Читать книгу Centratur - zwei Bände in einer Edition - Horst Neisser - Страница 8

Оглавление

Osten


Auf den Schultern von Marc und Akandra lastet eine große Verantwortung. Sie müssen so rasch wie möglich nach Osten zum Land Rutan eilen. Wie die Vorkommnisse in Centratur zeigen, duldet ihre Mission keinen Aufschub. Aber sie sind noch jung und unerfahren und auf die Gefahren der Reise nicht vorbereitet.

Das Lager


Die große Scheibe der Sonne stand tief im Westen und sandte ihre Strahlen hinter den beiden Reitern her. Rechts und links war das Land flach und mit Büschen bewachsen. In der Ferne erhob sich ein Gebirgszug, der bis zur Straße reichte. Vor den Reitern, etwa eine halbe Wegstunde entfernt, lag dunkel ein Wald.

„Bis dorthin schaffen wir es noch“, sagte Marc, „obwohl ich verdammt müde bin."

Akandra antwortete nicht. Sie döste vor sich hin und hielt sich eisern am Sattelknauf fest. Sechs Tagen waren vergangen, seit die Erits wieder im Tageslicht waren. Sie hatten seit dieser Zeit nur Rast eingelegt, wenn die Tiere nicht mehr konnten, und kaum geschlafen. Wund geritten sehnten sie sich nach Ruhe. Doch ihr Auftrag trieb sie vorwärts. Am Abend des gestrigen Tages hatten sie die Oststraße erreicht. Etwas abseits des Weges hatten sie sich in ihre Decken gehüllt und unter einen Busch gelegt. Aber der erholsame Schlaf wollte sich nicht einstellen. Dazu war die Nacht zu kalt, denn der Winter stand vor der Tür. Schon vor Tagesanbruch hatten sie sich wieder auf ihre Ponys geschwungen und waren seitdem ununterbrochen geritten. Sogar gegessen hatten sie auf dem Rücken der Pferde.

Die sonst so belebte Strecke war völlig leer. Kein Wanderer oder Reiter, nicht einmal ein Fuhrwerk waren ihnen bisher begegnet. Die Flüchtlingsströme waren versiegt. Wie ausgestorben lag die Straße vor ihnen. In ihren Köpfen war nur noch den Wunsch, sich auf die Erde zu legen und zu schlafen. In dem Wald vor ihnen hofften sie auf ein ruhiges und sicheres Nachtlager.

Endlich verschwand ihr Weg zwischen Bäumen und damit auch das Tageslicht. Es wurde so dunkel, dass sie die Straße nicht mehr erkennen konnten. Plötzlich zischte Marc: „Vorsicht!"

Der Geruch von brennendem Holz war ihm in die Nase gestiegen. Aber es war bereits zu spät. Aus den Schatten zu beiden Seiten der Straße drangen düstere Gestalten und rissen die Erits von den Pferden. Fackeln wurden angezündet, und eine spöttische Männerstimme sagte: „Na, wen haben wir denn da?"

Verwundert antwortete ein anderer: „Es sind Erits! Was machen die außerhalb des Heimlands?"

„Wie heißt ihr, was sucht ihr hier, und wo wollt ihr hin?" fragte gellend eine dritte Stimme. Sie gehörte einer kleinen, glatzköpfigen Gestalt, wie Akandra jetzt erkennen konnte.

„Ich heiße Akandra, und das ist mein Freund Marc. Wir suchen die Einsamkeit."

Diese Ausrede hatten sie im Lauf des Tages abgesprochen.

„So, Jungfer Akandra, ihr sucht die Einsamkeit? Was hat in euch diesen törichten Wunsch geweckt? Die Zeiten sind nicht mehr so, wie sie einst waren, und die Wege unsicher. Diese Neuigkeit müsste doch bis ins Heimland herumgesprochen haben!" Es war ein großer Mensch, der ihnen entgegnete, der gleiche, der sie spöttisch begrüßt hatte. Marc fiel auf, dass er an jeder Hand sechs Finger hatte.

„Wir wollen nichts mehr mit dem Heimland zu tun haben“, mischte er sich nun ein. „Dort will man uns nicht haben, deshalb sind wir fort. Wir haben uns beide, und das genügt." Es gelang ihm, seiner Stimme einen überzeugenden, trotzigen und gekränkten Tonfall zu verleihen.

„Unsere Liebe durfte nicht sein“, Akandra war wieder mit dem Theaterspielen an der Reihe, „deshalb sind wir fortgezogen und beginnen in der Fremde ein neues Leben."

Die Gestalten um sie herum lachten schallend.

„Ein ausgebüxtes Liebespärchen“, brüllte einer und schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. „So irre wie die Zeiten, sind auch die Leute, die man trifft."

Der Große sagte nach einer Weile und schnappte dabei noch immer nach Luft vor Lachen: „Habt keine Angst und kommt mit. Ihr seid in Sicherheit. Wir gehören zwar nicht zusammen, sondern haben uns hier zufällig getroffen, aber beschlossen die Nacht gemeinsam zu verbringen. Wir sind eine handfeste Gruppe, und niemand wird es wagen, uns anzugreifen. Es gibt Bohnen mit Speck, und vielleicht habt auch ihr zu unserem Abendbrot etwas beizusteuern?"

Marc und Akandra atmeten auf. Durch ein glückliches Geschick durften sie sich auf eine ruhige Nacht freuen. Sie stapften tiefer in den Wald hinein. Dort brannte ein kleines Feuer. Ein spindeldürrer Kerl saß davor und rührte in einer großen Pfanne. Die Erits luden ihre Ponys ab und packten von ihren Vorräten aus. Dann sahen sie sich die Gesellschaft näher an, in die sie geraten waren.

Da waren der glatzköpfige Gnom mit seltsamen, spitzen Hüllen an seinen Fingern und der große Mensch, der Dürre am Feuer und ein weißhaariger Mann. Der trug seltsame lange Kleider, die mit einem Strick um seine Hüfte gegürtet waren. Außerdem hatten sich zwei Krieger am Feuer ausgestreckt. Sie trugen Rüstungen, waren schwer bewaffnet und machten keinerlei Anstalten, die eisernen Kettenhemden abzulegen. Zuletzt sahen sie noch einen jungen Mann mit einer Narrenkappe auf dem Kopf, der sich scheu in den Schatten eines Busches zurückgezogen hatte. Mit den Erits zusammen war die Gruppe neun Köpfe stark.

Nachdem die Männer über die Neuankömmlinge genug gelacht hatten, kümmerte sich keiner mehr um Marc und Akandra. Alle widmeten sich dem Essen. Die Bohnen waren zwar nur halb gar und versalzen, dennoch hallte das Lager von Schmatzen und Rülpsen wider. Auch die Erits lehnten schließlich satt und zufrieden an einem Baum, und die Augenlider wurden ihnen schwer. Sie waren beinahe eingeschlafen, als sich ein Schatten zwischen sie und das Feuer schob. Es war der junge Mann mit der seltsamen Kopfbedeckung, der geheimnisvoll flüsterte: „Meister Marc! Ich habe etwas, was ihr braucht. Was gebt ihr mir dafür?"

Schläfrig öffnete das Mädchen die Augen und antwortete an Stelle des Jungen: „Was bietest du uns an? Wir brauchen nichts!"

„Oh doch! Ihr wisst nur noch nicht, dass es so etwas gibt. Verliebte wie ihr brauchen so etwas ganz dringend, und ich habe es! Ich kann es euch günstig überlassen. Ich zahle dabei zwar drauf, aber eure Liebe rührt mich."

Neugierig geworden sagte Akandra: „Nun zeig' schon her!"

„Es ist ein wundersames Elixier“, wisperte der seltsame Kumpan. „Es ist unendlich wertvoll, ja, es ist eigentlich unbezahlbar."

Mit diesen Worten zog er ein kleines Fläschchen aus der Tasche und hielt es vorsichtig hoch, damit es die beiden im Schein des Feuers sehen konnten.

„Wozu soll es denn gut sein“, fragte das Mädchen amüsiert.

„Es wird eurer Liebe die Ewigkeit sichern."

„Sie muss aber gar nicht gesichert werden."

„Oh, sagt das nicht. Ich habe da andere Erfahrungen gemacht."

