen fragwürdigen Frieden wollen wir stören. Das musste er verhindern. Zugeben konnte er seinen Verrat aber nicht. In gewisser Weise kann ich ihn verstehen. Was will er denn mit seinen Erit-Soldaten gegen Orokòr ausrichten?"

„Es ist seine Pflicht, seine Leute mir zu unterstellen und mir bei der Befreiung des Heimlandes zu helfen“, sagte Horsa verdrossen.

„Auch du kannst dem Heimland auch nicht helfen. Gegen die Orokòr hat niemand eine Chance“.

„Ich bin der Markgraf dieses Landes. Mein Vater wurde vom König als Herrscher eingesetzt. Dieses Land hat uns Meliodas als Lehen verliehen. Ich trage, nachdem mein Vater nicht zurückgekommen ist, die Verantwortung. Wer, wenn nicht ich, sollte Widerstand leisten?"

„Aber deine eigenen Soldaten sind von dir abgefallen. Du kannst doch nicht allein kämpfen“.

„Wenn es sein muss, werde ich auch dieses tun. Ich werde kämpfen bis zu meinem Tod. Das bin ich meinem Vater schuldig! Er hat sich einst an der Seite berühmter Helden auf den Schlachtfeldern von Whyten für die Befreiung von Centratur tapfer geschlagen. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass die Tyrannei Darkens beendet werden konnte. Ich bin sein Sohn und werde nicht kapitulieren“.

„Stolz ist gut“, sagte Werhan, „aber der deine führt geradewegs in den Selbstmord. Doch ich befürchte, wir müssen dir dorthin folgen. Was meinst du, Marga?"

„Du hast Recht. Wir gehen mit Horsa“.

Dieser wurde rot vor Freude und wusste nicht, warum er trotz der großen Gefahren, denen sie entgegengingen, so glücklich war.


„So weit so schlecht“, sagte Werhan. „Dann wollen wir uns auf den Weg machen. Wir müssen schleunigst die Straße verlassen, wenn wir nicht in kurzer Zeit gefangen und umgebracht werden wollen. Als nächstes brauchen wir Waffen. Ohne Gegenwehr lasse ich mich nicht abschlachten. Dein Schwert haben dir die Soldaten abgenommen, und der General hat vergessen, es dir zurückzugeben. Du bist also auch waffenlos“.

„Am besten wird es sein“, meinte der Graf nach einigem Nachdenken, „wir schlagen uns nach Heckendorf durch. Dort wohnt der treue Mog. Er hat wackere Söhne und kennt Leute, denen man vertrauen kann. Dort bekommen wir sicher auch Waffen. Gutruh hat geheime Kammern, in denen so allerhand Nützliches lagert“.

„Was wird aus unseren Leuten auf der Insel?" fragte Marga bang.

„Wir sollten uns keine Sorgen machen“, antwortete ihr Bruder. „Sie haben Vorräte und sind auf der Insel sicherer als im Heimland. Vater Adelkrag ist ein erfahrener Mann, der schon viele schwierige Situationen durchstanden hat. Er wird das Richtige tun“.


Sie kamen während der Nacht nur langsam vorwärts, gönnten sich aber keine Ruhe. Es dämmerte bereits, als ein kleiner Vogel sich auf die Schulter von Marga setzte. Es war eine Nachtigall. Sie zeigte keinerlei Scheu vor den Menschen, sondern begann sogleich zu flöten. Das Mädchen blieb stehen und hörte genau zu. Als der Vogel sich mit einem letzten Triller wieder in die Lüfte erhob, rief sie erregt: „Gefahr! Der General muss uns doch verraten haben. Sogleich nach unserer Flucht aus dem Fort sind Reiter nach Süden galoppiert, und nun folgen uns auf dieser Straße eine große Anzahl Soldaten. Dies ist aber noch nicht alles. Von Westen und Süden eilen Rotten von schwarzen Männern auf uns zu. Das müssen Orokòr sein. Wir sitzen in der Falle“.

„Entweder hat der General seine Gedanken gut vor mir verborgen oder den Verrat erst später beschlossen“, Werhan war überrascht. „Nun bleibt uns nur noch das Gebirge“.

Horsa nickte stumm. Sie drängten sich nach rechts durch die Büsche am Wegrand und kletterten den steilen Hang hinauf, der sich dahinter erhob. Sie mussten sich an Bäumen und Büschen hochziehen. Kaum waren sie sechzig Fuß über der Straße, da hörten sie Pferde.

Eine raue Stimme rief: „Nun müssen wir das Pack doch bald eingeholt haben! Macht euch bereit. Wenn sie zu fliehen versuchen, bringt sie um“.

Die drei Menschen hielten den Atem an, bis die Meute vorüber war und waren erleichtert, als sie im kühlen Licht des Morgens endlich den Kamm des Berges erreichten. Dort ließen sie sich erschöpft auf den Boden sinken.

„Das war knapp“, stöhnte Werhan.

„Das kann man wohl sagen. Die Nachtigall hat uns gerettet. Was hat sie zu ihrer Warnung veranlasst?" stimmte Horsa zu.

„Sie mag uns einfach“, antwortete Marga sanft.

„Das ist doch Unsinn! Vögel mögen Menschen nicht. Wir sind ihnen so gleichgültig, wie sie uns gleichgültig sind“.

„So stolz wie du, sind die Tiere schon lang. Die Nachtigall, die uns gewarnt hat, war von hoher Geburt. Ihre Warnung entsprang ihrem Adel und ihrem Großmut. Aber nicht alle Vögel sind gleich. Manche sind intelligent und hilfsbereit, andere wieder geschwätzig und nur auf ihren Vorteil bedacht. Ich weiß von Tieren, die sehr unter der Kluft leiden, die zwischen den Lebewesen besteht, und ich kenne welche, die nur das eine Interesse haben, sich das Wams voll zu schlagen“.

„Und du bist sicher, dass du dir das nicht alles nur einbildest, und deine Phantasie mit dir durchgeht?" fragte der junge Graf spöttisch. „Ich habe doch glatt versäumt, die kleine Nachtigall mit all den ihr gebührenden Ehren zu empfangen. Wie kann ich diesen Verstoß gegen die Etikette wieder gut machen?"

Marga antwortete ihm nicht. Sie befanden sich auf einem mit Büschen bewachsenem Grad. Nördlich wurde der Berg von einem Tal eingeschnitten und westlich sah man einen hohen Gipfel, den Geierfels. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten auf- und absteigen und konnten nur hoffen, dass sie sich in diesem fremden Gebirge nicht völlig verirrten. Kein Pfad erleichterte ihr Fortkommen. Die Kletterei war gefährlich und Kräfte zehrend. Endlich wichen die Bäume zurück und machten niederen Büschen Platz. Sie hatten den Pass zum nächsten Tal erreicht und einen prächtigen Überblick über das Bustergebirge. Gipfel reihte sich an Gipfel und im Süden breitete sich die weite Ebene des Heimlands aus.

Alle Gefahren schienen mit einem Mal weit entfernt und bedeutungslos. Sie muteten so klein an, wie die Dörfer und Felder aus dieser Höhe.

„Ich wünschte, wir müssten nicht wieder hinunter und könnten immer hier oben bleiben“, seufzte Marga.

„Ich glaube, du unterschätzt die Gefahren, die in dieser unwirtlichen Gegend auf uns lauern“, erwiderte ihr Horsa unwirsch.

Bald quälte sie Hunger, denn sie waren ohne Vorräte. Der General hatte sie zwar frei gelassen, aber völlig ausgeraubt.

„Vielleicht finden wir irgendwo Beeren!" Werhan gab sich optimistisch, während sie sich weiter Hänge hinauf und hinunter quälten. Als die Sonne hinter den hohen Bergen versank, hatten sie zum ersten Mal an diesem Tage Glück. Auf einer kleinen Bergwiese fanden sie eine verlassene Hütte. Sie war aus Bruchsteinen zusammengefügt und hatte ein einfaches mit Schindeln bedecktes Dach. Vorsichtig näherten sie sich der Unterkunft. Sie war unbewohnt. Ein Strohsack lag in der Ecke. Zusammen mit einem grob gezimmerten Tisch und zwei Hockern stellte er die ganze Einrichtung dar. Hier wohnten im Sommer Hirten. Sie hatten bei ihrem Aufbruch das wenige Geschirr, zwei angebrochene Porzellantassen und Teller, einfach stehen lassen. In einer Holzlade entdeckte Werhan ein Stück Ziegenkäse und jubelte. Er war alt und ausgetrocknet aber noch genießbar. Sie brachen ihn in drei Teile und kauten mit Genuss die harte Kostbarkeit. Später kuschelten sie sich auf dem Strohsack. Er roch muffig und war feucht, aber sie waren so müde, dass es ihnen nichts ausmachte.

Sie schliefen weit bis in den nächsten Tag und erwachten hungrig. Aber da war nichts mehr, was sie hätten essen können. Deshalb tranken sie nur Wasser vom Bach, der hinter der Hütte floss, und begaben sich wieder auf den Weg.

Der Hunger machte sie mürrisch, und die Kletterei erschöpfte sie rasch. Sie redeten wenig miteinander und keuchten wie am Vortag verbissen die Hänge hinauf und hinunter. Endlich erreichten sie einen Pfad, der sich von Osten nach Westen zog, und folgten ihm. Er war deutlich sichtbar und erst in jüngster Zeit begangen worden. Die jungen Leute rätselten, wo er wohl herkomme und wohin er führe. Sie beschlossen ihm zu folgen, auch wenn sie dadurch Gefahr liefen, jemandem zu begegnen.

„Es ist eine Schande, wie wenig ich mein eigenes Land kenne“, schimpfte Horsa. „Wenn wieder vernünftige Verhältnisse hergestellt sind, werde ich mit Gefolge das ganze Land bereisen und genaue Karten herstellen lassen“.

„Wenn erst einmal vernünftige Verhältnisse hergestellt sind“, wiederholte Werhan ironisch. „Glaubst du, dass du das noch erleben wirst?"

Man hatte den Pfad so angelegt, dass er Deckung von allen Seiten bot. Weder von den Bergen noch vom Tal konnte er eingesehen werden. Wer ihn benutzte, blieb ungesehen. Sie kamen rasch vorwärts. Die Kraft der Sonne nahm zu, und im Tal sahen sie weiße Nebel aufsteigen. Der Hunger war zwar längst zu einem vertrauten Begleiter geworden, aber nun kam auch noch der Durst dazu. Ohne Feldflaschen hatten sie vom Bach kein Wasser mitnehmen können.

„Ich könnte diesem feigen General den Hals umdrehen“, knirschte Werhan immer wieder.

Die Taks


Plötzlich rief Marga: „Still!"

Aufmerksam lauschte sie, und nun hörten auch die Männer Vogelstimmen. Die Tiere waren erregt, das fiel selbst ihnen auf.

„Feinde sind in der Nähe“, flüsterte das Mädchen. „Die Vögel haben Angst und warnen sich gegenseitig“.

„Kannst du herausfinden, wer sie sind?"

„Nein! Ich kann die Vögel auch nicht fragen. Sie sind zu aufgeregt und sprechen nicht mit mir“.

„Was sollen wir tun?"

„Ich weiß es nicht!"

Weit und breit gab es kein Versteck. Plötzlich hatte Horsa Angst, erbärmliche Angst. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Angst verspürt. Er wollte sich zusammenreißen, sich nichts anmerken lassen. Aber er war unfähig zu einer Bewegung. Was war es, das ihn so erschreckte? War es das Unbekannte, das unweigerlich auf ihn zukam? Die Gefahr, die man nicht sieht, und auf die man sich nicht einstellen kann? Da fiel sein Blick auf seine Gefährten, und ihnen erging es nicht besser als ihm. Werhan lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht, und Marga war bleich wie der Tod.

Wohin sollten sie fliehen? Sie konnten nicht zurück. Stehen bleiben war töricht. Sie mussten etwas unternehmen. So blieb ihnen nur der Weg nach vorn. Werhan hob einen schweren Stein auf, und Horsa tat es ihm nach. Auch Marga bewaffnete sich. Dann schlichen sie vorsichtig weiter. Mit jedem Schritt nahm die Angst zu. Es war, als steckten ihre Füße in einem zähen Brei, und es war mühsam, sie herauszuziehen. Es bedurfte ungeheurer Anstrengungen nicht stehen zu bleiben oder gar wegzurennen. Ein Gummiband schien sie nach hinten zu ziehen, und das Band spannte sich mehr und mehr.

Hin und wieder blieb Marga stehen und lauschte auf die Vögel. Doch die Tiere waren jetzt verschwunden. Sie hatten sich in Sicherheit gebracht. Verhalten zwitscherte Marga, erhielt aber keine Antwort. Totenstille umgab die Menschen. Horsas Hand umschlang den Stein und seine Knöchel waren weiß. Er umklammerte ihn, als wollte er Wasser herauspressen. Vor ihnen machte der Pfad eine Biegung und verschwand zwischen zwei mächtigen Felsen. Ihr Gestein war verwittert und brüchig, Moos, Gräser und kleine Blumen wuchsen in den Ritzen.

Je mehr sie sich diesem steinernen Tor näherten, desto mehr wuchs ihre Angst. Dahinter musste der Feind lauern. Werhan gab ihnen ein Zeichen, sie sollten zurückbleiben. Dann schlich er sich an die Felsen heran und kletterte vorsichtig nach oben. Langsam, ganz langsam schob er seinen Körper in die Höhe, stets darauf bedacht, keinen Stein loszutreten. Oben kroch er auf dem Bauch vorwärts. Er legte zwei Handbreiten zurück, dann noch eine und dann konnte er sehen, was hinter der Biegung auf sie wartete. Das was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ganz langsam Zoll für Zoll kroch er wieder zurück. Nur kein Geräusch machen! Einmal baumelte er mit den Beinen in der Luft, und es dauerte eine Ewigkeit bis er in dem brüchigen Felsen wieder Tritt gefasst hatte. Ein paar kleine Steine kollerten herunter, kaum hörbar. Aber für Werhan hörte es sich an, als habe er eine Steinlawine losgetreten. Er lief zu den Freund und der Schwester. Die starrten ihn neugierig und erwartungsvoll an. Er legte den Finger auf den Mund und zog sie mit sich, so schnell er konnte.

Sie rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Nach ein paar Minuten blieb Horsa stehen und rief: „Was soll der Unsinn? Warum kehren wir um?"

Werhan zischte: „Sei ruhig, wenn dir dein Leben lieb ist“, und rannte weiter.

Plötzlich blieben sie wie angewurzelt stehen. Vor ihnen kamen schwankende Gestalten den Pfad entlang, und als sie sich entsetzt umdrehten, sahen sie auch hinter sich Feinde. Sie saßen in der Falle und konnten nur noch in den Abgrund springen. Nun hörten sie es. Das Geräusch war die ganze Zeit da gewesen, doch sie hatten nicht darauf geachtet. Dieser Laut war es auch gewesen, der die Angst ausgelöst hatte. Es war ein dumpfes Knirschen und leises Krachen. Es klang nach Holzzerbrechen und Steine zerreiben.

„Zu spät“, stöhnte Werhan, „die Taks haben uns in der Falle. Kämpft so gut ihr könnt“.

Horsa hörte diesen Namen zum ersten Mal.

„Wer sind die Taks?" rief er.

„Du wirst bald wünschen, den Namen nie gehört zu haben“.

Langsam kamen die Gestalten näher. Sie waren gedrungen, kaum größer als Zwerge und hatten ein zottiges Fell. An ihren Händen hatten sie sechs Krallen, die sie ständig aneinander rieben, um sie zu schärfen. Dadurch entstand das grauenhafte Geräusch.

„Was werden sie mit uns machen?" fragte Marga entsetzt.

„Sie reißen ihren Opfern das Fleisch in Stücken aus dem Körper. Aber dazu wird es bei mir nicht kommen. Ich springe lieber in die Tiefe“.

„Zuerst werden wir unsere Haut, so gut es geht, verteidigen“, knirschte Horsa.

Nun im Angesicht der Gefahr wurde er ganz ruhig. Seine Angst war zu einem Teil seiner selbst geworden. Sie hielt ihn nicht mehr gefangen und lenkte ihn nicht mehr ab. Vielmehr unterstützte sie ihn, half ihm klar zu denken.

„Wenn sie uns in die Zange nehmen, haben wir keine Chance“. Er war nun ganz Feldherr, der seine Truppen zum letzten Gefecht führt. „Wir müssen den Rücken frei bekommen“.

Ein Stück vor ihnen war ein großer Felsblock mit einer platten Spitze. Auf ihn machte er seine Gefährten aufmerksam. Auf seinen Befehl rannten sie los. Die Taks erkannten den Plan. Gewöhnlich bewegten sie sich langsam, um die Todesangst ihrer Opfer zu genießen, doch nun hasteten sie los, und die Luft erzitterte von ihrem Heulen. Die Überfallenen waren schneller. Sie erreichten den Felsen und kletterten von der Gefahr getrieben, den glatten Stein hinauf, als hätten sie Saugnäpfe an Händen und Füßen. Als letzter riss Werhan sein Bein in die Höhe und die scharfen Krallen, die sich in sein Fleisch schlagen sollten, zischten ungefährlich in die Luft.

Das wütende Geheul schwoll noch mehr an. Die sichere Beute wollte sich den Bestien entziehen. Zwei Taks machten sich daran, den Flüchtenden nachzuklettern. Doch mächtige Steine, die von oben herunterflogen, zerschmetterten ihre Köpfe. Heulend bildeten die Taks einen Kreis um den Felsen, reckten ihre Krallen drohend empor und wetzten sie. Aber sie wagten sich nicht näher heran.

„Vorläufig sind wir in Sicherheit“, rief Werhan noch immer atemlos. „Aber das wird uns nicht viel nützen. Irgendwann müssen wir wieder hinunter, dann haben sie uns. Hier oben können wir nicht unseren Lebensabend verbringen“.

„Erst einmal haben wir Zeit gewonnen“, sagte Horsa beruhigend.

Der Fels war schmal und fiel nach hinten steil ab. Wenn sie unachtsam waren, würden sie in die Tiefe stützen. Marga hatte sich schweigend darangemacht, Steine zum Werfen zu sammeln und stapelte sie auf einem kleinen Haufen.

„Es gibt nicht viele Steine“, sagte sie. „Wir müssen sparsam mit ihnen umgehen“.

Stunde um Stunde saßen sie auf dem Felsen und warteten auf das Ende. Die Sonne brannte auf sie nieder. Es war einer dieser seltenen heißen Tage im Spätherbst. Bald waren ihre Kleider von Schweiß getränkt.

„Wenn es doch schon dunkel wäre“, dachte Horsa.

Werhan musste seine Gedanken erraten haben, denn er sagte: „Wenn es Nacht wird, kriegen sie uns!"

Sie wussten alle, dass er Recht hatte.

„Ich bin schuld, dass ihr nun in dieser aussichtslosen Lage sitzt. Ohne mich hätte euer Treck längst das Heimland wieder verlassen. Ihr opfert euer Leben“, sagte Horsa zerknirscht. „Was werdet ihr beide machen, wenn wir das hier heil überstehen?"

„Wir kommen mit dir nach Heckendorf, das ist doch ausgemacht“.

„Und wenn es uns wirklich gelingt, das Heimland zu befreien, was werdet ihr dann tun?"

„Du fragst ein dummes Zeug. Das können wir doch jetzt noch nicht wissen. Über etwas zu rätseln, was man nicht wissen kann, ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern auch Dummheit“.

Der Durst wurde unerträglich. Die Zunge schwoll in ihren Mündern und fühlte sich wie ein riesiger Klumpen an. Hals und Stimmbänder entzündeten sich, so dass das Sprechen immer schwerer fiel. Der Schwindel nahm zu.

„Wir bekommen einen Sonnenstich“, krächzte Werhan. „Gleich fallen wir um. Die haben uns noch vor der Dunkelheit“.

In der Tat hatte sich der Halbkreis um den Felsen enger zusammengezogen. Einige der Taks wagten erneut einen Angriff. Sie wurden von den Steinen rasch wieder zurückgetrieben und ahnten nicht, dass diese Wurfgeschosse die letzten waren.

Horsas Kopf dröhnte vor Schmerzen. Mit der Zeit war ihm alles gleichgültig geworden. Er begann, mit seinem Leben abzuschließen. Träge suchte er in seinen Taschen nach einem Schnupftuch, das er über seinen Kopf breiten und sich damit ein wenig vor der brennenden Sonne schützen konnte. Da umschlossen seine Finger einen Gegenstand, den er schon lange mit sich herumtrug, den er aber bisher, aus welchen Gründen auch immer, nicht näher betrachtet hatte. Gelangweilt zog er das Ding heraus. Es war eine kleine goldene Kugel an einem goldenen Kettchen. Er hatte sie in dem Brief seines Vaters gefunden und seitdem nicht mehr beachtet.

„Wenn doch jetzt Aramar hier wäre“, dachte er sich und sah den alten Mann in seinem langen grauen Gewand ganz deutlich vor sich. „Aramar würde dem Spuk hier rasch ein Ende bereiten“.

Die Kugel glänzte in der Sonne. Plötzlich begann sie zu funkeln und sandte grelle Blitze aus. War es die Reflexion der Sonne, oder strahlte sie von innen heraus?

„Wenn doch jemand dieses Licht sehen würde und uns zu Hilfe käme! Am besten wäre es jemand wie Aramar!" dachte er sich. „Aber jede Hoffnung ist wohl in dieser Einsamkeit vergeblich“.

Dann steckte er die Kugel resigniert wieder in seine Hosentasche.


Nach einiger Zeit sah Werhan aus der luftigen Höhe eine Gestalt in einem grauen Mantel den schmalen Weg aus Osten herankommen. Sie war groß. Es schien ein Mensch zu sein. Er ging gebeugt und stützte sich auf einen großen Stock. So wie es aussah, war der Mann alt und lief geradewegs in seinen Untergang. Die Gefährten richteten sie sich mit letzter Kraft auf und riefen, so laut sie konnten, um den Fremden zu warnen. Aus ihren rauen Kehlen kam zwar nicht viel mehr als ein Krächzen, aber der Alte schien sie gehört zu haben. Doch statt umzukehren und davonzulaufen, beschleunigte er seine Schritte. Die Taks hielten mit der Erstürmung der Felszinne inne. Aufheulend stürmten sie dem Neuankömmling mit vorgestreckten Zangen entgegen.

Doch der Mann wich nicht zurück. Seine Gestalt war nun auch nicht mehr gebückt, sondern hoch aufgerichtet, und sein weißes Haar blitzte in der Nachmittagssonne. Er benutzte seinen schweren Stock als Waffe und hieb ihn dem ersten Angreifer quer übers Gesicht. Nun war er von der Meute umzingelt. Doch er behauptete sich gegen die Übermacht. Sein Stock kreiste um ihn, er hieb und stieß und schlug mit Macht, und wo er traf, hinterließ er eine blutige Spur. Nach jedem Schlag des Stabes stand ein Gegner weniger. Das Ganze ging so schnell, dass man den Bewegungen kaum mit den Augen folgen konnte.

Damit hatten die Taks nicht gerechnet. Sie waren es gewohnt, dass man vor ihnen floh. Schon allein die drohende Geste, mit der sie ihre Klauen schärften, trug dazu bei, dass jeder vor diesen teuflischen Wesen davonlief. Mit den Flüchtenden hatten sie dann leichtes Spiel. Sie stellten den Opfern nach, schlugen ihre Krallen in die Rücken der zitternden Leiber und zerfleischten sie. Im Grunde waren die Taks feige, und als sie nun auf jemanden trafen, der sich ihnen zum Kampf stellte und ihren natürlichen Waffen eine ebenso wirksame Waffe entgegen zu setzen hatte, da ergriffen sie die Flucht. Der Mann eilte ihnen ein Stück nach, erwischte noch den einen oder anderen, der zu langsam lief, dann war der Spuk vorbei.

Auf seinen Stab gestützt stand der Retter am Fuß des Felsens und rief hinauf: „Ihr könnt herunterkommen. Es droht keine Gefahr mehr“.

Die völlig entkräfteten jungen Leute brauchten eine ganze Weile, bis sie wieder auf dem Weg standen und ihrem Retter danken konnten. Sie hatten vermutet und gehofft, es wäre Aramar. Aber diesen alten Mann kannten sie nicht. Der öffnete rasch sein Bündel und gab ihnen zu trinken und ein wenig später zu essen. Es dämmerte bereits, als die Lebensgeister der Drei endlich wieder erwacht waren, und sie die Kraft fanden, Fragen zu stellen.

„Das war wirklich ein glücklicher Zufall, der Euch im rechten Moment hierher geführt hat“, sagte Horsa.

„Es gibt keinen Zufall“, antwortete der Retter. „Ich sollte kommen, und ich bin gekommen“.

„Wer hat Euch geschickt?"

„Ich wurde nicht geschickt. Ich wusste, dass ich kommen soll. Der Sinn, weshalb man etwas tut oder lässt, stellt sich in der Regel erst später heraus“.

„Was soll auch die immer wieder gestellte, törichte Frage nach dem Sinn“, sagte Marga abschätzig. „Es war ein für uns überaus glücklicher Zufall“.

„Es gibt keinen Zufall in der Welt“, entgegnete ihr der Alte ernst. „Selbst, wenn ein Schmetterling irgendwo auf einer Wiese stirbt, so ist es geplant und hat seinen Sinn für das Ganze. Auch wenn wir diesen Sinn nicht erkennen können. Es gibt Leute, die glauben, dass es nur das wirklich gibt, was sie sich erklären können. Sie machen ihren kümmerlichen Geist zum Mittelpunkt des Universums und schränken gleichzeitig die Welt auf ihre eigene beschränkte Existenz ein“.

„Was hat Euch also hierhergeführt? Ihr seid im rechten Augenblick gekommen. Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen und war dabei, mich nicht in den Abgrund zu stürzen“, unterbrach Werhan den Disput. „Ihr habt uns das Leben gerettet“.

Der Fremde lächelte ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen sagte er: „Wir sollten uns auf den Weg machen, bevor es völlig dunkel ist. Diese Stelle eignet sich nicht zum Übernachten. Vielleicht kommen die Taks wieder zurück. Sie sehen in der Dunkelheit besser als wir. Ich wäre ihnen dann unterlegen. Wo wolltet ihr eigentlich hin, als euch diese Bestien überfallen haben, und wer seid ihr?"

Horsa lächelte verlegen: „Wir machen einen Ausflug und haben uns verirrt“.

„So, ihr habt euch verirrt? Was war denn das Ziel eures Ausflugs, und wo seid ihr vom Weg abgekommen?"

Jetzt mischte sich Werhan ein: „Bevor Ihr weiter fragt, sagt uns lieber, mit wem wir es zu tun haben. Ihr werdet sicher verstehen, dass man in diesen unsicheren Zeiten nicht jedermann seine Pläne verraten kann“.

„Ich will eure Pläne gar nicht wissen, sondern habe euch lediglich gebeten, euch vorzustellen. Vergesst nicht, ich habe euch das Leben gerettet, und dies dürfte doch eine Basis für Vertrauen sein. Aber ich habe nichts zu verbergen. Ihr fragt, wer ich bin? Nun denn, ich heiße Montini und bin der Hüter dieser Berge“.