„Was bewirkt euer Elixier?"

„Wenn ihr es einnehmt, so bekommt ihr ganz rasch Kinder und zwar Knaben. Ihr habt dann ein Unterpfand eurer Liebe, und nichts wird euch mehr trennen." Die Worte des Mannes waren so leise geworden, dass man sie kaum noch verstehen konnte.

„Wer sagt dir, dass wir jetzt Kinder wollen?"

„Alle Liebenden wollen Kinder, und ich kann sie euch mit Garantie verschaffen. Ich überlasse euch das Elixier ganz billig. Ich selbst habe sehr viel dafür gezahlt."

„Und warum verkaufst du es dann?"

„Ich brauche es nicht mehr. Ich habe es zu spät bekommen."

Dann erzählte er die herzzerreißende Geschichte seiner großen Liebe, und wie das Glück zerbrach, weil keine Kinder kamen, und wie er sich auf die Suche nach einem Wundermittel gemacht hatte, das ihrer Not Abhilfe schaffen sollte. Er habe dann tief im Süden eine wundertätige Frau gefunden. Der habe er sein Leid geschildert. Sie habe ihm das Elixier verkauft, aber er habe als Bezahlung ein Jahr lang für sie arbeiten müssen. Als er endlich nach zwei Jahren Abwesenheit wieder nach Hause gekommen war, seien ihm zwei Kinder entgegengesprungen. Aus der Haustür sei ein fremder Mann getreten und habe ihn fortgejagt. Die Geliebte, für die er das alles auf sich genommen hatte, habe er nicht mehr zu Gesicht bekommen. Da habe er sich eine Narrenmütze aufgesetzt und sich auf den Weg in die Welt gemacht. Des Elixiers bedürfe er nun aus verständlichen Gründen nicht mehr, und wolle es deshalb den beiden Liebenden, die sein Herz erweicht hätten, günstig überlassen.

Marc war von der Geschichte gerührt und wollte den Wundertrank kaufen. Aber Akandra zischte ihm ins Ohr, dass er diesen Unfug nicht glauben solle. Der Junge beharrte auf seinem Entschluss, schon allein deshalb, weil er den Kauf eines derartigen Tranks für eine großartige Tarnung ihrer Liebesgeschichte hielt. Beinahe hätten sie sich gestritten, aber der junge Erit setzte sich durch. Er langte in seine Satteltasche, holte lässig ein Goldstück hervor und fragte: „Reicht dies?"

Der Mann war verwirrt über die reiche Entlohnung und stammelte immer wieder seinen Dank. Dann zog er sich rückwärts zurück, nicht ohne sich wiederholt zu verneigen. Akandra hatte der Szene unwillig zugesehen, aber nichts gesagt. Als sie jetzt aufblickte, bemerkte sie, dass die ganze Gesellschaft zu ihnen herübersah. Alle hatten den Vorfall mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Sie hätte Marc für sein unbedachtes Handeln ohrfeigen können. Als sie ihrem Begleiter ihre Beobachtung zuraunte, winkte der nur ab.

„Die haben nichts bemerkt“, sagte er beruhigend. „Die sind einfach nur neugierig, und wir gefallen ihnen. Man trifft eben selten Erits außerhalb des Heimlands. Kein Wunder, dass wir Aufmerksamkeit erregen. Warte nur ab, gleich kümmert sich keiner mehr um uns."

„Ich hoffe, du hast recht“, sagte Akandra düster.

Und tatsächlich entspann sich am Feuer gleich darauf ein Gespräch, das auch die Reisenden aus dem Heimland in seinen Bann zog.

„Das Essen hat gut getan“, sagte der große Mann. „Es ist heutzutage schwer, sich unterwegs zu ernähren. Diese verdammten Orokòr sind überall, und sie fressen alles kahl wie Heuschreckenschwärme. Wo einmal Orokòr durchgekommen sind, findest du keinen Krümel mehr. Die fressen jedes lebende Wesen im Umkreis von Meilen und das Korn sogar vom Halm. In den letzten Tagen musste ich auf ihrer Spur wandern und wäre beinahe verhungert. Es war verbranntes Land, durch das ich gekommen bin. Von jeder Siedlung, jedem Hof sah man nur noch rauchende Trümmer, alle Tiere waren geschlachtet und alles Wild erlegt oder vertrieben."

„Die Orokòr haben keine andere Wahl“, mischte sich der Weißhaarige in der seltsamen Kutte ein. „Sie werden in großer Truppenstärke ins Land geführt, aber nicht verpflegt. Ihre Oberen sind der Meinung, sie sollen für ihre Nahrung selbst sorgen; und das tun sie auch. Baut keinen Hass gegen die Orokòr auf, verständigt euch lieber mit ihnen!"

„Es sind Geschöpfe des Bösen. Eine Verständigung mit ihnen dürfte recht schwerfallen. Ich kenne niemanden, der bisher mit ihnen vernünftig reden konnte. Die meisten haben bei einer Begegnung mit ihnen ihr Leben verloren. Orokòr reden nämlich nicht lange, bevor sie morden."

„Das sind doch Gräuelmärchen! Es mag schon sein, dass sich die Orokòr hin und wieder so verhalten, aber doch nur, weil wir ihnen stets feindlich entgegentreten. Sie mussten sich immer ihrer Haut wehren. Es liegt an uns, dass kein Friede möglich ist!"

„Das ist ein Verrückter!" flüsterte Akandra vor sich hin.

„Vielleicht hat er Recht?" antwortete Marc ebenso leise. „Da ist schon etwas dran, an dem, was er sagt."

Am Feuer war Streit ausgebrochen. Die Krieger hatten sich erhoben und schimpften: „Hast du überhaupt schon jemals einen Orokòr gesehen?"

„Nein, aber ich werde sie bald erleben."

„Die Orokòr wurden vor langer Zeit von Ormor als Geiseln für Centratur ins Land geholt. Man kann zu ihnen keine freundschaftlichen Beziehungen anknüpfen."

„Man hat es nur noch nie versucht. Diese Gerüchte dienen doch nur dazu, Hass gegen sie zu schüren. Nichts davon ist bewiesen. Im Übrigen sollte man nicht alle Orokòr über einen Kamm scheren. Sie sind sicher nicht alle gleich, wie wir Menschen auch. Nur eine Minderheit verstößt gegen die Menschlichkeit. Ich kann mir vorstellen, dass die Orokòr selbst unter ihrem Ruf leiden, und dass sie auch deshalb so unfreundlich mit anderen Völkern umspringen."

Ein großes Gelächter antwortete ihm.

„Unfreundlich umspringen? Das ist gut! Das wird ein Lacherfolg, wenn ich das weitererzähle", prustete der Dürre, der das Essen gekocht hat.

Die beiden Krieger hingegen fanden die Äußerungen des Weißhaarigen nicht lustig: „Morden, Plündern und Rauben bezeichnest du mit 'unfreundlich umspringen'. Entweder bist du ein Narr oder ein Agent des Feindes."

Der Mann in der Kutte gab nicht auf. „Ich bin keines von beiden. Gerade weil ich dem Morden nicht mehr zusehen kann, bin ich der Meinung, wir sollten unser Verhältnis zu den Orokòr überprüfen. Bisher haben wir auf ihre Kriege nur mit Krieg reagiert. Wozu hat dies geführt: Zu erneutem Krieg. All das Kämpfen hat der Welt keinen Frieden gebracht. Wir müssen endlich einen neuen Weg probieren, einen Weg der Verständigung, des Abbaus von Vorurteilen. Dazu will ich den Anfang machen. Ich bin auf dem Weg zu den Orokòr und werde bei ihnen um Verständnis für alle Geschöpfe werben. Ich will den Hass mindern. Nur so gibt es eine Chance für wirklichen Frieden."

„Du wirst wohl nicht viel zum Reden kommen, denn bevor du deinen Mund aufgemacht hast, bist du auch schon tot. Und wenn du Pech hast, fressen sie dich anschließend, weil sie in den vergangenen Tagen nichts Besseres gefunden haben."

„Das ist schon wieder so ein Vorurteil gegenüber den Orokòr, das ihnen Unrecht tut und jede Aussöhnung verhindert. Ich gehe waffenlos zu ihnen, und meine Hilflosigkeit wird mein Schutz sein."