„Was heißt hier 'Hüter dieser Berge'?" Aus Horsas Stimme klang nun erst recht Misstrauen. „Soll das bedeuten, Ihr hütet irgendwelche Herden hier in den Bergen?"

„Nein, ich hüte die Berge selbst. Ihr müsst wissen, dass alles, was ist, von jemandem behütet wird, jedes Feld, jeder Baum und natürlich auch die Berge. Die Hüter geben sich in der Regel nicht zu erkennen, deshalb weiß man so wenig von ihnen“.

„Wer sind diese Hüter?"

„Das ist ganz verschieden. Manchmal sind es Menschen, zum Beispiel die Eigentümer eines Waldes oder eines Flusses. Oft sind es aber auch Wesen, deren Leben weit über das der Menschen hinausreicht. Übrigens gibt es auch Hüterinnen. Das Bewahren und Behüten ist nicht allein Aufgabe der Männer in dieser Welt. Es gibt sogar mehr Frauen, die behüten“.

„Und was macht ihr Hüter?"

„Wir schützen und bewahren das uns Anvertraute und sorgen für Ordnung. Ich möchte nicht, dass in meinen Bergen jemand zu Schaden kommt. Aber häufig komme ich zu spät, um zu helfen. Doch ihr habt mich rechtzeitig gerufen“.

„Wir haben Euch gerufen? Da müsst Ihr Euch irren. Wir haben nichts dergleichen getan“.

Nun war der alte Mann entrüstet. „Ich war doch auch offen zu euch! Warum bringt ihr mir nicht Vertrauen entgegen und gebt zu, dass ihr einen Rapulio besitzt?"

„Was ist ein Rapulio?" Marga stellte diese Frage.

Der Fremde wurde immer wütender: „Haltet mich nicht für einen Narren und spielt kein Spiel mit mir. Ihr könnt keinen Rapulio einsetzen und dann so tun, als wüsstet ihr nicht, was das ist“.

"Wir wissen es wirklich nicht“, wandte das Mädchen beschwichtigend ein. „So sagt uns doch, was Ihr damit meint“.

„Und wie habt ihr mich geholt?" fragte der Mann. „Wie bin ich auf euch aufmerksam geworden? Ihr habt mich gerufen. Davon wollt ihr jetzt nichts mehr wissen?"

„Wie können wir Euch rufen, wenn wir Euch gar nicht kennen?"

„Ihr habt mich aber gerufen, das weiß ich genau. In eurem Besitz muss etwas von großer Macht sein, mit dem euch dies gelang. Zeigt es nun endlich her!"

„Wie könnten wir Euch etwas zeigen, von dem wir gar nicht wissen, dass wir es besitzen?" Werhan war im Verlauf des Gespräches ärgerlich geworden.

Da sagte Horsa leise: „Ich glaube, ich weiß, was er meint“, und zog das Geschenk des Vaters aus der Tasche.

„Da ist es ja!" sagte der Alte zufrieden. „Woher habt Ihr dieses aparte Ding, und warum habt Ihr so hartnäckig den Besitz geleugnet?"

Bei diesen Worten streckte er seine Hand aus, aber Horsa schreckte zurück. Er hatte plötzlich Angst, der Fremde wolle ihm den goldenen Fund nehmen.

„Ich wusste nicht, was das ist. Ich habe die Kugel durch Zufall bekommen“, sagte er abwehrend.

„Nun lass' schon sehen. Ich nehme ihn dir nicht weg!"

Der junge Graf war noch immer misstrauisch und zeigte keine Bereitschaft, die goldene Kugel, die sich überraschend als ein Schatz erwies, herzugeben.

„Wenn du mir das Ding schon nicht aushändigen willst, dann zeige es mir wenigstens aus der Ferne. Es wäre gut für uns alle, wenn wir wüssten, was du mit dir herumschleppst“.

Widerstrebend hielt Horsa die goldene Kugel ins gleißende Licht der Sonne. Der Alte pfiff durch die Zähne. „Vor langer Zeit habe ich davon gehört. Das muss tatsächlich ein Rapulio sein“.

„Einen Rapulio? Was ist das?" Der Graf wurde ganz aufgeregt.

„Jetzt ist keine Zeit, um von ihm zu erzählen. Vielleicht ein anderes Mal. Aber bewahre das Ding gut auf. Wenn es wirklich ein Rapulio ist, dann besitzt du einen Schatz aus grauer Vorzeit. Nur wenige Lebende wissen noch von seiner Existenz. Es gab nur zwei Rapulios auf der Welt, und man hielt sie bisher für verschollen. Nun scheint einer aufgetaucht zu sein. Wirklich, es sind seltsame Zeiten. Kommt nun, wir müssen uns sputen!"

Sie waren während des Disputes den Gebirgsweg entlanggeeilt und hatten ein dunkles Loch erreicht, das in einer Felswand gähnte. Es erwies sich als eine geräumige Höhle. Dort hinein führte sie der alte Mann und bereitete ihnen ein Lager. Aus seinem Beutel holte er Verpflegung und im dämmrigen Licht, das von der untergehenden Sonne durch den Eingang drang, aßen sie mit großem Appetit. Bald fielen sie in tiefen Schlaf, und nur ihr Gastgeber lehnte sich gegen die Felswand und bereitete sich auf eine lange Nachtwache vor.


Die Nacht war dunkel. Montini dachte über den Rapulio und seine Geschichte nach. Er gehörte zu den wenigen, die überhaupt davon wussten. Während ihm die alten Erzählungen durch den Kopf gingen, wurde er müder und müder. Schließlich fiel sein Kopf nach vorne, und er nickte ein.

Etwa gegen zwei Uhr erwachte Werhan. Ein beißender Schmerz in seinem Bein hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Noch im Halbschlaf schlug er um sich und fühlte dabei einen festen, struppigen Pelz. Überrascht schrie er auf, und nun überstürzten sich die Ereignisse. Montini erwachte sofort und sprang auf. Auch Horsa und Marga schreckten auf. In diesem Moment hörten sie alle das wütende Klappern der Taks. Die ganze Höhle war erfüllt von diesem entsetzlichen Geräusch.

Montini ergriff seinen Stock und schlug blindlings im Dunkeln zu. Heulen war die Antwort. Seine Schützlinge tasteten auf dem Boden nach Steinen und hieben um sich. Zwar konnten die Taks in der Dunkelheit mehr sehen als ihre Opfer, aber sie waren feige und von der heftigen Gegenwehr überrascht. Sie hatten mit dem Überraschungseffekt gerechnet und geglaubt, leichtes Spiel zu haben. Stattdessen trafen sie auf Wesen, die sich zu wehren wussten und ihnen schlimme Blessuren zufügten. Auf dem engen Raum der Höhle war ihre große Zahl von Nachteil. Sie konnten ihre Übermacht nicht ausspielen. Sie standen sich im Weg, und ihre Gegner trafen mit jedem Streich gleich mehrere von ihnen. Enttäuscht und mit Geheul stürmten sie deshalb nach kurzer Zeit ins Freie und suchten das Weite. Der Überfall war abgeschlagen.

„Das ist gerade noch einmal gut gegangen“, seufzte Montini. „Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich nicht wach geblieben bin. Ein schöner Hüter und Wächter bin ich, aber ich werde eben alt, so alt wie meine Berge. Warum nur haben diese feigen Kreaturen angegriffen? Man muss sie mit Drohungen oder Versprechungen dazu gezwungen haben. Von sich aus würden sie ein derartiges Wagnis nicht auf sich nehmen. Taks kämpfen nur, wenn sie wirklich überlegen sind und keine Gefahr für sich vermuten“.

In diesem Augenblick stöhnte Werhan: „Mein Bein, mein Bein“.

Sie entzündeten mit altem Holz, das herumlag, ein Feuer und untersuchten den Liegenden. Einer der Taks hatte mit seinen Scheren eine klaffende Wunde in sein Bein gezwickt. Marga ging ins Dunkle, zog ihr Unterhemd aus und riss es in Streifen. Damit verbanden sie die Verletzung. Der Stoff färbte sich sofort rot und Werhan ließ sich seufzend zurücksinken.

„Mehr können wir im Augenblick nicht tun“, sagte Montini. „Schlaf können wir uns nicht mehr leisten. Es kann sein, dass die Taks noch einmal zurückkommen. Sie haben sich schon einmal gegen ihre Natur verhalten, warum sollten sie es nicht wieder tun? Wir müssen auf alles gefasst sein“.

Sie ließen Werhan liegen und setzten sich im Halbkreis um den Höhleneingang.

„Wer oder was sind eigentlich diese Taks?" fragte Horsa.

„Die Taks“, sagte der Alte, „stammen aus dem hohen Norden. Ich wundere mich, was diese Geschöpfe hier im Heimland zu suchen haben? Welche Teufelei soll mit ihnen bezweckt werden? Die Taks sind eigentlich ein Volk der Jäger. Mit ihren Krallen greifen sie schnell ins Wasser und fangen so Fische. Auch jagen sie Rentiere, denen sie die Kehle aufreißen. Im Winter müssen sie aber häufig Hunger leiden. Sie leben in Erdhöhlen, die oft ganz vom Schnee zugedeckt werden. Dann verfallen die Taks in einen langen Schlaf, aus dem manche von ihnen nicht mehr erwachen. Die Takfrauen sind kleiner als die Männer. Ihre Hände münden nicht in scharfen Krallen. Ich nehme an, damit sie die Kinder aufziehen können. Mit Krallen kann man eben nicht zärtlich sein. Die Frauen sind mit ihren Händen sehr geschickt und drehen aus Seehundhäuten Schnüre. Während die Männer behaart sind, trägt das weibliche Geschlecht Kleider aus Fellen. Auch die Kinder werden mit Fellen bekleidet.

Wenn die Knaben acht Jahre alt werden, nimmt man sie in den Bund der Männer auf. In einer feierlichen Zeremonie werden sie entkleidet. Da sie bisher stets Felle trugen, sind sie an die Kälte nicht gewöhnt. Sie frieren und viele sterben. Doch das nimmt man unbarmherzig in Kauf. Auch wenn sie krank sind, dürfen sie nichts mehr anziehen. Gerade ihre Mütter, die sich stets um sie gesorgt und sie verwöhnt haben, wachen nun eifrig darüber, dass die Knaben nie wieder Kleider tragen. Nur wenn ein Junge die Prozedur aushält, bis ihm ein Pelz wächst, und er sich an die Kälte gewöhnt hat, kann er ein richtiger Mann werden. Kälte gehört zu einem Mann, so sagt man.

Bei den Taks gibt es mehr Frauen als Männer. Die Männer haben deshalb mehrere Frauen. Die Frauen richten den Haushalt und sorgen für die Kinder, und die Männer jagen und kämpfen. Sie sind unbarmherzig im Kampf und rücksichtslos. Es wird nie Gnade gewährt und kein unterlegener Gegner geschont. Barmherzigkeit gilt als unanständig. Wenn bekannt wird, dass ein Tak im Kampf nicht rücksichtslos gewesen ist, so verlassen ihn sofort alle seine Frauen. Als besonders lobenswert gilt die Grausamkeit. Der hat das höchste Ansehen, der sein Opfer am längsten und am besten zu quälen versteht.

Ein paar Mal sind Abgesandte der Könige ins Tak-Land gekommen und haben versucht, die Taks zu verändern. Sie haben ihnen von der Würde des Menschen, von Mitleid und Nächstenliebe erzählt. Aber die Taks haben überhaupt nicht verstanden, wovon sie sprachen. Sie hielten die Gesandten für verrückt oder für hinterhältig. Deshalb sind alle, die zu diesem Volk reisten, einen schlimmen und qualvollen Tod gestorben. Die Taks bringen nämlich jeden Fremden um.

Man hat lange gerätselt, was dieses Volk so blutrünstig gemacht hat, aber keine überzeugenden Antworten gefunden. Ist es die Härte der Welt, in der sie leben, die auch sie hart macht? Waren sie irgendwann den Einflüssen des Bösen zu lange ausgesetzt, oder wurden sie gar von dem Bösen für seine Zwecke geschaffen? Es gab Stimmen im Rat, die forderten, die Taks auszulöschen. Aber am Ende aller Dispute kam man zu der Überzeugung, man könne Unrecht nicht mit Unrecht bekämpfen. Es gäbe kein Recht, gegen ein Volk mit Gewalt vorzugehen, nur weil es sich der Allgemeinheit nicht anpassen will oder kann. Vielleicht war dies eine falsche Entscheidung? Dies ist jetzt nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur noch die Frage, was die Taks hier wollen? Wer hat sie gerufen? Wie sind sie überhaupt aus dem hohen Norden ins Heimland gekommen? Welche Teufelei ist mit ihrem Auftauchen verbunden?"


Ein langes verzweifeltes Schweigen trat ein.

Endlich ergriff Horsa das Wort. „Wir werden so schnell keine Antworten finden. Erzählt uns deshalb, was ihr über den Rapulio wisst“.

Bei diesen Worten holte er seinen Schatz aus der Tasche und hielt ihn nach oben ins Sternenlicht. Sofort begann die goldene Kugel zu funkeln und von innen heraus zu strahlen.

„Steck' ihn lieber weg“, sagte der Alte. „Wenn es wirklich ein Rapulio ist, so weiß man nicht, wen er ruft. Es könnte sein, dass plötzlich jemand kommt, den wir gar nicht sehen wollen. Aber ich will euch erzählen, was ich von ihm weiß.

Es war lange vor meiner Zeit, und ich bin wahrlich nicht mehr der Jüngste. Da lebten ein junger Mann und eine junge Frau am westlichen Fuß der großen Berge. Kennt ihr diese mächtigen Höhen? Bei euch heißen sie Thaurgebirge. Sie sind wunderbar und noch viel älter als diese Berge hier und dem Meister anvertraut, bei dem ich gelernt habe. Von ihm habe ich auch die Geschichte der Rapulios gehört.

Die Frau hieß Illumina und der Mann Allandoran. Beide stammten aus edlen Geschlechtern. Allandoran war in den Süden gekommen, um die Welt und die Regierungskunst anderer Könige kennen zu lernen. Er würde einmal auf dem Thron sitzen und wollte dann ein guter Herrscher sein. Doch als er Illumina getroffen hatte, vergaß er seine Absichten völlig. Er verbrachte seine Tage nur noch mit ihr. Sie schwammen in Gebirgsseen, durchstreiften Wälder und kletterten in die lichten Höhen der Berge. Dabei ernährten sie sich von dem, was die Natur ihnen bot. Sie hatten sich selbst, und das genügte.

Doch wie es bei Liebesgeschichten immer ist, ihr Glück währte nicht lange. Es ist nicht genau überliefert warum, aber Allandoran musste in seine Heimat zurück. Ich glaube, sein Vater war gestorben, und er sollte den Thron übernehmen. Illumina war noch nicht volljährig, und ihre Eltern verboten deshalb, dass sie mit ihm zog. So schickte sich das Mädchen unter Tränen in sein Schicksal. Die beiden vereinbarten aber, dass sie dem Geliebten, sobald es ginge, nachfolgen werde. Es ist die alte Geschichte, und wir alle wissen, dass daraus in der Regel nichts wird. Man verliert sich aus den Augen, verschiebt die weite Reise immer wieder, und schließlich taucht jemand anderes auf, und man verliebt sich aufs Neue. So sollte es bei diesen beiden Liebenden nicht werden. Sie waren fest entschlossen, sich nicht zu verlieren.

Doch wie konnten sie sich finden in der weiten Welt? Illumina und Allandoran bauten vor. Bevor sie sich nämlich unter Küssen und mit nicht enden wollenden Versprechungen getrennt hatten, waren sie zum Schloss eines Zauberers gewandert. Dieser Zauberer hieß Rapuliopus und gehörte einst zum Weißen Rat. Er war ein großer Meister und lange Zeit sehr angesehen unter den Weisen und den Sterblichen. Aber dann hat er seine Kunst und die Gnade der Überirdischen für selbstsüchtige Zwecke missbraucht. Der Rat war deshalb über ihn zu Gericht gesessen und hatte ihn, trotz seines Könnens und seiner Verdienste, ausgestoßen. Obwohl er dies scheinbar gleichmütig hingenommen hatte, musste die Vertreibung aus dem Zentrum der Macht Rapuliopus zutiefst gekränkt und verbittert haben. Er wurde mit den Jahren immer hemmungsloser und zynischer. Zwar war er aus dem Rat verstoßen, aber sein Können, und das war groß, hatte er behalten. Er nutzte es nun, um seinen Reichtum zu mehren und alle, mit denen er zusammentraf, zu unterdrücken.

Rapuliopus baute sich ein wunderschönes Schloss, in dem er residierte. Dorthin bestellte er sich nach Belieben Leute aus fern und nah, und wehe ihnen, wenn sie nicht kamen. Klopften sie aber zitternd an seine Tür, so wussten sie nicht, welches Schicksal sie erwartete. Der Zauberer konnte ziemlich gemein und grausam sein, und stets war sein oberstes Ziel, die Menschen zu demütigen und sich über sie lustig zu machen. So beschenkte er manche aus purer Laune heraus, wenn sie devot vor ihm auf dem Boden lagen, und andere schlug er mit Krankheit und Qualen. Man wusste nie, woran man bei ihm war, und was er als nächstes mit einem anstellen würde. Rapuliopus war hemmungslos in seiner Menschenverachtung. Alle Leute machten deshalb, wenn es nur irgend ging, einen Bogen um den Zauberer.

Gerade zu Rapuliopus liefen Illumina und Allandoran in ihrer Not, obgleich sie wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Sie traten vor seinen Thron und fielen auf die Knie. Sie erzählten ihm ihr Leid und endeten mit einer Bitte.

'Gibt uns etwas’, so flehten sie, 'das uns zusammenführt, wenn wir uns verlieren. Etwas, womit wir uns immer wieder finden.'

Der Zauberer hörte sie ernst an. Er machte keine Witze, sprach keine bösen Worte und verwandelte sie auch nicht in ein Tier, wie er es mit seinen Besuchern ab und an zu tun pflegte. Stattdessen versprach er ihnen zu helfen und schickte sie nach Hause. Auf den Tag nach vier Wochen sollten sie wieder bei ihm vorsprechen. Hand in Hand machten sie sich auf den Heimweg, während der Mächtige in seinen Zauberkeller stieg und dort vier Wochen blieb. Kein Diener durfte ihn stören. Niemand weiß bis heute, was er dort tat und wovon er lebte. Dann kehrte er zurück mit zwei goldenen Kugeln.

'Ich habe für euch einen großen Zauber vollbracht, und ich bin stolz auf mein Werk’, sagte er den beiden Liebenden. 'Jeder von euch bekommt von mir eine Kugel. Ich habe sie nach mir selbst benannt. Die Kugeln lassen den mit Sicherheit finden, den man sucht. Wenn ihr euch nach einer Person sehnt, so wird euch der Rapulio helfen, sie auch zu finden. Aber bedenkt, der Rapulio hilft euch nicht nur, euch gegenseitig zu finden, sondern jedes Geschöpf, das ihr in euerm Geist begehrt. Und nun geht und wendet mein Geschenk zu eurem Nutzen an.'

Der Mann und die Frau bedeckten seine Hände und Füße mit Dankesküssen und zogen von dannen. Wohin sie kamen, priesen sie den Zauberer und verkündeten, wie gut er doch wäre. Dies veränderte die Meinung der Leute, und nur einige Alte wiegten skeptisch die Köpfe. Schließlich reiste Allandoran in seine Heimat. Der Abschied fiel ihm schwer, dennoch war ihm leicht ums Herz. Er wusste, dass er mit Hilfe des Rapulios seine Geliebte immer wieder finden würde.

Dann kam die Zeit und Illumina wurde volljährig. Mit dem Segen der Eltern machte sie sich auf den Weg in das Reich Allandorans. Dieser war inzwischen ein großer und angesehener Herrscher geworden. Viele Könige in der Nachbarschaft hatten versucht, ihn mit ihren Töchtern zu vermählen, aber er hatte stets abgelehnt. Er konnte das Bild von Illumina nicht aus seinem Herzen verdrängen. Und als die Zeit gekommen war, machte er sich auf, ihr entgegen zu gehen. Beinahe zur gleichen Zeit nahmen sie ihre goldene Kugel in die Hand, ganz so, wie der Zauberer sie es gelehrt hatte. Dann stellte sich Allandoran Illumina vor und Illumina Allandoran. Aber das Bild, nach dem sie sich jeweils sehnten und wonach zu suchen sie die Rapulios beauftragten, war das, wie sie beim Abschied ausgesehen hatten. Inzwischen waren sie älter geworden, hatten sich verändert. Sie entsprachen gegenseitig nicht mehr dem Bild, das sie von einander im Herzen trugen. Die Rapulios aber erfüllten getreu ihre Wünsche. Sie suchten nach den Personen der Vorstellung. Da sie die aber nicht finden konnten, suchten sie nach Menschen, die dem gewünschten Bild nahekamen.

Ich will die Geschichte nicht in die Länge ziehen. Ihr könnt euch schon denken, was geschehen ist. Voller Liebe ersehnten beide Liebenden den Partner, den sie vor Jahren verlassen hatten, und sie fanden einen Mann und eine Frau, die der Jugendliebe zwar ähnlich sahen, aber es nicht waren. Allandoran reichte seine Hand nicht Illumina und Illumina umarmte nicht Allandoran. Natürlich bemerkten beide rasch, dass sie sich getäuscht hatten. Enttäuscht stieß Illumina den Mann zurück, den ihr der Rapulio zugeführt hatte. Sie wollte den verlassenen Geliebten umarmen, aber nicht irgendeinen Mann. Doch um den zu finden, hätte sie wissen müssen, wie der geliebte Partner jetzt aussah. Nur dann hätte die goldene Kugel Erfolg gehabt. Ebenso erging es Allandoran. Als die Liebenden erkannten, dass die Rapulios für sie nutzlos waren, verzichteten sie auf die Werkzeuge des Zauberers und machten sich in der ganzen Welt auf die Suche. Doch als der Mann in der Heimat des Mädchens ankam, war sie auf dem Weg in sein Land, und als er dorthin zurückkehrte, durchstreifte sie längst andere Gebiete. Sie trafen sich nie wieder.

Manchmal, wenn sie ganz verzweifelt waren, begnügten sie sich mit einem Liebhaber oder einer Geliebten, die ihnen die Rapulios zuführten. Doch sie schämten sich nach kurzer Zeit ihres Verrates und trennten sich wieder. Als Illumina älter wurde, ärgerte sie sich über die Versuchung durch ihren Rapulio und warf ihn weg. Dies dürfte der von Horsa sein. Allandoran allerdings benutzte die goldene Kugel immer wieder, um bis an sein Lebensende nach einem Ebenbild seiner Jugendliebe zu rufen.

Horsa, du hast mir noch nicht erzählt, wo du zu dem Rapulio gekommen bist. Aber du weißt nun, was du in deiner Tasche verborgen hältst. Es ist ein zauberhafter Schatz, mit dem ich sehr vorsichtig umgehen würde“.

Der alte Hüter des Berges hatte lange gesprochen und schwieg nun, während die Morgendämmerung hinter den Gipfeln der Berge im Osten aufzog.


Die Taks hatten sich nicht mehr sehen lassen. Werhan war in einen unruhigen Schlaf gefallen.

„Wir wollen uns umsehen“, sagte Montini zu Marga. „Horsa, du bleibst hier und wachst über Werhan“.

„Was soll ich tun, wenn die Taks wiederkommen?"

„Wir gehen nicht weit. Wirf mit Steinen und rufe nach uns. Aber schlafe nicht ein, das könnte tödlich sein“.

Nicht weit von der Höhle erstreckte sich eine kleine Schlucht nach Süden. Dorthin führte Montini die Frau. Vorsichtig stiegen sie über Felsbrocken, hinter jeder Biegung konnten Feinde lauern. Endlich wichen die Felswände zurück und vor ihnen fiel der Boden steil ab. Sie standen auf einem Felsvorsprung und ein überwältigender Blick tat sich ihnen auf. Im Morgennebel lag das Heimland vor ihnen. Ganz klein und verschwommen sahen sie Wälder, Felder und Dörfer. Über den Flussläufen war der Nebel besonders dicht. Da lagen ganz nahe, beinahe zu ihren Füßen, die Ortschaften Eichelhain und Lindendorf, und die roten Dächer in der Ferne mussten Nadelhohl sein. Trotz der frühen Morgenstunde waren Kolonnen von kleinen Gestalten unterwegs. Sie marschierten in Reih und Glied über die Straßen und in die Felder. Dort schienen sie wie Ameisen emsig zu arbeiten.

„Die Erits sind ein fleißiges Volk“, sagte Marga bewundernd zu ihrem Begleiter.

„Ich glaube nicht, dass sie dies freiwillig tun. Sieh genauer hin!" antwortete dieser.

Da erschrak die Frau, denn nun entdeckte sie, dass die Erits von großen dunklen Gestalten eskortiert wurden. Sie schwangen dunkle Gegenstände, in denen Marga Peitschen vermutete.

„Mein Gott“, rief sie aus, „wer hat dieses arme Volk versklavt?"

„Es sind Orokòr, die du da siehst“, sagte Montini. „Sie haben die Herrschaft im ganzen Heimland übernommen und zwingen alle Einwohner zu Fronarbeit. Ich beobachte die Entwicklung schon seit Tagen“.

„Warum wehren sich die Erits nicht?"

„Gegen diese Übermacht haben sie keine Chancen. Zudem sind die meisten ihrer Soldaten zum Feind übergelaufen oder wurden außer Gefecht gesetzt. So wie ich die Lage beurteile, ist das Heimland verloren. Was wollt ihr jetzt tun?"

„Das muss ich mit den anderen besprechen“.

Horsa saß im Eingang der Höhle und hatte vor sich einen Haufen Steine aufgeschichtet. Auch Werhan war inzwischen aufgewacht. Seine Schmerzen hatten etwas nachgelassen. Marga erzählte, was sie gesehen hatte. Horsa sprang entsetzt auf.

„Das ist noch schlimmer, als ich befürchtet habe. Ich muss mein Land befreien“.

Da lachte Montini: „Gestern wärst du beinahe von den Taks umgebracht worden, und die Taks sind vergleichsweise harmlos im Vergleich mit den Orokòr. Wie willst du dich mit diesen Heeren anlegen?"

„Ich will nicht, ich muss!" sagte Horsa feierlich.

Danach herrschte Schweigen in der Höhle.

Endlich fragte Werhan mit gepresster Stimme: „Was wollt ihr mit mir machen? Ich bin verwundet und nur eine Last für euch“.

„Wir kriegen dich schon wieder hin“, sagte Montini und ging aus der Höhle.

Als er zurückkehrte, hatte er Moose und Farne bei sich, die er um Werhans Wunde wickelte. Dann schiente er das Bein und sagte: „Steh' auf!"

„Das geht doch nicht. Die Wunde fängt sofort wieder an zu bluten, und ich bin froh, dass die Schmerzen etwas nachgelassen haben“.

„Steh' auf!"

„Lasst mich doch einfach hier in der Höhle liegen und geht eurer Wege“, sagte Werhan gepresst.

„Ich bleibe bei dir“, mischte sich Marga ein.

Doch der Alte kümmerte sich nicht um sie, sondern wiederholte: „Steh' auf!"

„Aber so seht es doch ein, er kann nicht aufstehen“, empörte sich Marga.

Unbeirrt sagte Montini noch einmal: „Steh' auf!"

„Nun gut, ich will beweisen, dass es wirklich nicht geht“.