„Waren denn die Frauen und Kinder, die sie bisher umgebracht haben, nicht hilflos?"

„Ihr solltet nicht alle Gerüchte glauben, die man über die Orokòr erzählt. Es mag schon sein, dass Unschuldige von ihnen getötet wurden, aber wenn dies tatsächlich vorgekommen ist, so geschah dies im Eifer des Krieges. Auch die Menschen haben viele Gräueltaten vollbracht und davon redet niemand. Ich bin sogar sicher, dass selbst die Achajer im Krieg keine Waisenknaben gewesen sind. Orokòr töten, da bin ich überzeugt, nicht ohne Notwendigkeit."

In diesem Augenblick wurde der Mann in der Kutte durch eine schallende Ohrfeige unterbrochen. Akandra war unbemerkt vor ihn hingetreten und hatte mit aller Kraft zugeschlagen. Da stand das kleine Erit-Mädchen inmitten der Männer mit blitzenden Augen und rief: „Wenn ihn keiner von euch zum Schweigen bringt, so muss ich es eben tun."

Sprach’s und ging zu ihrem Begleiter zurück. Betroffenes Schweigen breitete sich am Lagerfeuer aus. Marc saß mit rotem Kopf unter dem Baum und schämte sich für die Freundin.

„Du hast einen Mann beleidigt. Er ist vielleicht ein wenig töricht und weltfremd, doch von ehrlicher Gesinnung und großer Friedensliebe."

„Er hat meine Mutter beleidigt“, war die knappe Antwort.

Am Feuer kam, nachdem sich die Männer von ihrem Erstaunen erholt hatten, wieder ein Gespräch in Gang.

„Die Orokòr sind es ja nicht allein“, sagte der Große. „Überall gibt es heutzutage Banden und Wegelagerer. Die schlagen dich erst tot und fragen dann, ob es bei dir etwas zu holen gibt. Am schlimmsten aber sind die vagabundierenden Soldaten, und von denen sind am gemeinsten die aus Luran. Sie haben nur eines im Sinn, und das ist Beutemachen. Wenn du ihnen in die Hände fällst, so foltern sie dich erst einmal, denn du könntest irgendwo vielleicht etwas Wertvolles verborgen haben."

„Soll ich euch erzählen, welche Methoden sie dabei anwenden?" Der dürre Koch war plötzlich ganz eifrig geworden. „Es schaudert einen, wenn man es hört. Passt auf! Die gebräuchlichste Methode ist das Ohren- und Naseabschneiden, wenn du dann nicht redest, schlitzen sie dir den Bauch auf. Besonders wirksam aber ist das Pfählen. Dabei wirst du auf den Bauch gelegt und dir von hinten in den Arsch..."

„Wir wollen das gar nicht hören“, unterbrach ihn der eine der Krieger. „Es gibt ehemalige Soldaten, die Ehrvergessen so etwas tun mögen. Aber sie haben dann kein Recht mehr, das Ehrenkleid zu tragen. Sie sind eine Schande, und man muss sie ausmerzen. Aber ich lasse nicht zu, dass man hier von ein paar Ausnahmen auf alle Krieger schließt."

„Das Land befindet sich in Auflösung“, schaltete sich der Große beschwichtigend ein. „Ganz gleich, wer einen umbringt will, man kann nicht mehr allein über die Straßen reiten, ohne um sein Leben fürchten zu müssen. Aber wohin soll man sich noch wenden? Die Flüchtlinge sind alle nach Westen geströmt, so als läge dort an der Küste die Rettung. Nun sitzen sie im Heimland in der Falle. Im Süden, so hört man, tobt Krieg, und im Norden ist Nowogoro belagert und wird demnächst fallen. Im Osten soll es noch nicht so schlimm sein. Dort herrschen noch einigermaßen friedliche Zustände. Aber man weiß natürlich nicht wie lange noch. Und wie solle man auch dahin gelangen? Darken durchqueren zu wollen, käme einem Selbstmord gleich."

„Man spricht von einem Weg über das Graue Gebirge im Norden. Von dort führt eine Route durch Luran nach Osten." Der junge Mann mit der Narrenkappe gab diesen Tipp, den Marc im Kopf mit seinen Karten verglich und sich genau merkte.

Mit der Zeit verstummten die Gespräche, und die Männer legten sich zum Schlafen nieder. Auch Marc wollte sich in seine Decke rollen, als er an der Schulter geschüttelt wurde. Einer der Soldaten, der im Gegensatz zu seinem Kameraden am Feuer nur wenig gesagt hatte, kniete neben ihm. Sein Gesicht war unrasiert, und er stank nach Knoblauch.

„Hör mal, Kleiner“, keuchte er Marc ins Ohr, „ich möchte mit dir ein Geschäft machen. Du überlässt mir deine Kleine für eine halbe Stunde, und ich gebe dir dafür das da."

Bei diesen Worten zeigte er dem Erit einen dunklen Beutel. Marc war sprachlos und antwortete nicht.

Deshalb fuhr der Krieger fort: „Nun zier' dich nicht so! Einmal ist Keinmal. Ich nutze dir deine Liebste schon nicht ab. Ich habe noch nie mit einer Erit und würd' es gerne einmal ausprobieren. Die Erit-Frauen sollen große Klasse sein, sagt man. Stimmt es eigentlich, dass sie es quer haben? Du nimmst jetzt den Beutel, und ich geh' mit der Kleinen in die Büsche, und bevor du dich versiehst, sind wir wieder da. Und ich verspreche dir, sie heil und ganz wieder zu bringen. Also, bist du einverstanden?"

Marc hatte sich inzwischen gefangen und sagte laut: "Hau ab, du Schwein!"

Der Soldat verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Das sollst du bereuen“, knurrte er. „So kann man mit mir nicht umspringen. Ich habe dich höflich gefragt. Du kannst von Glück reden, dass hier eine Menge Leute herumliegen. Sonst hätte ich mir nämlich einfach genommen, was ich will. Aber das letzte Wort zwischen uns ist noch nicht gesprochen."

Wütend kroch er zurück zu seinem Kameraden. Marc setze sich auf, und sah, dass der Große, der hier den Ton angab, aufmerksam zu ihm herüberschaute. Dann kuschelte er sich in seine Armbeuge und schloss beruhigt die Augen. Es waren schließlich Wachen aufgestellt, und sie waren hier so sicher, wie man in diesen Zeiten nur sicher sein konnte. Kurz bevor er in den Schlaf absank, fiel dem jungen Erit noch ein, dass der Glatzkopf als einziger den ganzen Abend über kein Wort gesagt hatte.


In der Nacht wachte Marc auf. Irgendetwas beunruhigte ihn. Leise streifte er seine Decke ab und erhob sich. Alles war ruhig. Um ihn herum lagen die Schläfer, von denen einige laut schnarchten. Schon wollte er sich beruhigt wieder niederlassen, als er einen dunklen Schatten bei ihren Satteltaschen sah. Er erhob sich vollends und schlich zum Gepäck. Dort kauerte eine Gestalt und untersuchte sorgsam die Schätze der Erits. Marc fasste den Dieb am Hals und drückte zu. Der andere setzte sich zur Wehr, und so rangen sie eine Weile stumm in der Dunkelheit.

Endlich keuchte Marcs Gegner: „Wenn du nicht sofort nachgibst, rufe ich laut. Dann kommen alle, und ich verrate ihnen, was in diesen Satteltaschen ist. Jeder wird sich dann von euren Schätzen etwas nehmen, und ihr behaltet nichts. Ich aber mache dir ein faires Angebot. Du gibst mir die Hälfte und behältst den Rest."

Verblüfft gab der junge Erit nach. Er ließ den Hals los, den sich sein Gegner rieb. Es war der dürre Koch.

„Na also", krächzte der, „warum nicht gleich so?"

„Was hast du an unserem Gepäck zu suchen“, fragte Marc erstaunt.

„Das gehört ab jetzt nicht mehr euch, sondern zur Hälfte mir. Und wenn du nicht tust, was ich dir sage, so wird sich mein Anteil noch erhöhen. So mein Kleiner", fügte er hinzu, als er Marc sprachlos vor sich kauern sah, „jetzt legst du dich hin und bist brav. Du kannst beruhigt sein, ich werde auf unsere gemeinsamen Schätze die ganze Nacht hindurch aufpassen."