Werhan knirschte mit den Zähnen und versuchte sich hoch zu stemmen. Der Alte fasste ihn unter der Schulter und zog, und plötzlich stand der junge Mann und machte, bevor er sich selbst versah, einige Schritte.

„Es schmerzt gar nicht so sehr, wie ich erwartet habe“, sagte er erstaunt. „Nur die Beinschiene stört ein wenig“.

„Dann ist dieses Problem also auch gelöst“, sagte Montini, „und wir können endlich aufbrechen“.

Bald verließen sie den Weg und bogen ab nach Norden. Nun hatten sie nicht einmal mehr einen Pfad, sondern stolperten über Steinbrocken und zwängten sich durch Gestrüpp. Das Fortkommen war schwierig. Horsa sah zu Werhan zurück, der sich mit seinem kaputten Bein redlich abmühte. Er tat ihm leid, und an besonders schwierigen Stellen griff er ihm kräftig unter die Schultern und half ihm beim Klettern. Bald hatten sie die letzten größeren Pflanzen hinter sich gelassen und waren von nacktem Fels umgeben. Hier wuchsen nur noch Flechten und Moose. Je weiter sie noch oben stiegen, desto kälter wurde es, deshalb zogen sie ihre Mäntel fester um sich.

Montini schien der Weg nichts auszumachen, denn er schritt zielstrebig aus. Als die jungen Leute eine Pause verlangten, murmelte er etwas von „verweichlichter Jugend“ hielt aber nicht an. Die Schlucht endete in einer Geröllhalde. Steinlawinen waren von der hohen Flanke eines Berges heruntergestürzt. Hier gab es kein weiteres Fortkommen. Sie waren in einer Sackgasse. Empört beschwerte sich Horsa bei Montini.

Aber der lachte nur: „Glaubt ihr denn, dass der Hüter der Berge sein Gebirge nicht kennt?"

Da sahen sie plötzlich Stufen im Fels. Sie waren alt und verwittert, aber noch gut zu begehen. Die alte Treppe führte um mehrere Felsvorsprünge und plötzlich standen alle vor einer Wand von Menschenhand. Fugenlos ruhten mächtige Quader aufeinander. Sie mussten den Kopf weit in den Nacken legen, wenn sie die Zinnen der Mauer sehen wollten.

„Wo sind wir? Was ist das?" fragte Marga.

„Es ist eine Burg aus den Zeiten der großen Könige. Das Gemäuer ist schon lange in Vergessenheit geraten, und nicht einmal die alten Bücher berichten von ihm. Ich glaube, selbst der Zauberkönig weiß nichts von ihrer Existenz. In all den Jahren habe ich sie hin und wieder besucht und nach dem Rechten gesehen. Kommt weiter, bis zum Tor müssen wir noch etwas steigen!"

Es war keine große Tür, mehr eine Pforte, und Holz war verwittert. Doch Eisenbeschläge hielten es noch immer fest zusammen. Rechts neben dem Eingang war ein Labyrinth in die Mauer gemeißelt, durch dessen Fugen der Alte mit einem Finger fuhr, bis der Torflügel knarrend aufschwang. Sie traten ein und standen auf einem kleinen dreieckigen Hof, der von der Burgmauer und zwei mächtigen Felswänden begrenzt war. In der Mitte sahen sie einen überdachten Brunnen. An eine Felswand gelehnt standen zwei steinerne Häuser, rechts erhob sich ein großer runder Turm. Die Burganlage war nicht groß. Sie glich einem Adlernest. Sollte es ein Feind wagen, zu ihr empor zu klettern, so bedurfte es nur wenig Mühe, ihn für dieses waghalsige Unterfangen zu bestrafen.

Der Alte ging zum ersten Haus. Gemeinsam traten sie ein. Staub wirbelte unter ihren Schritten auf. Ein Teil der hölzernen Einrichtung war zerfallen, Tische und Kommoden zerbrochen. Einst war es hier sicher gemütlich gewesen, aber von den Teppichen an den Wänden waren nur noch Fetzen übrig, und selbst die Stühle hatten die Würmer so zerfressen, dass sie nicht einmal mehr das Gewicht eines Erits trugen. Die Luft roch abgestanden und stickig. Hatten sich die jungen Leute auf etwas Erholung gefreut, so trachteten sie nun danach, diesen unwirtlichen Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Montini schienen Zerfall und Moder nicht zu stören. Unbeirrt ging er zu einer großen, hölzernen Truhe mit eisernen Beschlägen an der Längsseite des Raumes und öffnete sie. Sie war erstaunlich gut erhalten. Dann winkte er seinen Begleitern.

„Das werdet ihr brauchen. Nehmt, was ihr wollt“, sagte er und deutete auf einen großen Haufen Waffen. „Große Schmiede in alten Zeiten haben sie gefertigt. Sie waren einst für die Getreuesten des Königs bestimmt. Ihr werdet wohl kaum wieder Waffen dieser Güte zu Gesicht bekommen“.

Erstaunt betrachteten Werhan und Horsa die Klingen, die nach all den Jahren noch immer glänzten. Die Hefte der Dolche und Schwerter waren mit Gold und Edelsteinen verziert, die Scheiden mit Silber beschlagen.

„Wenn wir damit gesehen werden“, murmelte Werhan, „haben jeden im Heimland auf unseren Fersen. Diese Waffen sind schön und nützlich, aber auch verräterisch“.

„Ihr sollt sie auch nicht offen tragen“, der alte Mann war über den Unverstand seiner Schützlinge empört. „Ich werde euch zeigen, wie man sich verdeckt bewaffnet“.

Er suchte für alle einen Dolch und für die beiden Männer ein kurzes Schwert. Den Männern band er die Dolchscheide unter den linken Arm. Dort wurde das Messer von Jacke und Mantel verdeckt, konnte aber rasch gezogen werden. Marga band er die Waffe unter ihren Rock an den Oberschenkel. Die Schwerter wurden auf den Rücken geschnallt, so dass man sie über die Schulter ziehen konnte.

„Ihr sehr harmlos aus und seid doch sehr gefährlich“, sagte Montini zufrieden.

Dann verließen sie den Rittersaal und gingen über den Burghof zum zweiten Gebäude. Dort war es viel enger, denn die Räume waren erheblich kleiner, aber dafür wohnlicher. Der Hüter der Berge hatte hier in all den Jahren immer wieder nach dem Rechten gesehen, von Zeit zu Zeit die Möbel repariert und neue Teppiche ausgelegt. In der Ecke stand ein grob gezimmerter Schrank, in dem sich ein kleiner Vorrat an genießbaren Lebensmitteln fand. Sie ließen sich zu einem gemütlichen Mahl nieder. Es gab geräuchertes Fleisch, gesalzene Butter, ein Einmachglas mit Gurken und eine Flasche Rotwein. Brot zauberte Montini aus seiner Umhängetasche. Es war einfach köstlich. Später saßen sie dann satt und zufrieden auf einer steinernen Bank im Burghof, die Nachmittagssonne wärmte ihre Glieder.

Irgendwann sagte der Alte: „Nun seid ihr ausgerüstet. Was wollt ihr jetzt unternehmen? Doch was immer ihr auch tut, merkt euch den Weg zu dieser Burg. Sie kann euch als sicherer Rückzugshort dienen“.

„Wir haben noch immer vor, uns nach Heckendorf durchzuschlagen“, antwortete Horsa. „Ich hoffe, dass wir auf Gutruh sicher sind. Von da will ich Bundesgenossen suchen und den Eindringlingen das Leben schwermachen. Wir werden die Partisanen des Heimlandes sein“.

„Wenn ihr euch da nur nicht täuscht!" Montini schien mit dem Plan nicht besonders zufrieden. Aber er sagte nicht warum, und so schwiegen sie wieder.

„Wie war es vordem hier?" fragte Marga irgendwann.

„Oh, die Männer, die hier Wache hielten, waren stets guter Dinge“, schmunzelte Montini. „Da drüben an dem Hackstock, der heute so alt und vermodert aussieht, stand Eruman und schnitzte. Wenn er nicht gerade aß oder Unmengen Wein trank, dann schnitzte er. Es waren wunderschöne Dinge, die er mit seinen riesigen Händen gestaltete, und sie waren fein und zart. Kleine Vögel, von denen man jeden Augenblick annehmen konnte, sie würden wegfliegen, und Mäuse und Eichhörnchen. Jedes Mal, wenn er wieder ein Figürchen fertig hatte, ging er zu seinen Gefährten und zeigte es stolz. Und alle sahen auf seine mächtigen Pranken, mit denen er den Kopf eines Feindes wie eine Frucht zerquetschen konnte, und staunten.

Und da war dann noch Murowin. Er war ein unglaublich guter Kletterer. Er konnte ohne ein Hilfsmittel eine senkrechte Felswand erklimmen. Immer wenn er keine Wache hatte, ging er auf Tour. Ich glaube am liebsten schlief er in der Wand, wo ihn der Wind umtoste und der Abgrund ihm das Gefühl der Weite und Unendlichkeit vermittelte“.

Werhan war aufgestanden, auf die Zinnen der Mauer geklettert und hatte nach unten gesehen.

Nun kehrte er zurück und sagte: „Diese Burg ist so gut wie uneinnehmbar. Diese Felswände und Mauern kann kein Sterblicher bezwingen. Ist die Burg jemals angegriffen worden?"

„Oh ja, hier wurde einst auf Leben und Tod gekämpft“, sagte der Alte nach einer langen Pause. „Doch dazu muss ich etwas weiter ausholen.

Die Besatzung der Burg bestand in diesen längst vergangenen Zeiten aus vier Mann. Das Land westlich des Thaurgebirges stöhnte unter einem grausamen Krieg, den der tückische Ormor gegen König Arveleg den Ersten entfacht hatte. Man nennt ihn heute den Diamantenkrieg. Diese Burg, von den alten Königen als Zuflucht erbaut, war als letzte Rettung für Arveleg gedacht, falls er den Kampf verlieren sollte, und musste deshalb bewacht werden. Es war wichtig, dass das Geschlecht der Habbas nicht ausstarb.

Diese Burg hier war deshalb ein wichtiger Trumpf in der Strategie der Berater von König Arveleg. Man kommandierte eine Schar Männer zu ihrer Bewachung ab, und da man nicht erwartete, dass sie entdeckt und überfallen würde, war die Schar klein. Die Truppen des Zauberkönigs waren nämlich weit in der Übermacht, und auf gute Krieger konnte in all den Schlachten nur schwer verzichtet werden. So suchte man einige wenige, denen man voll vertrauen konnte. Man fand vier Männer, und die Wahl war gut. Sie galten als überaus tapfer, verloren auch in extremen Situationen nicht die Nerven, und jeder von ihnen stand für eine ganze Kriegerschar. Sie waren für die Aufgabe wie geschaffen. Eruman, Murowin und die beiden anderen hatten den Auftrag nicht gern angenommen. Sie hätten lieber im Kampf ihre Pflicht getan. Nachdem man ihnen jedoch die Bedeutung der Wache erklärt hatte, waren sie einverstanden. So zogen sie in die Berge und waren mit einem Schlag aus dem Krieg in den Frieden versetzt. Und sie gewöhnten sich an den Frieden. Den ganzen Tag hallten die Berge und das Tal von ihrem Singen und Lachen wieder. Jeder von ihnen hatte eine Liebhaberei, der er mit großem Eifer nachging. Von dem Bergsteiger und dem Holzschnitzer habe ich euch schon erzählt. Nun muss ich noch von dem Dritten berichten. Er war ein Steinmetz. Von morgens bis abends bearbeitete er Steine und schuf wunderbare Figuren. Er schaffte es, den Felsen so zu gestalten, dass man seine Geschöpfe für lebend hielt“.

Montini stand bei diesen Worten auf und führte seine jungen Gäste quer über den Hof. Dort standen in einer Ecke große Köpfe, sitzende Figuren und ineinander verschlungene Paare. Aber die Zeit hatte an dem Stein ihre Spuren hinterlassen. Die Nasen hatte der Regen im Sommer und das Eis des Winters abgesprengt, die steinernen Oberflächen waren rau und voller Sprünge. Von der Kunst des Steinmetzen war kaum noch etwas zu erkennen.

„Damit", Montini zuckte die Schultern, „kann ich wohl nicht mehr von den Fähigkeiten Erecs, so hieß der Mann nämlich, überzeugen. Die Jahre haben ihr Vernichtungswerk getan. Menschenkunst kann der Zeit eben nicht widerstehen“.

Jeder setzte sich auf eine der Skulpturen, und der Alte erzählte weiter.

„Erec, der Steinmetz, war jung und sah gut aus. Viele der Frauen in der Ebene dachten mit Sehnsucht an ihn, und so manch' eine trug wahrscheinlich auch ein Kind von ihm unter ihrem Herzen. Er war der Fröhlichste der Besatzung. Er pfiff bereits, wenn er sich morgens von seinem Lager erhob, und er machte noch einen Scherz, bevor er seine Augen zum Schlafen schloss. Doch seine Leidenschaft für den Stein wurde allen zum Verhängnis.

Diese Burg war dem Feind zwar unbekannt und weit abgelegen, aber die Hammerschläge, mit denen er den Fels bearbeitete, hallten weit durch die Berge. Eines Tages war es dann so weit. Sie waren alle früh aufgestanden und hatten sich fröhlich an ihr Tagewerk gemacht. Das Frühstück war gut und reichlich gewesen und der Krieg weit weg. Worüber sollten sie sich Sorgen machen? Die Burg war schließlich so gut wie uneinnehmbar. Von unten war sie das auch, aber nicht von oben.

Die Hammerschläge Erecs hatte nämlich ein Luftdrachen gehört, der auf Befehl Ormors Patrouille in den Bergen flog. Ich weiß nicht, ob ihr Luftdrachen kennt? Sie sind etwa sechzig Fuß lang und damit etwas kleiner als normale Drachen, jedoch wie diese stark und zäh. Man sagt, sie wären blutgierig und bösartig und hätten zehn Leben. Dieser Luftdrachen kreiste über dem Burghof, ohne dass er bemerkt wurde, bis er plötzlich herunterstieß“.

„Aber wie konnte sie sich unbemerkt der Burg nähern?" Marga hatte atemlos gefragt.

„Daran war der vierte Mann schuld. Ihm war an diesem Morgen die Wache übertragen. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er stand im Schatten des Luginslands und beobachtete aufmerksam das Tal, das zur Burg führt. Dies beschäftigte ihn so, dass er nicht nach oben blickte. So wurde er schuldig am Tod seiner Freunde.

Der Luftdrachen stieß herunter und erschlug mit seiner Tatze sofort den Steinmetz. Gleichzeitig rollte sich sein langer Schwanz um Murowin, der sich gerade anschickte in die Wand zu steigen. Er wurde in die Luft gerissen und gegen den Felsen geschmettert. Inzwischen waren aber Eruman und der Wachhabende auf das Verhängnis aufmerksam geworden und hatten ihre Schwerter gezogen. Der Holzschnitzer rannte unter den Flügeln hindurch und stieß sein Schwert in den stinkenden Bauch des Ungeheuers. Das Eisen drang auch ein, aber es schien dem Tier nichts auszumachen. Das wurde nur noch wilder und wütender. Mit einem Fauchen warf es sich herum, und Murowin erhielt von seinem Flügel einen so heftigen Schlag, dass er quer über den Burghof flog. Er knallte gegen den Turm, wo der vierte Mann stand, dabei brach er sich den linken Arm. Doch er war zäh, stark und tapfer. Sofort erhob er sich wieder und umklammerte mit der Rechten sein Schwert, das er trotz allem nicht losgelassen hatte. Der mächtige Drachen sah es und stürzte sich mit einem Sprung auf ihn. Während Murowin von den Kiefern zermahlen und von den spitzen Zähnen zerfetzt wurde, kam die Chance für den vierten Mann. Dieser sprang von der Mauer herunter auf den Luftdrachen, konnte sich um seinen Hals gleich unterhalb des Kopfes klammern und stieß mit seinem Dolch dreimal zu. Dabei vernichtete er jedes seiner drei Augen. Nun war das Ungeheuer blind. Wütend und rasend vor Schmerz schleuderte es seinen Kopf hin und her, um den Feind abzuschütteln. Dies gelang ihm nicht. Stattdessen wurde der lange Dolch immer wieder in seine Kehle gestoßen. Weißes Blut spritzte aus den Wunden und besudelte den Burghof. Mit einem letzten Akt der Verzweiflung erhob sich der Drachen in die Lüfte und taumelte über die Zinnen der Mauer. Dort über dem Abgrund erhielt er den letzten, den entscheidenden Stoß und starb mit einem die Ohren betäubenden Zischen. Dann stürzte sie zusammen mit ihrem Peiniger in die Tiefe“,

„Und was geschah mit dem Mann, der an seinem Hals hing?" fragte Horsa atemlos.

„Er fiel weich auf den stinkenden Körper. Zwar wurde er durch den Aufprall bewusstlos und hatte sich auch einige Knochen gebrochen, aber sonst war ihm nicht geschehen. Nach einigen Stunden erwachte er, schleppte sich in die Burg zurück und fand dort seine toten Kameraden“.

Montini holte tief Luft, und alle sahen, dass er um Fassung rang.

Endlich fuhr er fort: „Der Mann versah von nun an den Wachdienst allein und hielt die Burg für den König bereit. Arveleg musste sich eines Tages tatsächlich auf den Weg in die Zuflucht machen. Das Kriegsglück hatte sich gegen ihn gewandt. Doch er kam nie an und hat die Burg nie gesehen. Unterwegs wurde er von Männern seiner Leibwache ermordet, die der finstere Ormor in seinen Bann gezogen hatte. Der vierte Wachmann versah noch lange nach Kriegsende seinen Dienst. Er hat sich seine Schuld an dem Verhängnis, das seinen Freunden das Leben gekostet hat, nie vergeben.

„Und dieser eine wart Ihr?" fragte Marga mit warmer Stimme.

„Ja, der war ich“, sagte Montini, und Tränen standen ihm in den Augen. „Ich hatte versagt, und die anderen mussten es büßen. Ich habe mir nie vergeben. Als ich dann vom Ende des Krieges erfuhr, habe ich zur Buße die Aufgabe übernommen, diese Berge zu hüten“.

„Es hätte doch jedem anderen auch so ergehen können. Wer denkt schon an eine Gefahr aus der Luft!" Horsa verstand die Schuldgefühle nicht.

„Aber mir ist es passiert und keinem anderen. Doch wir haben schon zu lange geredet“. Montini wechselte abrupt das Thema. „Ihr müsst jetzt gehen, dann kommt ihr rechtzeitig mit Anbruch der Dunkelheit auf die Straße nach Eichelhain. Merkt euch den Weg zu dieser Burg. Die Schlange konnte Ormor damals nicht von ihrer Existenz berichten, und ich bin sicher, dass der Feind auch heute noch nichts von ihr weiß“.

Sie brachen auf, und Montini begleitete sie noch bis zum Ende des Tals, wo er ihnen den Weg wies. Dann nahmen sie mit schwerem Herzen Abschied von dem alten Mann, auf dem ein unheilvolles Schicksal lag. Werhan konnte inzwischen wieder so gut laufen, als ob ihm nichts zugestoßen wäre. So kamen sie rasch vorwärts und erreichten die Straße noch bei Tageslicht.


Im versklavten Land


Um nicht gesehen zu werden, verbargen sich Horsa, Marga und Werhan in dem dichten Gebüsch am Rand der Nordhausenstraße und warteten auf die hereinbrechende Nacht. In der Dunkelheit wollten sie quer über die Felder nach Süden.

Dazu kam es nicht, denn kaum hatten sie es sich unweit vom Straßenrand bequem gemacht, hörten sie das Knarren von Karren, dazu Schreien und Ächzen. Rasch zogen sie sich noch tiefer in die Büsche zurück, nicht ohne jedoch durch die Zweige auf die Straße zu spähen. Dort sahen sie einen seltsamen Zug aus Westen langsam näher kommen. Ein Leiterwagen, wie man ihn braucht, um im Herbst das Heu einzufahren, rumpelte über die löchrige Straße. Der Wagen wurde von zwei Ochsen gezogen. Voraus liefen fremde Soldaten in Uniformen. Eritsoldaten führten die Tiere und eskortierten das Gefährt. Die Fremden hatten dunkle Gesichter und lange Schwerter hingen an ihren Seiten. Einer trug sogar einen Spieß in den Händen.

„Das sind Südländer", flüsterte Horsa aufgeregt.

Das Herz drohte ihnen aber still zu stehen, als sie sahen, was auf dem Heuwagen transportiert wurde. Dort saßen Erits, Frauen und Männer, aneinandergefesselt und hüpften bei jedem Schlagloch auf dem harten Holz auf und nieder. Plötzlich sprang der junge Graf auf und wäre sicher gesehen worden, wenn ihn seine Gefährten ihn nicht rasch wieder heruntergezogen hätten.

„Unter den Gefangenen sind Mog und seine Frau“, rief er und konnte seine Stimme kaum dämpfen. „Mog und Ev und auch Pet. Wir müssen ihnen helfen!"

„Gegen diese Übermacht können wir nichts ausrichten“, sagte Werhan beruhigend. „Besser wir folgen heimlich und warten, ob sich später eine Gelegenheit zur Befreiung bietet“.

„Aber wir können Mog doch nicht in den Händen dieser Schurken lassen!"

„Du kannst ihnen nicht helfen, sondern dich höchstens neben sie auf den Wagen setzen“.

„Wenn du Feigling nicht mitmachen willst, dann befreie ich sie eben allein“.

„Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Wer hier tatsächlich feig ist, wird sich noch herausstellen“.

Sie hatten über ihrem Disput die Gefahr ganz vergessen und sich zuletzt gegenseitig angeschrien. Plötzlich waren sie von Eritsoldaten umringt, die mit gezogenen kurzen Schwertern auf sie losgingen.

„Wen haben wir denn da?" fragte ihr Anführer triumphierend. „Heute ist unser Glückstag! Das sind doch die Leute, nach denen im ganzen Heimland gesucht wird. Das wird eine saftige Belohnung geben“.

Von der Straße her rief in diesem Moment eine heisere Stimme: „Wo bleibt ihr? Beeilt euch, ihr kleinen Gauner, wir müssen weiter. Ihr seid ein faules Volk und sucht ständig nach Gelegenheiten, den Marsch zu unterbrechen. Kommt jetzt, sonst holen wir euch“.

„Verdammt noch mal“, flüsterte einer der Erits. „Die Südländer werden uns sicher die Gefangenen abnehmen, die Belohnung kassieren, und wir gehen wieder leer aus“.

„Wir dürfen ihnen diese drei Banditen eben nicht zeigen“, sagte der Anführer nachdenklich. Dann erteilte er rasch Befehle.

„Dollmann, Weißhand, Windhaar! Ihr bleibt hier und bewacht die Gefangenen. Wir gehen weiter und kommen so schnell es geht zurück. Dann liefern wir diese Verbrecher in Steinbruch beim General ab. Schließlich hat er im ganzen Heimland zur Fahndung aufgerufen“.

Er wandte sich an Horsa und die beiden Menschen: „Streckt eure Arme vor, damit wir euch fesseln können. Aber macht keine Tricks, wenn euch euer Leben lieb ist. Wir fackeln nicht lange, und tot seid ihr genauso wertvoll wie lebend. Es hieß nämlich, die Belohnung werde auch für eure Leichen gezahlt“.

Die Horsa und Werhan hoben ihre Hände. Es sah aus, als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben. Beruhigt ließen die Soldaten ihre Waffen sinken und gingen auf sie zu. Im diesem Augenblick aber fassten beide über ihre Schultern und zogen ihre Schwerter. Sie hatten, ohne sich zu verständigen, den gleichen Gedanken gehabt und auch sofort in die Tat umgesetzt. Ohne Vorwarnung griffen sie an, und bevor die Soldaten die Gefahr richtig wahrgenommen hatten, waren sie niedergestreckt. Erst als sie um sich herum die blutenden Leichen sahen, kamen Horsa und Werhan wieder zu sich. Marga stand schreckensbleich daneben und brachte kein Wort heraus. Sie hatte zwar ihren Dolch gezogen, aber nicht in den Kampf eingegriffen. Nun hörten sie wieder die böse Stimme des Südländers.

„Wenn ihr faules Pack nicht endlich kommt, dann könnt ihr etwas erleben. Ich verspreche euch, dass ihr solange gepeitscht werdet, bis ihr nicht mehr aufsteht“.

„Wir kommen schon“, rief Horsa und ahmte dabei die Stimme des Erit-Offiziers nach. „Du gehst rechts und ich links herum“, zischte er Werhan zu und lief los, ohne weiter darauf zu achten, ob sein Befehl auch befolgt wurde. Vorsichtig zwängte er sich durch die Hecke. Auf der Straße sah er die beiden großen Gestalten am ersten Wagen stehen und aufmerksam ins Gebüsch starren.

„Was diese Erit-Kerle wohl wieder treiben?" fragte der eine. „Wir sind viel zu gutmütig mit dieser Brut“.

In diesem Augenblick sprang Werhan mit gezogenem Schwert vor und griff ohne Zögern an. Erstaunt wandten sich die Fremden ihm zu. Doch bevor sie sich zur Wehr setzen konnten, hatte der junge Mann bereits mit seinem Schwert zugeschlagen und hinterließ eine klaffende Wunde im Arm des Kleineren. Vor Wut und Schmerz heulte dieser auf. Alle hatten nun ihre Waffen gezogen. Horsa hatte sich in der Zwischenzeit langsam von hinten herangeschlichen und stach nun sein Schwert mit großer Kraft in den Rücken eines der Südländer. Der Stich war überlegt und ruhig ausgeführt worden und sofort tödlich. Dem Opfer quoll ein Schwall Blut aus dem Mund und dann brach es lautlos zusammen.

Der andere der großen Männer fuhr herum und hieb auf Horsa ein. Dieser parierte und wich aus, während nun Werhan wieder angriff. Zu zweit nahmen sie den überlebenden Feind in die Zange. Dieser war aber kein unerfahrener Erit-Soldat, sondern ein gewiefter Kämpfer und seinen Gegnern an Kraft, Erfahrung und Heimtücke weit überlegen. Er achtete sorgfältig darauf, dass ihm keiner der beiden in den Rücken fallen konnte und trieb sie vor sich her die Straße hinunter. Es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis er Werhan oder den Grafen niedergestreckt hatte. Doch dazu kam es nicht. Der Südländer stöhnte plötzlich auf und sackte in sich zusammen. In seinem Rücken steckte ein langer Dolch, den Marga mit zwei Händen wieder herauszuziehen versuchte. Sie hatte den Fuß auf den Rücken des Toten gestemmt, aber ihre Kraft reichte nicht aus. Ihr Bruder musste ihr zur Hilfe kommen. Dann wandten sie sich den Wagen zu. Die gefangenen Erits hatten mit fassungslosem Entsetzen den Kampf verfolgt und jubelten, als man sie von ihren Fesseln befreite.

„Mit euch hätte ich nicht gerechnet“, sagte Mog zufrieden und rieb sich die Handgelenke. „Aber ihr seid nicht zu früh gekommen. Wir sollten zum General nach Steinbruch gebracht und dort verhört werden. Man hat in Heckendorf willkürlich Leute verhaftet, von denen man annahm, dass sie mit euch zu tun hätten“.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass der General hinter allem steckt“, sagte Horsa zu Werhan. „Warum hätte er uns freilassen sollen, wenn er doch Jagd auf uns machen wollte“.