Noch immer sprachlos und verwirrt, kroch der Erit zu seiner Decke zurück. Zwar wachte und fror er bis zum Morgengrauen, aber er wusste nicht, was er hätte unternehmen können.

Bei Tagesanbruch erhoben sich alle. Raureif hatte Bäume, Gras und Moos überzogen. Jeder aß von seinem Proviant, gesprochen wurde wenig. Von dem Feuer war nur noch kalte Asche übrig. Sie zitterten in der Morgenkälte. Bald kam der hastige Abschied. Er war so kühl wie die Luft. Die Gemeinschaft, die sich für eine Nacht zusammengefunden hatte, brach auseinander, ohne dass einer der Beteiligten ihr nachgetrauert hätte. Die beiden Krieger schwangen sich ohne Gruß auf ihre Pferde und gaben ihnen die Sporen. Nur der nächtliche Besucher warf Marc noch einen bösen Blick zu. Der junge Mann mit der Narrenkappe winkte freundlich und verschwand in Richtung Straße. Der Weißhaarige schnürte seine Kutte enger und trat zu den Erits.

„Gehabt euch wohl“, sagte er. „Möge der Friede des Himmels mit euch sein. Wenn ich euch gestern verletzt haben sollte, so verzeiht mir. Es war nicht meine Absicht."

Mit diesen Worten wandte er sich ab. Marc rief ihm einen Gruß nach. Da blickte der Mann zurück und lächelte.

„Er geht einen schweren Gang“, sagte der Große leise, der unbemerkt zu ihnen getreten war. „Wo wollt ihr hin?"

„Nach Osten."

„Kann ich etwas für euch tun?" Dabei blickte der Mann auf den Koch, der bei den Satteltaschen kauerte.

„Nein", sagte Marc schnell, „es ist alles in Ordnung."

„Geht eurer Wege in Frieden und mit Glück! Vielleicht treffen wir uns einmal wieder? Ich würde mich freuen."

Dann ritt auch er davon und ließ die jungen Leute und den Erpresser allein.

Marc hatte sich in der Nacht eine lange Rede zurechtgelegt. Aber er kam nicht dazu, sie loszuwerden. Der Dürre sagte nämlich, als sie allein waren: „Ich habe es mir überlegt. Ich nehme doch alles. Ihr habt die Schätze sicher gestohlen. Weit würdet ihr damit nicht kommen. Und bevor euch jemand all das Gold und Silber abnimmt und euch vielleicht dafür umbringt, befreie ich euch lieber davon. Das bin ich euch schuldig. Die Zeiten sind schlecht und die Straßen gefährlich. Junge Erits, auch wenn sie Diebe sind, muss man vor sich selbst schützen. So und nachdem dies alles klar ist, vertraut mir an, wo ihr diese Schätze herhabt? Ich habe noch nie so viele herrliche Münzen auf einem Haufen gesehen."

Plötzlich sprudelte es aus Marc heraus: „Ihr könnt das Geld nicht haben! Wir brauchen es für einen wichtigen Zweck. Wir haben noch eine weite Reise vor uns. Die können wir ohne Geld nicht machen. Wir geben euch etwas ab, aber ihr dürft nicht alles nehmen."

„So, ihr habt eine große Reise vor euch? Wo soll es denn hingehen?"

„Das kann ich euch nicht sagen. Aber wir brauchen das Geld wirklich! Es geht um eine große Sache!"

„Da bin ich gespannt. Ich bleibe zwar bei meinem Wort und erlöse euch von der schweren Last. Aber du hast mich neugierig gemacht."

„Er redet dummes Zeug“, schaltete sich Akandra ein. „Wir sind lediglich von zu Hause durchgebrannt."

„Halte dich 'raus, wenn sich Männer unterhalten“, schnauzte sie der Fremde an. „Also los, Kleiner, raus mit der Sprache, sonst setzt es was!"

Er ging auf Marc zu und schlug ihm ohne Vorwarnung so heftig ins Gesicht, dass dieser betäubt liegen blieb. Bis der Junge wieder zu sich kam, holte der Fremde die Erit-Ponys und sein Pferd. Er sattelte die Tiere und lud das Gepäck von Marc und Akandra auf.

„Da ich euch um den Ballast erleichtert habe, braucht ihr die Tiere nicht mehr. Ich nehme sie mit."

Marc stand ächzend auf und wollte sich auf den gemeinen Kerl stürzen, aber bevor er sich versah, hatte dieser schon wieder zugeschlagen. Auf dem Boden liegend erhielt er noch einen Fußtritt. Der dürre Mensch wollte sich gerade in den Sattel schwingen, als Akandra auf ihn zu trat.

„Darf ich Euch helfen?" fragte sie freundlich.

Der Große schaute sie erstaunt an. Er lächelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

„Du willst wohl einen richtigen Mann kennen lernen? Hast gemerkt, dass mit deinem Kleinen nicht viel los ist? Soll ich es dir besorgen?"

Das Mädchen war nun ganz nahe bei ihm.

„Ja, ich will einen Mann erleben“, sagte sie ruhig und rammte ihm ihr Messer bis zum Heft schräg von unten in den Unterleib.

Der Dürre schrie auf und presste seine Hände auf die Wunde. Er wollte sich auf die Erit-Frau stürzen, ging ein paar Schritte auf sie zu und fiel dann zu Boden. Dabei schrie er markerschütternd. Marc war nun wieder auf den Beinen.

„Komm“, rief Akandra. „Wir müssen hier weg. Weiß der Teufel, wen dieser Schuft alles zusammen schreit, und in welche Schwierigkeiten wir dadurch kommen."

Sie drängte ihren Begleiter zu den gesattelten Pferden. Noch immer sprachlos stieg dieser auf, und gemeinsam jagten sie los. Das große Pferd ließen sie stehen. Das Brüllen des tödlich Verwundeten hallte durch den Wald und begleitete sie auf der Straße. Es klang wie der Schrei eines gemarterten Tieres und hatte nichts Menschliches mehr an sich. Es war nur noch Ausdruck der gequälten Kreatur. Im Schmerz sind sich Mensch und Tier gleich. Beim Leiden spielt die Fähigkeit des Denkens keine Rolle. In der Pein kehrt alles Leben zu seinen Anfängen zurück. Sie ist die große Gleichmacherin. Sie verwischt die Unterschiede zwischen allen Wesen. Nur vor dem Tod gibt es noch mehr Gleichheit.

Akandra peitschte auf ihr Pony ein, und Marc musste es ihr gleichtun, wollte er den Anschluss an sie nicht verlieren. Endlich wurde das Geschrei des Verletzten schwächer.

„Du bist mir ein schöner Held“, sagte Akandra als sie die Pferde langsamer traben ließen und sich im Sattel entspannten. „Du lässt dich vom ersten Wegelagerer, den wir treffen, ausrauben."

„Was hätte ich denn tun sollen?" Marc war ganz unglücklich.

„Kämpfen, mein Freund, kämpfen. Dafür wurden wir losgeschickt."

„Ob er wohl sterben wird?" fragte Marc zaghaft.

„Das hoffe ich doch. Er soll verrecken, bevor er uns weitere Gauner auf die Fährte schicken kann."

„Hast du denn gar keine Gewissensbisse oder wenigstens Mitleid?"

„Mit wem? Mit Schurken, die uns erledigen wollen? Gewissensbisse habe ich höchstens, weil ich ihn nicht völlig abgestochen habe. Dadurch habe ich ihm die Möglichkeit gelassen, andere Gauner auf unsere Spur zu hetzen. Du hast es immer noch nicht begriffen. Es ist Krieg, und wir sind in einer wichtigen Mission unterwegs. Von uns kann es abhängen, wie der Krieg ausgeht, und wie viele anständige Leute sterben müssen. Du trägst eine große Verantwortung! Ist dir das denn nicht klar!"

Die letzten Sätze hatte sie gebrüllt, und Marc starrte sie erschrocken an. Ihr Gesicht war wild verzerrt und ihre Hände zu Fäusten geballt. Vor kurzem hatte sie einem Mann ihr Messer in den Unterleib gejagt und ihn so tödlich verwundet, dass er wahrscheinlich elend krepieren würde. Ratlos fragte er sich, was wohl in ihr vorginge, und ob sie keine Gewissensbisse habe.

„Warum hast du die Waffen, die du bekommen hast, nicht eingesetzt? Meinst du etwa die Älteren haben uns diese wertvollen Gaben nur zum Spaß mitgegeben? In den Satteltaschen waren im Übrigen auch die Karten. Dieses Schwein hätte nichts Eiligeres getan, als sie unseren Feinden auszuliefern. Beinahe wäre unsere Mission schon zu Beginn gescheitert! Du gefährdest mit deinem Eigensinn die Welt, und ich muss die schmutzige Arbeit übernehmen." Akandra war wütend.

„Schmutzige Arbeit“, schnaubte Marc empört, „das war keine schmutzige Arbeit. Du hast einen Mann getötet, ihn ohne Erbarmen umgebracht."

„Er hatte auch kein Erbarmen mit uns. Er wollte uns ausrauben, und ich weiß nicht, ob er uns am Leben gelassen hätte."

„Wenn du nur gewartet hättest. Sicher hätte sich eine Gelegenheit ergeben, bei der wir ihn hätten überwinden können, ohne ihn gleich umzubringen. Mein Gott, mit etwas Geduld und Einsatz unseres Geistes können wir die Probleme, denen wir begegnen, auch auf friedliche Art lösen! Ich hasse deine Rücksichtslosigkeit!"

„Du bist eben nur ein Gärtnerjunge und wirst es immer bleiben!"

„Ja, ich bin der Sohn eines Gärtners, und ich bin stolz darauf. Ich bin stolz, dass wir Gärtner um Regen und Sonne zittern, dass wir uns um Pflanzen sorgen, dass wir uns freuen, wenn etwas wächst, blüht und Früchte trägt. Ich bin stolz darauf, dass wir Leben schaffen und es nicht vernichten!"

„So, ihr Gärtner vernichtet kein Leben? Und reißt dein Vater etwa kein Unkraut aus? Wer gibt euch das Recht, die eine Pflanze zu hegen und die andere zu vernichten?"

Gerade als Marc antworten wollte, unterbrach sie ihn mit einer unwilligen Handbewegung und sagte: „Pst!"

Dabei deutete sie zurück. Dort am Himmel, etwa in der Gegend wo sie den Verwundeten zurückgelassen hatten, kreiste eine Schar Vögel. Aber sie stießen nicht wie Geier nach unten auf die vermeintliche Beute, sondern stoben als schwarze Punkte nach allen Himmelsrichtungen auseinander.

„Das waren Späher“, sagte Akandra. „Wir müssen aufpassen! Jetzt wird es gefährlich."

Wenig später hörten sie vor sich Hufschlag und konnten ihre Ponys gerade noch rechtzeitig ins Unterholz neben der Straße lenken, da galoppierte auch schon ein Reiter in großer Eile vorbei. Er war in einen schwarzen Mantel gehüllt und hatte seine Kapuze weit ins Gesicht gezogen, so dass sie ihn nicht erkennen konnten. Sie wagten sich nicht zurück auf die Straße, und das war gut so, denn kurz darauf kam der Reiter zurück. Er musste bei dem Verwundeten gewesen sein, denn er hatte dessen Tasche an seinen Sattel gebunden. Aus der Tasche rieselten Brotkrumen in den Staub der Straße.

„Ob der Kerl wohl schon tot war oder noch etwas ausgeplaudert hat?" fragte Akandra nachdenklich.

„Wahrscheinlich hat er noch gelebt und unser Geheimnis verraten."

„Dann sollten wir uns noch eine Weile verstecken, um zu sehen, was geschieht."

Sie führten die Pferde noch weiter ins Dickicht und zwangen sie, sich niederzulegen. Es verging nicht viel Zeit, und sie hörten schwere Stiefel, die rasch näherkamen. Bald wurde ihnen mit Erschrecken klar, wer da auf sie zukam. Aus dem Osten stürmte ein Trupp Orokòr heran. Die wilden Männer liefen im Gleichschritt mit hoher Geschwindigkeit. Voller Angst hielten die beiden Erits den Ponys die Nüstern zu, damit sie nur ja keinen Laut von sich gaben.

Ganz nah sahen sie die furchtbaren Gestalten mit den niederen Stirnen und den platten Gesichtern an sich vorbeiziehen. Sie trugen Rüstungen aus Leder und hatten grobe Schnürstiefel an. Beim Vorletzten in der Reihe waren die Schuhbänder aufgegangen. Mit jedem Schritt fuhr seine Ferse aus dem Schuh und das raue Leder schürfte über seine Haut. Sie war schon ganz blutig. Dazu kam, dass er immer wieder auf die losen Schuhbänder trat und stolperte. Aber er wagte es nicht, anzuhalten und den Schuh neu zu binden. Vor der stampfenden Gruppe pickten Spatzen Brotkrumen aus dem Staub der Straße, die der Reiter verloren hatte. Es schien sie nicht zu stören, dass eine Horte Orokòr auf sie zu fegte, deren Füße sie zermalmen würden. Diese kleinen, zierlichen Vögel hatten keine Angst, sondern fraßen in aller Ruhe. Marc hielt den Atem an. Erst im letzten Moment flogen die Vögel zur Seite und entgingen so dem sicheren Tod.

„So sollten wir es auch halten“, dachte er, „die Nerven bewahren und nicht in Panik geraten. Dann können schwere Stiefel auch uns nicht umbringen."

Kaum war die Meute in der Ferne verschwunden, deutete Akandra wieder zum Himmel. Über ihnen suchten Scharen von Tauben systematisch das Land ab.

„Die sind nach uns ausgesandt“, flüsterte sie. „Die Treibjagd hat begonnen."

Nun hörten sie Stimmen im Wald auf der anderen Seite der Straße. Kommandos wurden gebrüllt und Büsche niedergetreten. Jäger mit groben Überwürfen und sonnenverbrannten Gesichtern stürmten hervor. Neben ihnen liefen wolfartige Hunde. Sie teilten sich und rannten auf der Straße nach Osten und Westen.

„Wenn die uns wittern, sind wir verloren“, murmelte Marc. „Bei dieser Verfolgung haben wir so gut wie keine Chance."

Sie duckten sich noch tiefer in ihr Versteck und umfassten verzweifelt ihre Waffen. In diesem Augenblick hörten sie hinter sich ein Krachen und Knurren in den Büschen, und ein schwarzer Schatten sprang auf sie zu. Es war ein riesiger Wolfshund. Seine Lefzen waren weit auseinandergezogen. Speichel floss zwischen den mächtigen Zähnen. Die Krallen der Tatzen waren weit ausgefahren. Dieses Tier würde sie zerreißen. Aber noch im Sprung traf es der Hammer, den Marc geschleudert hatte. Er zerschmetterte den mächtigen Schädel, das Tier stürzte zu Boden, zuckte noch ein paar Mal und blieb dann regungslos liegen. Die Waffe war von selbst in die Hand des Erits zurückgekehrt.

„Kompliment, mein Freund, das hätte ich dir nicht zugetraut."

Marc sah mit Schaudern auf das große Tier.

„Lange werden wir uns nicht mehr verbergen können. Wenn wir bleiben finden uns die Hunde mit Sicherheit. Wir müssen weg!"

„Auf die Straße können wir nicht zurück, und mit den Pferden kommen wir nicht durch den Wald."

„So bleibt uns nichts, als die Tiere abzuladen und unser Gepäck selbst zu tragen."

Im Moment war kein Verfolger zu sehen. Sie erhoben sich, sattelten die Ponys ab und luden sich die schweren Satteltaschen selbst auf die Schultern.

„Wenn wir dem Kerl etwas von unseren Schätzen abgegeben hätten, bräuchten wir jetzt nicht so schwer zu schleppen“, stöhnte Marc.

„Fang' nicht schon wieder an“, antwortete seine Gefährtin wütend. „Er wollte nicht etwas von dem Geld, er hatte sich alles genommen."