„Die Freilassung sollte sein Gewissen beruhigen. Er war sich so sicher, dass er uns bald wieder eingefangen haben würde und hätte dann vor sich und aller Welt sagen können, er habe uns eine Chance gegeben. Das sei er dem Sohn seines ehemaligen Herrn schuldig gewesen“.

„Was hat der General mit diesen Menschen zu tun?"

„Du wirst der Wahrheit ins Auge sehen müssen: er hat sich mit dem Feind verbündet. Dabei ist es egal, welche Gründe er hat. Vielleicht will er seine Garnison retten? Vielleicht ist er bestochen worden oder auch nur ein jämmerlicher Angsthase, der durch Verrat seine Haut zu retten versucht? Tatsache ist, dass er uns jagen lässt, und einen Preis auf unseren Kopf ausgesetzt hat“.

Mog hatte dem Disput aufmerksam zugehört. Als die beiden schwiegen, sagte er ruhig: „General hin, General her! Wo gehen wir jetzt alle hin? "

„Wir hatten eigentlich vor, uns zu euch nach Heckendorf durchzuschlagen und dort unterzutauchen. Aber daraus wird wohl nichts. Gutruh ist nicht mehr sicher“.

„In unserem schönen Gutruh haben sich schreckliche Menschen einquartiert. Sie werden es so besudeln, dass wir wochenlang schrubben müssen, um es wieder sauber zu bekommen“. Ev hatte sich eingemischt. „Aber ich mache euch einen anderen Vorschlag. Westlich von hier, in Nordhausen, wohnt Til, unser Sohn. Bei ihm können wir um Aufnahme bitten. Dort wird man uns nicht suchen“.

„Dieses Ziel leuchtet mir ein“, sagte Horsa nachdenklich. „Aber wir gehen nicht über die Nordhausenstraße, das ist zu gefährlich. Wir pirschen uns über Feldwege nach Süden bis zur Querfeldstraße. Von dort nach Westen und dann über die Bergstraße bis zum Schiefertonwald. Das ist zwar ein weiter Umweg, aber so könnten wir vielleicht durchkommen, obwohl das ganze Heimland nach uns Ausschau hält“.

„Was ihr vorhabt, ist mir gleichgültig. Wir bleiben auf jeden Fall nicht länger hier und warten“. Ein dicker Erit mit einer großen, roten Nase war mühsam vom Leiterwagen heruntergeklettert und hatte sich vor ihnen aufgebaut. „Man hat mir mein Vieh und meinen Wagen genommen, man hat mich geschlagen und gefesselt. Nun bin ich zum Glück wieder frei und kann zurück auf meinen Hof. Dort werde ich nämlich gebraucht. Mein Vieh kann nicht warten, bis alle Verrückten aus dem Heimland abgezogen sind. Ich habe auch nicht vor, Versteck zu spielen. Meine Verhaftung war ein Irrtum, denn ich habe mir in meinem ganzen Leben noch nichts zu Schulden kommen lassen. So etwas wird sich deshalb auch nicht wiederholen. Ich bin sicher, man wird mich und die Meinen in Ruhe lassen. Dies aber nur, wenn wir rasch verschwinden und wieder unserem Alltag nachgehen“.

„Bauer Michel", sagte Mog, „ich kann dich gut verstehen. Auch ich wäre jetzt lieber in meinem Haus Gutruh. Aber Gutruh gehört uns nicht mehr, und wenn wir dorthin zurückkehren, so werden wir nicht mehr lange leben. Im Heimland hat sich alles verändert, und auf deinem Hof bist du nicht mehr sicher. Du wirst wohl oder übel mit uns kommen müssen. Dein Leben ist wichtiger als dein Vieh. Also, mach' keinen Unsinn und schließe dich uns an!"

Doch Bauer Michel schüttelte nur unwillig den Kopf, ergriff die Zügel des Gespanns und machte sich in höchster Eile nach Westen auf den Weg. Seine Familie folgte ihm.

„Wer nicht will, der hat schon“, bemerkte Horsa trocken. „Ich gebe keinen Pfifferling für sein Leben. Wir können uns nicht um jeden Bauern kümmern. Zunächst müssen wir die Leichen wegschaffen, damit man unsere Tat nicht sofort bemerkt. Ein Vorsprung ist enorm wichtig“.

Keiner widersprach ihm. So zogen sie mit vereinten Kräften die beiden Südländer zwischen die Hecken am Straßenrand. Dort bedeckten sie die Körper mit Laub und Zweigen und versteckten auch die Eritsoldaten. Selbst die Blutspuren im Straßenstaub wurden beseitigt. Dann gab Horsa den Befehl zum Aufbruch, doch niemand kümmerte sich um ihn. Ev, Mog, Werhan und auch Pet hatten sich um Marga versammelt, die am Straßenrand saß, den Kopf auf den Knien, und weinte. Werhan streichelte ihr begütigend über das Haar.

„Wenn du ihn nicht getötet hättest“, flüsterte er, „so hätte er uns umgebracht. Du hattest keine andere Wahl. Mach' dir nicht so viele Gedanken. Der Kampf hat erst begonnen, es wird noch mehr Tote geben“.

Marga nickte und ihre Schultern bebten. Dann erhob sie sich schwankend, gestützt von Werhan, und die ganze Gruppe lief eilends auf einem Feldweg nach Süden. Horsa setzte sich die Spitze und Pet gesellte sich zu ihm.

„Die Michels sind tatsächlich nur zufällig in die Geschichte hineingeraten“, erzählte er dem Grafen. „Man hatte Gutruh im Morgengrauen umstellt und uns gefesselt. Dann trieben sie uns unter großem Geschrei und Fluchen auf der Bergstraße nach Norden. Aber wir kamen nur langsam voran, denn wegen der Fesseln konnten wir nicht schnell laufen. Die Menschen aus dem Süden wurden immer ungeduldiger“.

Der Graf blickte grimmig in die Ferne, als Pet fortfuhr: „Schließlich kamen wir am Hof der Michels vorbei. Dort stand der Leiterwagen, und auch Ochsen waren vorgespannt. Der Bauer wollte gerade aufs Feld. Auf einen Befehl der fremden Soldaten hin stürmten die Erits auf den Hof und beschlagnahmten das Gespann. Doch da hatten sie die Rechnung ohne den Michel gemacht. Er setzte sich zur Wehr. Erklärte, er könne auf das Gespann nicht verzichten, und man solle ihn gefälligst in Ruhe seiner Arbeit nachgehen lassen. Er kümmere sich um niemanden und wolle auch nicht, dass sich jemand um ihn kümmere. Als er nicht nachgab, schlugen ihn die Soldaten zusammen und warfen ihn in den Dreck. Inzwischen waren auch die Leute von Michel erschienen und protestierten lauthals. Das hätten sie nicht tun sollen, denn nun wurden auch sie von den Soldaten überwältigt, gefesselt und zusammen mit uns auf den Wagen geworfen.

Obwohl der Treck nun schneller vorwärtskam, waren wir doch noch zwei Tage unterwegs. In dieser Zeit bekamen wir nichts zu essen und mussten auch in der Nacht gefesselt auf dem Wagen liegen. Nur einmal am Tag durften wir unsere Notdurft verrichten. Es war fürchterlich! Ich hatte das Gefühl, die Fahrt würde nie mehr aufhören. Durch das Gerüttel auf dem schlechten Weg bekamen wir überall blaue Flecken. Und dann der ständige Druck auf der Blase! Irgendwann schwanden mir die Sinne. Als ich wieder erwachte, wart ihr da. Der Bauer Michel aber, so meine ich, wird gefahrlos zurückkehren können. Auf ihn hat es bestimmt niemand abgesehen“.

Sie waren an einem kleinen Gehöft angekommen. Es schien verlassen zu sein. Das Dach war bis auf den Boden gezogen. Es sah aus, als ducke sich das Haus, um in der Gefahr unbemerkt zu bleiben. Im Stall brüllten Tiere, und in einem Pferch hinter dem Haus blökten Schafe. Es war klar, dass das Vieh Hunger hatte und versorgt werden wollte. Wortlos ging Horsa zum Gatter und ließ die Schafe frei. Dann öffnete er die Stalltüren und trieb zwei Kühe hinaus. Die Euter waren groß und prall gefüllt. Man sah, dass die Tiere Schmerzen hatten. Wenn sie nicht bald gemolken wurden, würden sich die Euter entzünden. Marga suchte nach einem Schemel, um den Tieren diesen Dienst zu erweisen. Doch der junge Markgraf herrschte sie an, dazu wäre jetzt keine Zeit. Marga widersprach nicht, aber ihre Lippen wurden schmal.

Es begann zu regnen, und der Boden weichte auf. Das Fortkommen wurde schwieriger, denn die Füße sanken bei jedem Schritt in die weiche Erde. Bald waren sie bis auf die Haut durchnässt und froren. Ev, die schon die strapaziöse Entführung hinter sich und seit Tagen nichts gegessen hatte, begann zu taumeln. Als sie an einer einsamen Feldscheune vorbeikamen, rief Werhan, der als letzter ging: „Halt! Hier machen wir Rast!"

Horsa achtete nicht auf ihn und lief weiter. Als er sich aber nach einer Weile umsah, bemerkte er, dass alle anderen stehen geblieben waren und sich anschickten, ins Trockene zu schlüpfen. Zornig kehrte er zurück, sagte aber kein Wort. Drinnen war es dämmrig und windgeschützt. Aufatmend sanken alle ins weiche Heu. Die beiden Menschen packten ihre Vorräte aus und gaben Mog und seiner Familie zu essen. Bald wandelte sich die Stimmung, alle Gefahren schienen weit weg, man entspannte die Glieder.

Plötzlich begann Ev leise zu weinen und flüstert: „Heimatlos! Was sollen wir denn jetzt tun? Vertrieben von Herd und Bett! Die ganze schöne Bettwäsche! Wer wird jetzt das Haus sauber halten?"

„Beruhige dich, Mutter“, sagte Pet. „Wir werden Gutruh eines Tages wiederbekommen, und alles wird sein wie früher."

Alle redeten begütigend auf Ev ein, aber die ließ sich nicht beruhigen. Nur die Stimmen wurden leiser, und obwohl Horsa immer wieder zum Aufbruch mahnte, dösten alle mit der Zeit ein. Die Kräfte waren verbraucht, die Körper ausgelaugt und forderten ihren Tribut.

Als sie wieder erwachten, war es tiefe Nacht. Der Mond hatte sich hinter dichten Wolken versteckt, und vor der Scheune konnte man die Hand nicht vor den Augen sehen. Dies waren gute Bedingungen, unbemerkt das Land zu durchqueren. Werhan hatte in einer leeren Ecke ein kleines Feuer entzündet, an dem sich alle wärmten. In seinem Licht entdeckte Horsa eine Windlaterne mit einem ansehnlichen Kerzenstummel.

„Damit könnten wir den Weg finden“, sagte er. „Kommt, wir brechen auf. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren“.

„Das Licht sieht man in dieser Dunkelheit meilenweit“, entgegnete Werhan. „Es ist gefährlich, mit Licht zu marschieren“.

„Wir müssen das Risiko eingehen“, befahl der Graf knapp.

Keiner widersprach, und bald waren sie wieder in Regen und Sturm unterwegs. Das Wasser peitschte ihnen ins Gesicht, und trotz der Laterne war der Weg nur schwer zu erkennen. Keiner redete. Nur ihr Keuchen war im Heulen des Sturms zu hören. Horsa trug die Laterne. Pet stützte seine taumelnde Mutter, die am Ende ihrer Kraft war. Marga lief neben Werhan und hatte die Hand ihres Bruders fest umfasst. Irgendwann enthüllte das Licht eine Mauer. Sie fanden ein Gartentor, öffneten es und schlichen zum Haus. Die Haustür war offen und schlug im Wind hin und her. Vorsichtig traten sie ein und durchsuchten alle Räume. Sie waren leer. Auch hier schrie das Vieh im Stall. Sie banden es los und öffneten die Stalltür, damit es, wenn das Wetter besser wurde, Futter suchen konnte. Gegen den Einspruch von Horsa hatte Werhan in der Küche im Herd Feuer gemacht und Wasser aufgesetzt. Trockenes Reisig prasselte und der Rauch zog durch die große, schwarze Esse ab. Ev hatte Teeblätter gefunden und kochte ein starkes Getränk. Auch Pet hatte sich auf die Suche begeben und brachte nun eine Flasche Korn. Jeder schüttete sich einen tüchtigen Schluck in den heißen Tee.

„Wo sind sie nur alle Bewohner?" fragte Werhan.

„Ich weiß es nicht“, sagte Horsa. „Aber ich vermute nichts Gutes“.

„Sie sind versklavt“, sagte Marga ruhig. „Das Heimland ist völlig unter der Herrschaft des Bösen. Ich habe selbst gesehen, wie man sie zusammengetrieben hat. Es gibt keine Rettung. Gegen diesen Feind kann man nicht kämpfen. Da bleibt nur die Flucht“.

„Ich fliehe nicht! Ich werde mein Erbe nicht aufgeben! Wir werden siegen!"

Horsa hatte pathetisch und trotzig gesprochen, aber alle waren von der Kraft, die von ihm ausging, beeindruckt.

„Wer will, kann gehen“, fuhr er fort, „und Rettung außerhalb des Heimlandes suchen. Ich werde nach Nordhausen gehen. Mog, ich nehme an, du kommst mit mir“.

Dies war ein Befehl, und der Alte flüsterte: „Ja, Herr“.

„Obwohl es besser wäre zu verschwinden, kommen auch wir mit“, mischte sich Werhan ein. „Marga, bist du einverstanden? Aramar hat uns schließlich einen Auftrag erteilt“.