Sie gaben den Pferden einen Schlag, und die Tiere stürmten auf die Straße und galoppierten zurück in die Richtung, aus der sie vor Stunden gekommen waren. Die Erits hingegen gingen nach Süden und suchten dort einen Pfad im Wald. Sie hielten sich zwischen den Bäumen und umgingen jede Lichtung, auf der die suchenden Vogelschwärme sie hätten entdecken können. Zum Glück waren es hauptsächlich Tannen und Fichten zwischen denen sie sich verbergen konnten, denn die Laubbäume hatten längst ihre Blätter abgeworfen. Bald waren sie müde, und ihre Rücken schmerzten von der schweren Last, die sie mit sich schleppten. Durst quälte sie, denn ihre Wasserflaschen waren leer.

„Das Gold können wir leider nicht trinken“, beschwerte sich Marc. "Wie gern würde ich es gegen klares Wasser tauschen."

„Du wirst über diese Schätze noch einmal froh sein“, sagte Akandra und ging weiter.

Das Schloss


Als sich der Tag zu neigen begann, wurden die Bäume lichter. Marc und Akandra traten im Schein der untergehenden Sonne hinaus in die weite Ebene von Eliu. Sie war staubig und trocken. Nur vereinzelte wuchsen dort Bäumen und Sträucher. Hartes vertrocknetes Gras bedeckte den Boden. Ganz weit in der Ferne ragten die Südhöhen als dunkle Schatten in den Himmel.

„Ich bin hundemüde“, sagte Akandra.

„Wir können jetzt nicht rasten. Wir müssen die Ebene bei Dunkelheit überqueren. Bei Tag sehen uns die Vögel, und dann kreisen uns die Verfolger ein."

„Wo willst du denn hin? Ich habe Durst!"

„Wir wollen nach Montsal und dürfen deshalb nicht weiter nach Süden abdriften. Wir müssen uns südöstlich halten. In dieser Richtung wird man uns am wenigsten vermuten. Irgendwo sollten wir dann den Goldfluss und die Emms überqueren. Am Fuß des Thaurgebirges wandern wir nördlich bis zum schönen Achajerhaus von Arùmedo. Dort sind wir sicher und sehen weiter. Ich glaube nicht, dass die Feinde uns auf dieser Route suchen."

„Das klingt vernünftig. Wann hast du dir das ausgedacht?"

„In den letzten Stunden. Wir haben bei den Älteren ausführlich Landkarten studiert. Ich habe die Gegend gut im Kopf."

Der Plan gab Akandra neue Kräfte: „Na, dann los! Du hast Recht, wir müssen die Dunkelheit nutzen!"

„Halt!" Marc hatte noch ein gewichtiges Problem zu lösen.

„Was willst du?"

„So schwer beladen, wie wir sind, erreichen wir unser Ziel nie. Wir müssen mit unseren Kräften haushalten und beweglicher werden."

„Was meinst du damit?"

„Wir sollten einen Teil der Schätze hierlassen."

„Du spinnst! Was machen wir, wenn wir das Geld brauchen?"

„Wir lassen doch nicht alles zurück. Mit dem, was uns bleibt, müssen wir eben haushalten. Aber mit all dem Gold und Silber auf unseren Rücken kommen wir nicht weit."

„Und ohne das Geld auch nicht."

„Wichtiger als Schätze sind für uns Kraft, Ausdauer, Mut und Klugheit."

„Mit dem Mut ist es bei dir wohl nicht weit her, und was die Klugheit betrifft, so habe ich auch meine Zweifel."

„Du kannst tun, was du willst. Ich jedenfalls vergrabe einen Teil meines Goldes."

„Und wie willst du es wiederfinden?"

„Ich werde es nicht wieder suchen."

„Soll das heißen, du wirfst den Reichtum einfach weg?"

„Ja."

„So tue, was du nicht lassen kannst! Ich behalte, was ich habe und werde dir später nichts abgeben. Wir tragen hier mehr Schätze mit uns herum, als es in Waldmar jemals gegeben hat. Mit dem Geld könnte man sogar das ganze Heimland kaufen."

„Das Heimland kaufen? Von wem, bitte?"

„Du bist ein widerlicher Haarspalter!"

„Das mag schon sein, dennoch wird mir der Schatz zu schwer. Wir hätten von den Älteren nicht so viel Geld mitnehmen sollen, dann wären wir jetzt nicht in dieser Lage."

„Nicht wegen des Geldes ersticken wir in Problemen, sondern weil du nicht damit umgehen kannst. Hättest du dem Idioten mit dem Elixier kein Goldstück geschenkt, wäre dieser verbrecherische Koch auch nicht auf unser Gepäck aufmerksam geworden. Wo ist eigentlich das Elixier?"

Marc antwortete nicht. Er hatte sich abgewandt und suchte die Bäume nach einem hohlen Stamm ab. Endlich wurde er fündig, schnitt aus dem Leder der Satteltaschen kleine Beutel, die er mit Münzen füllte und an seinem Gürtel festband. Die Satteltaschen mit dem restlichen Geld versteckte er. Nachdem alles verstaut war, reckte er sich und meinte: „Nun kann es losgehen! Ich bin von einer größeren Last befreit, als das Geld schwer war."

Ohne sich weiter um Akandra zu kümmern, die hinter ihm keuchte, schritt er kräftig aus. Bald war der Wald nur noch ein dunkler Wall hinter ihnen und rings um sie freies Land. Akandra blieb immer weiter zurück. Marc tat zwar, als kümmere er sich nicht darum, aber er verlangsamte seine Schritte, und bald musste er auf sie warten. Doch das Mädchen gab nicht auf. Mit eisernem Willen zwang sie sich vorwärts, obwohl die Last sie zu Boden drückte. Gegen Mitternacht wurde der Boden weicher. Sie schritten über Gras und erreichten schließlich einen kleinen Bach, der auf keiner der Karten eingezeichnet war. Endlich konnten sie den quälenden Durst stillen und auch die Wasserflaschen füllen. Sie aßen von den mitgebrachten Vorräten, und Kräfte kehrten in die erschöpften Körper zurück.

„Ich habe es mir überlegt, ich lasse auch einen Teil von meinem Geld zurück“, sagte Akandra zaghaft.

Marc antwortete nicht.

„Willst du mir nicht helfen?"

Der Junge schwieg noch immer.

„Du hast dir so praktische Beutel gemacht. Ich will mich auch so ausrüsten."

Marc blieb noch immer stumm. Als aber die Freundin zum dritten Mal ansetzte, lachte er, und dann lachten sie beide. Bald hatte auch Akandra Geldbeutel, und ihre Satteltaschen waren unter Schilf und Weiden vergraben.

Von großem Ballast befreit marschierten sie weiter durch die Nacht.

„Was machen wir, wenn es hell wird? Die Vögel werden die Suche sicher fortsetzen."

„Ich weiß es nicht."

Es dämmerte schon, und sie waren zum Umfallen müde, als sie vor sich einen großen, dunklen Schatten sahen. Vorsichtig schlichen sie näher und standen vor einer langen Mauer. Über ihr sahen sie Dächer und Türme mit Erkern.

„Sollen wir die Anlage umgehen oder eindringen“, wisperte Akandra. In ihr war Jagdfieber erwacht.

„Wir gehen hinein!"

„Ist das nicht zu gefährlich?"

„Wir können uns nicht ungesehen vorbei stehlen. Deshalb bin ich für Vorwärtsverteidigung. Wir gehen hinein und sehen, was uns erwartet."

Die Mauer war völlig glatt und dunkelrot gestrichen. Spitze Metallstäbe zierten die Krone. Wen sollten sie vom Eindringen abhalten? Wer wollte sich hier schützen? Langsam umkreisten die Erits das Anwesen. Sie drückten sich ganz fest in den Schatten der Mauer. Nur ein geübtes Auge hätte sie im Zwielicht der anbrechenden Dämmerung erkennen können. Doch die Zeit drängte. Schon hörten sie das Gurren von Tauben.

Sie betraten einen Weg, der schon lange nicht mehr begangen worden war. Er mündete an einem großen Tor. Die Flügel hingen schief in den Angeln und ließen sich nicht bewegen. Das Mädchen und der Junge schlüpften durch die Öffnung und befanden sich in einem weiten Park. Seltsame Pflanzen wuchsen da. Wasser plätscherte aus mehreren Brunnen, die unter den Bäumen verteilt waren. Kleine Bäche, über die sich weiße Brücken spannten, überzogen den Park wie ein Netz und bewässerten die Pflanzen. Sie gingen durch eine Allee und blieben an ihrem Ende atemlos stehen.

Vor ihnen erhob sich ein Gebäude, wie sie es sich in ihren kühnsten Phantasien nicht hätten vorstellen können. Es war ein Palast, und er war so groß, dass sie seine Ausmaße nicht einmal überblicken konnten. Seine Mauern waren mit bunten Mosaik-Steinen verkleidet. Er blinkte und strahlte in allen Farben des Regenbogens. Das Dach war flach, aber mit Kuppeln und Türmchen verziert. Die Fenster hatte man in verschiedenen Formen gestaltet. Sie waren rund, oval oder in der Form eines Blattes.

Da die Zeit drängte und immer mehr Vögel über den Himmel zogen, rissen sich die Erits von dem wundersamen Anblick los und näherten sich zögernd dem großen Eingang. Es war ein Tor aus rotem Holz mit goldenen Griffen, und es stand halb offen. Über weiße Stufen aus Marmor erreichten sie eine kleine Halle, in deren Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Von da führte ein Torbogen, den links und rechts Marmorsäulen flankierten, in einen großen Saal.

Wieder blieben Akandra und Marc staunend stehen. Alle Wunder dieser Erde schienen in diesem Palast versammelt. Der Saal hatte gewaltige Ausmaße und war ganz leer. Er war so lang, dass man sein Ende kaum erkennen konnte. Seine Decke ruhte auf schmalen runden Säulen, die ganz mit Silber verkleidet waren. Man musste den Kopf weit in den Nacken legen, um ihr Ende zu sehen. In das Silber wiederum hatte man Figuren und Ornamente graviert. Durch bunte Fenster strömte das Licht des anbrechenden Tages und machte aus dem Saal eine schillernde Zauberwelt.

Schweigend und andächtig durchschritten sie den riesigen Raum. Der Boden war mit schwarzen und weißen Marmorplatten gepflastert, auf denen eine dicke Staubschicht lag, in der die Füße deutliche Spuren hinterließen. Wo waren die rechtmäßigen Besitzer des Palastes? Würden sie plötzlich auftauchen und die Eindringlinge nach dem Grund ihrer Anwesenheit fragen?

Mit der Zeit schwand bei Akandra die Scheu vor der seltsamen Umgebung. Immer wieder stieß sie Rufe der Bewunderung aus. Dann, als sie den Saal zur Hälfte durchmessen hatten, hielt sie es nicht länger. Sie lief zum anderen Ende, denn dort hatte sie einen Thron erspäht. Marc hatte Mühe ihr zu folgen, und dabei auf dem glatten Steinboden nicht auszurutschen. Plötzlich blieben beide wie angewurzelt stehen. Vor ihnen auf den marmornen Fließen lag ein Pelz. Es war ein Hermelinmantel. Die Zeit hatte ihn zwar schon etwas mitgenommen, aber er sah noch immer sehr beeindruckend aus. So ein kostbares Kleidungsstück gab es im ganzen Heimland nicht. Scheu machten sie einen Bogen um diese Zierde von Königen.

Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war die Sonne völlig aufgegangen. Der Thron stand erhöht auf einem Podest, das mit einem blauen Seidenteppich belegt war. Er war ganz aus Gold, und das Licht der Sonne spiegelte sich in ihm und blendete sie. Das Gold des Thrones war zudem mit Smaragden, Rubinen und anderen Edelsteinen verziert. In der Rückenlehne war aus Diamanten eine Schlange eingelassen. Sie war so kunstvoll gefertigt, dass die beiden das Gefühl hatten, sie könnte sich jederzeit vor ihnen auf dem Boden ringeln.

Schlafwandlerisch ging das Mädchen auf diesen Thron zu, und hatte dort Platz genommen, bevor Marc sie zurückhalten konnte. Er rief ihr noch eine Warnung zu, aber sie hörte ihn nicht mehr. Als sie sich nämlich auf all das Gold und die Herrlichkeit gesetzt hatte, geschah etwas Seltsames. Die Wände des Saales verschwanden, und sie konnte die ganze Ebene überblicken. Bis zum Wald konnte sie sehen, aus dem gerade Jäger mit Hunden traten. Die Tiere schnüffelten nach der Fährte, und die finsteren Gestalten legten ihre Hände über die Augen und hielten in der weiten Ebene nach ihnen Ausschau. Dann wandten sie sich um und kehrten in den Schatten der Bäume zurück.

Akandra ließ ihren Blick weiter schweifen und sah im Osten wieder einen Wald. Davor lief eine weiß gekleidete Frau über die Ebene. Aber das Mädchen achtete nicht weiter auf sie. Im Südosten blitzte ein Fluss. Akandra nahm an, dass es der Goldfluss war, und ganz im Westen sah sie den Wolfsweg. Bis auf ein paar Tiere war keine lebende Seele weit und breit zu entdecken. Ihr zu Füßen aber sah sie ratlos ihren Freund Marc, der von einem Bein auf das andere trat. Nachdenklich und geistesabwesend stand Akandra auf und trat zu ihrem Gefährten. Als sie den Thron verließ, verschwand die Weite, die Wände und Fenster kehrten zurück. Alles war wie vorher.

„Was hast du auf diesem goldenen Ding erlebt?" fragte ihr Freund. „Du hast so seltsam ausgesehen, so als blicktest du in weite Ferne."

„Das habe ich auch getan, aber ich will darüber nicht sprechen."

„Soll ich es auch ausprobieren?"

„Nein, das möchte ich nicht!"

„Ist es denn gefährlich?"

„Nein."

„Warum soll ich mich dann nicht auch auf den Thron setzen?"

Ärgerlich brach Akandra den Disput ab und sagte: „Weil es dir nicht zukommt."

Dann wandte sie sich ab und schritt erhobenen Hauptes durch den Saal zurück zum Eingang.


In der Vorhalle rasteten die beiden ein wenig. Doch dieses Schloss hatte sie so sehr erregt, dass sie ihre Müdigkeit kaum noch spürten. So berieten sie aufgeregt, was denn nun zu tun sei. Es war klar, dass sie, so lange es noch Tag war, den schützenden Palast nicht verlassen durften. Marc wollte deshalb bis zum Abend warten und dann, so schnell es ging, nach Osten laufen. Ihm war dieser Prunkbau unheimlich. Akandra hingegen war neugierig. Sie wollte zuerst das Gebäude erforschen. Nachdem sie vom Thron aus die Verfolger hatte umkehren sehen, fühlte sie sich sicher. So stritten sie eine Weile, und dann setzte sich das Mädchen durch.

„Wir müssen diesen Palast erkunden“, sagte sie, und ihr Ton duldete keine Widerrede.

„Nun denn, Verehrteste, ihr Wunsch ist mir Befehl“, antwortete Marc aufgeräumt, reichte ihr galant den Arm und führte sie zu einer der Freitreppen, die links und rechts des Thronsaals nach oben führten. Sie waren aus schwarzem Marmor auf der linken Seite und auf der rechten aus weißem Marmor. Die Treppen führten zu einem breiten Gang, von dem auf beiden Seiten Zimmer abzweigten. Der Gang wiederum mündete in eine neue Treppe. Am Fuß dieser Treppe zweigten nach links und rechts Gänge ab, an deren Ende wieder Treppen waren.

Sie stiegen treppauf und treppab und öffneten viele Türen. Sie liefen durch Zimmer, Hallen und Säle. Akandra wollte jeden Winkel des Palastes besichtigen. Aber bald wussten sie nicht mehr, wo sie waren, ob vor ihnen noch unbekannte Räume lagen, oder ob sie den jeweiligen Teil des Schlosses schon einmal durchmessen hatten. Etwas Orientierung boten Farben. Wie sie herausfanden, bestanden die Böden im südlichen Teil aus schwarzen und im nördlichen Teil aus weißem Marmor. Allerdings waren sie oftmals so verschwenderisch mit Teppichen belegt, dass man ihre Farbe nicht erkennen konnte. Teppiche hingen auch an den Wänden und schmückten die Zimmer. Manchmal weiteten sich auch die Gänge zu kleinen Hallen, dann plätscherte in der Regel in der Mitte ein Brunnen. Die Brunnen wiederum waren mit Figuren gekrönt: Figuren aus Stein, aus Bronze oder gar aus Gold. Oft waren es Szenen, die Marc die Schamröte auf die Wangen trieben. Männliche Gestalten trieben Spiele mit Frauen jeden Alters. In kunstvollen Arrangements kopulierten Paare in allen erdenklichen Stellungen. Seine Begleiterin hingegen betrachtete die erotische Schaustellung mit Interesse und Schmunzeln.