Marga nickte.

„Dann ist ja alles klar“, meinte der Markgraf befriedigt. „Nun aber los, wir haben schon zu viel Zeit verloren“.


Sie kamen noch an manchen Gehöften vorbei, und alle waren verlassen. In der Morgendämmerung ließ der Regen nach. Frühstück nahmen sie wieder in einem leeren Bauernhof ein und ruhten sich ein wenig aus. Dann schleppten sie sich weiter. Horsa trieb sie unerbittlich an. So ging es den ganzen Tag. Am Nachmittag sahen sie von fern eine marschierende Kolonne, konnten aber nicht ausmachen, ob es Erits, Menschen oder noch schlimmere Geschöpfe waren. Sie verbargen sich eilig hinter Hecken und wagten sich erst wieder hervor, als die Luft rein war.

Am Abend kamen sie an die Stelle, an der ihr Pfad auf die Querfeldstraße stieß. Nun mussten sie sich nach Osten halten bis zur Bergstraße. Der neue Weg war häufiger begangen und fest ausgetreten. So fiel das Laufen leichter. Auch säumte ihn eine dichte Hecke, die sie vor Blicken schützte. Es dämmerte schon, da sahen sie im Süden einen hellen Lichtschein. Alle zwängten sich durch die Büsche, starrten und versuchten, etwas zu erkennen.

„Dort liegt Ährentreu“, sagte Mog, „und Ährentreu steht in Flammen“.

„Lasst' uns weitergehen!" Marga schauderte. Sie stellte sich vor, was sich in dem Ort im Augenblick zutrug, und ihr Herz war voll Mitleid.

Die Wolken hatten sich verzogen und ein fahler Mond stand am Himmel, der ihnen den Weg wies. Sie näherten sich der Kleestraße. Gegen Morgen schliefen sie ein paar Stunden und froren trotz ihrer Mäntel. Sie hatten Wachen aufgestellt, denn nun war ständig mit einem Überfall zu rechnen. Bei hellem Tageslicht ging es weiter. Es war ein trostloser Marsch. Ihre Vorräte gingen inzwischen zur Neige und reichten nicht einmal mehr für ein ordentliches Frühstück. Gegen Mittag wurden sie auf eine große Zahl schwarzer Vögel aufmerksam, die nicht weit von der Straße in der Luft kreisten.

„Geht nicht hin“, sagte Marga. „Es ist nicht schön, was ihr dort finden werdet“.

Aber die Männer ließen sich nicht abhalten, und so blieb sie mit Ev zurück. Als Horsa, Werhan und Pet zurückkehrten, waren sie bleich, und Pet würgte es. Sie hatten gefunden, was die Vögel so sehr anzog. Es war ein Berg von toten Erits, Männer, Frauen und Kinder. Man hatte sie abgeschlachtet und einfach liegen gelassen.

„Wer vollbringt so etwas Grausames und Sinnloses?" fragte der Graf immer wieder.

Sie machten erst spät wieder Rast. Der Hunger war nun quälend. Zum Glück hatten sie bei der Überquerung des Nordbachs ihre Wasserflaschen auffüllen können, so dass sie zumindest keinen Durst leiden mussten. Dann kam wieder eine Nacht. Beim ersten Tageslicht brachen sie auf, und alle waren froh über den Tag. Es war noch nicht Mittag, da trafen sie zum ersten Mal auf den Feind. Von ferne sahen sie eine Schar Erits, die quer über die Felder lief und von großen Leuten eskortiert wurde. Alle, sogar die beiden Frauen, warfen sich auf die Erde, beobachteten aber doch neugierig die gefangenen Erits. Diese schienen müde, denn sie gingen langsam und schleppten sich vorwärts. Da erhob einer der großen Leute eine lange Peitsche, so eine, wie sie zum Antreiben der Ochsen benötigt wird, und drosch auf die Gefangenen ein. Die Schmerzensschreie hallten quer über die Felder. Die Gruppe blieb auch dann noch liegen, als von dem Sklavenzug längst nichts mehr zu sehen war. Dann standen alle langsam auf und waren bei ihrem Marsch noch vorsichtiger. Einer ging immer voraus und erkundete die Straße. Die anderen folgten erst auf sein Zeichen, stets bereit sich hinter Büschen und Hecken zu verbergen. Noch einmal begegneten sie gefangenen Erits. Ganz dicht kam die unglückliche Gruppe an ihnen vorbei. Aber zum Glück wurden sie nicht gesehen. Die großen Leute saßen auf einem Wagen und ließen sich von den Erits ziehen. Es waren Menschen in Rüstungen aus Leder. Sie hatten Schwerter umgeschnallt und gebrauchten kräftig die Peitsche.

Als sie vorüber waren, fragte Ev: „Warum müssen Erits den Wagen ziehen. Es gibt im Heimland doch genug Ochsen, die man vorspannen kann?"

„Zugtiere gibt es sicherlich“, antwortete ihr Werhan, „aber es geht nicht um das Ziehen. Der Feind will die Erits demütigen, er will ihren Willen brechen“.

Sie zwangen sich zu einer letzten Kraftanstrengung und hasteten weiter. Horsa musste sie nicht mehr antreiben. Ihr Ziel war nun nicht mehr weit. Pet, der gerade als Vorhut ging, winkte plötzlich mit beiden Armen. Aber es war zu spät, sie konnten sich nicht mehr verbergen. Zwei Erits in Bauernkleidern kamen ihnen entgegen. Horsa und Werhan tasteten nach ihren Schwertern auf dem Rücken. Doch die Bauern waren keine Gefahr. Angst stand ihnen im Gesicht. Zitternd erwiderten sie den Gruß der kleinen Reisegesellschaft. Dann sprudelten sie Neuigkeiten heraus.

Nicht weit von hier läge neben der Straße ein umgestürztes Fuhrwerk und daneben Leichen. Es sei der Bauer Michel und die Seinen. Der Bauer sei ein Nachbar von ihnen gewesen. Zwar habe es hin und wieder Streit gegeben, denn der Bauer war ein eigenwilliger Mann. Aber dieses Ende habe er nicht verdient. Besonders ekelig, ja Furcht erregend sähen die Tiere aus. Man habe sie nicht geschlachtet, sondern das Fleisch einfach aus den Kadavern herausgerissen.

Werhan sagte nur ein Wort: „Orokòr!“

Grußlos trennte man sich und ging weiter.

Ein Schwarm schwarzer Vögel markierte auch diesmal den Ort des furchtbaren Geschehens. Sie sahen nicht hin, aber der Gestank verfolgte sie noch eine Weile.


Die Dächer von Nordhausen kamen in Sicht. Alle verbargen sich in einem kleinen Wäldchen vor dem Dorf, nur Ev ging allein zu den Häusern, um ihren Sohn zu suchen. Es dauerte nicht lange und sie kehrte mit Til zurück. Er war etwas gehemmt und verlegen, schien sich aber über den Besuch zu freuen. Über Umwege führte er sie zu einer Schmiede am Dorfrand und war dabei so umsichtig, dass sie sicher sein konnten, dass niemand sie sah. Über eine Treppe kletterten sie zu einer kleinen Kammer über der Werkstatt.

„Das war früher einmal meine Behausung“, sagte Til.

„Und wo wohnst du jetzt?" fragte sein Vater.

„In einem Haus in der Dorfmitte. Schließlich gehört die Schmiede jetzt mir. Die Kammer steht leer, bis ich einen Gesellen gefunden habe“.

„Da geht es dir aber gut, und du hast Karriere gemacht. Was ist denn aus dem alten Schmied geworden? Wie kam es, dass du sein Nachfolger wurdest?" Werhan hatte dem Sohn von Mog freundlich die Hand auf den Arm gelegt.

„Das erzähle ich alles später. Jetzt hole ich erst einmal Essen für euch. Ihr müsst völlig ausgehungert sein“.

Mit diesen Worten eilte Til die Treppe hinunter und verschwand zwischen den Häusern.

Fürs erste waren sie in Sicherheit und machten es sich in dem kleinen Raum gemütlich. Mog und seine Frau setzten sich auf das schmale Bett. Horsa und Marga nahmen auf zwei wackeligen Stühlen Platz. Für Pet und Werhan blieb nur der Fußboden. Doch die Enge war ihnen recht, gab sie ihnen doch allen das Gefühl der Nähe und Wärme, und trotz all der Schrecken wurden sie fast ein wenig fröhlich. Nur Werhan machte ein finsteres Gesicht. Bald hatten sie den kleinen Raum so erwärmt, dass sie ihre Mäntel und Jacken auszogen. Nun konnten alle die Schwerter auf den Rücken der jungen Männer sehen. Stolz reichten diese die blanken Waffen herum und erzählten, wie sie zu ihnen gekommen waren. Mog berührte vorsichtig die Edelsteine, mit denen das Heft von Horsas Waffe verziert war.

„Das ist ein Schwert aus den Schmieden jenseits der Berge“, sagte er voller Bewunderung. „Eine Meisterhand hat es geschaffen“.

„Und dieser reine Stahl“, fiel nun Werhan ein und hob seine Waffe in die Höhe, „soll niemals einem bösen Zweck dienen! Ich gelobe es!" Dann stellte er sich mit dem Schwert in der Hand neben dem Eingang auf.

In diesem Augenblick wurde die Tür durch einen wuchtigen Tritt aus ihren Angeln gerissen. Ein kalter Windstoß blies herein, und in der Türöffnung stand eine große schwarze Gestalt. In dem weit aufgerissenen Mund waren mächtige Reißzähne zu sehen, die spitzen Klauen hatte das Wesen weit vorgestreckt.

„Ein Orokòr!" rief Mog entsetzt.

Dieser rief mit hässlicher Stimme: „So haben wir euch endlich, ihr kleines Gewürm. Es hat lange gedauert, aber niemand entgeht uns. Kommt, man erwartet euch schon“.

Blitzartig, ohne ein Wort zu sagen, trat Werhan von der Seite auf die Bestie zu und stieß sein Schwert in das behaarte Herz. Der Orokòr war nicht sofort tot. Seine Klaue fuhr auf den jungen Menschen herab, und die langen Nägel bohrten sich in sein Fleisch und zerfetzten es. Dann sanken beide zu Boden. Damit war die Gefahr aber nicht gebannt. Ein zweiter Orokòr stieg über die Leiche des ersten. Er sah seinen toten Kameraden und begann zu toben.

„Das werdet ihr büßen“, krächzte er. „Ich werde euch langsam zermalmen und in Stücke reißen. Ihr werdet es verwünschen, jemals gelebt zu haben“.

Horsa hatte das Schwert auf den Unhold gerichtet und Marga ihren Dolch gezogen. Mog war aufgestanden und hielt einen Stuhl als Waffe in der Hand. Sie waren alle kampfbereit, obwohl sie gegen den mächtigen Krieger keine Chance hatten. Doch ein Umstand kam ihnen zu Hilfe: der Raum war so nieder, dass der Orokòr nicht aufrecht stehen konnte und gebückt kämpfen musste. So waren sich die Gegner beinahe ebenbürtig. Der schwarze Krieger musste so manchen Hieb und Stich von seinen kleinen Feinden einstecken. Das machte ihn noch wütender. Das ganze Haus bebte von dem wilden Kampf.

Mit der Zeit ließen die Kräfte der Verteidiger nach, und langsam gewann der Angreifer die Oberhand. Er drängte die Gefährten immer weiter in eine Ecke des Raumes. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis sie alle blutend am Boden lagen. Da griff Pet ein. Er war durch die Beine des Riesen geschlüpft und an seinem Rücken emporgeklettert. Nun klammerte er sich an dessen Hals fest und versuchte, mit seinem kleinen Dolch durch die ledrige Haut zu stechen, zwar ohne Erfolg, aber der Orokòr wurde abgelenkt. Er versuchte den Peiniger abzuschütteln. Dadurch gelang es Horsa, sein Schwert in den Bauch des Unholds zu stoßen. Dieser brüllte so laut auf, dass die Wände erzitterten, und schlug ziellos um sich. Der Schmerz hatte ihn blind gemacht. Marga tauchte wagemutig unter den Klauen hindurch. Sie hatte ihren langen, blanken Dolch mit beiden Händen am Heft gefasst und stieß ihn mit all ihrer Kraft dem Orokòr durch einen Spalt in der Rüstung. Dieser sank zusammen, Blut quoll aus seinem Mund. Bevor er starb, krächzte er einen Fluch. Dann war Ruhe in dem verwüsteten Zimmer.

Alle standen wie betäubt und konnten das Geschehene noch nicht fassen. Da bemerkten sie Til, der verlegen in der Tür stand, und eine plötzliche Erkenntnis kam über Horsa.

„Du Schwein hast uns verraten“, sagte er ruhig. „Du Schwein hast deine eigene Familie ans Messer geliefert“.

Til lief zu seiner Mutter und sank vor ihr auf die Knie.

„Mutter!" schluchzte er. „Mutter, verzeih mir! Ich musste es tun!"

Horsa achtete nicht auf ihn, sondern sagte wie zu sich selbst: „Und Werhan hat es gewusst. Er hatte dich angefasst. Er hat es gewusst und nichts gesagt“.

„Wir hätten ihm nicht geglaubt, wenn er von seinem Verdacht geredet hätte. Deshalb hat er geschwiegen und seine Vorkehrungen getroffen. Ohne ihn wären wir jetzt alle tot“. Sams Stimme erstickte.

Marga hatte sich zu ihrem Bruder auf den Boden gesetzt und barg seinen blutigen Kopf an ihrer Brust. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Du musst bei mir bleiben“, sagte sie leise. „Du darfst mich nicht allein lassen. Du bist doch das Einzige, was ich habe“.

Horsa fasste sie sanft um die Schultern und sagte: „Du hast doch noch mich.“

Centratur - zwei Bände in einer Edition

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