Aber nicht nur auf den Brunnen fanden sich derartige Darstellungen. Überall waren nackte Gestalten gegenwärtig. Als Wandmosaik und als Einlegearbeit in Möbeln, aus Elfenbein geschnitzt und in Marmor geschlagen, auf großen Bildern gemalt und in Metall gegossen sahen die beiden Besucher Frauen keusch ihre Blößen verdeckend oder mit weit gespreizten Beinen. Sie begegneten Männern mit großen Gliedern, die wie Fabelwesen Bockshörner trugen und deren Fuß nicht in Zehen, sondern in einem Huf endete. Mit der Zeit legte Marc seine Verlegenheit ab und konnte nun auch die hohe Kunstfertigkeit der Schöpfer dieser Gebilde würdigen. Mit einem scheuen Seitenblick auf seine Begleiterin begann er sogar genauer zu studieren, was die Paare aus Stein und Metall ihm plastisch vorführten.

Aber nicht nur die erotischen Figuren waren kunstreich, sondern alles in diesem Palast war mit erlesenem Geschmack ausgesucht. Da waren die wundervollen Teppiche, die goldenen Waschbecken, die seidenen Kissen, die gestickten Decken, das Geschirr aus hauchdünnem Porzellan, die gehämmerten Schalen aus Gold und Silber mit kunstvollen Gravuren. Noch nie hatten die Erits eine solche Pracht gesehen.


Irgendwann blieb das Mädchen aus Waldmar stehen und sagte überwältigt: „Hier möchte ich bleiben, hier gefällt es mir. Dieser Palast erinnert mich an das Haus meiner Eltern."

„An das Haus deiner Eltern?" fragte Marc entgeistert. „Wann haben deine Eltern in einem derartigen Palast gewohnt?"

„Immerhin sind wir die Grafen von Waldmar, und unser Schloss hatte auch viele Räume, wenn gleich nicht so viele wie hier. Und einen gepflegten Lebensstil haben wir auch geführt."

Der junge Erit erinnerte sich an die Besuche bei seinem Patenonkel. Er stellte sich dessen Schloss vor mit den kleinen Kammern, seiner einfachen, derben Einrichtung und verglich dies alles mit dem Prunk und dem verschwenderischen Luxus, durch den sie hier schritten. Er wusste nicht, ob er lachen oder an dem Verstand seiner Begleiterin zweifeln sollte. Doch sie fuhr fort: „So müsste man wohnen! Wenn wir nicht eine so dringliche Aufgabe hätten, würde ich hierbleiben und mich einrichten."

„Was willst du in diesem Palast? Hier kann man nur leben, wenn man viele Diener hat. Wenn ich aber Diener brauche, dann möchte ich keinen Palast."

„Du bist töricht! Das kleinliche Denken deiner Herkunft wirst du wohl nie ablegen können! Nur Leute mit so einem Lebensstil leben wirklich. Es ist ungerecht in der Welt, dass die einen alles haben und die anderen nichts."

„Von diesem Reichtum hier hat doch niemand etwas. Die, die hier waren, sind verschwunden. Wer weiß, welch' ein schlimmes Schicksal sie ereilt hat?"

„Aber sie hatten dies alles einmal, konnten es genießen - und schon das ist ungerecht!"


Von all dem Laufen und Schauen hatten sie Hunger und Durst bekommen. Sie waren inzwischen durch verschiedene Speisesäle gekommen mit langen Tischen über denen Kristalllüster hingen. In der Nähe war jedes Mal eine Küche gewesen, die sie aber nicht näher untersucht hatten. Nun hatten sie wieder eine gefunden und traten ein. Auf erloschenen Herden standen Töpfe mit Speisen, die wohl zuerst verschimmelt und dann eingetrocknet waren. Unter kalten Essen hingen Kessel, in denen einst eine wohlschmeckende Suppe geblubbert hatte. Sie untersuchten alle Kästen und Schränke, aber die Jahre hatten nichts Essbares übriggelassen.

„Wir werden wohl auf die Vorräte in unseren Rucksäcken zurückgreifen müssen“, seufzte Marc.

Dann deutete er auf eine Öffnung in der Wand, aus der klares Wasser sprudelte und in einem Loch im Boden verschwand.

„Wenigstens zu Trinken haben wir. Komm, lass' es uns auf einem der Stühle bequem machen."

„Bist du verrückt“, rief Akandra erbost. „Ich bin die Tochter eines Grafen und soll hier in der Küche essen? Auch wenn unser Mahl kärglich ist, so werden wir doch würdig speisen."

Sie führte ihren Begleiter in das nahe gelegene Esszimmer. Dort deckte sie die Tafel mit Damast, feinem Porzellan und Kristallgläsern. Dann arrangierte sie ihre Vorräte auf silbernen Platten, zündete schließlich noch fünf Kerzen an und lud Marc mit einem bezaubernden Lächeln zum Platz nehmen ein. So tafelten sie lange und ausgiebig, lachten und hatten viel Spaß miteinander. Irgendwann neigte sich der Tag und Schatten zogen in die hohen Räume.

„Es wird dunkel“, sagte Marc. „Wir müssen aufbrechen, wenn wir in dieser Nacht die Ebene nach Osten überqueren wollen."

„Was fällt dir ein?" war die Antwort. „Wir haben doch erst einen kleinen Teil dieser Wunder hier gesehen. Wir bleiben und übernachten. Ich freue mich schon jetzt auf ein vernünftiges Bett. Wir haben schon lange nicht mehr geschlafen und müssen darauf achten, dass wir bei Kräften bleiben."

„Und unsere Mission? Bis jetzt hattest es du doch besonders eilig!"

„Mir scheint, dass dieser Palast zu unserer Mission gehört. Komm' jetzt!"

Unterwegs hatten sie irgendwo eine Öllampe gefunden. Die zündete das Mädchen an und machte sich in ihrem trüben Schein auf die Suche nach Schlafzimmern. Marc war es bei Dunkelheit unheimlich in diesem leeren Palast, aber er folgte ihr tapfer. Schließlich gelangten sie zu zwei hohen Türen, die nebeneinanderlagen.

„Dies sind gewiss Schlafzimmer“, sagte Akandra bestimmt. „Du wirst hier schlafen und ich dort."

„Wir sollen uns also trennen?" fragte der Junge ängstlich. „Dies ist gefährlich. Lass' uns zusammen schlafen!"

„Dummes Zeug! Warum sollte ich mit dir ein Zimmer teilen, wenn es nicht nötig ist?"

Die Türgriffe zu beiden Zimmer waren jeweils ein großer, sehr naturgetreu geformter Phallus. Ihn umfasste sie fest mit ihrer weißen, zarten Hand und drückte ihn nieder. Dann verschwand sie mit einem kurzen Gruß und ließ die Tür ins Schloss fallen. Marc blieb verlassen auf dem Gang zurück. Er überlegte, ob er sich nicht wie ein Hund vor ihre Schwelle kauern sollte. Dann aber fasste er sich ein Herz und betrat sein Schlafzimmer. Es war düster, doch leuchtete der Schein des abnehmenden Mondes durch das Fenster herein, so dass er sich orientieren konnte.

Auf dem Boden lagen Kleider, die jemand vor vielen Jahren fallen gelassen hatte. Marc konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, ob sie einst einem Mann oder einer Frau gehört hatten. Er tastete sich zum Bett, das mit seinem Baldachin als riesiger Schatten vor ihm aufragte. Mühsam kroch er hinein und versank zwischen weichen Daunen und seidenen Kissen. Aus Furcht hatte er seine Kleider anbehalten und nur das Gepäck abgelegt. Noch nie hatte er in Seide geschlafen. Er hatte von diesem Material nur gehört. Schon das grobe Leinen, mit dem die Mutter die Betten in Gutruh bezog, war ihm weich und wohlig erschienen. Diese Schlafstätte schien ihm dagegen nicht von dieser Welt. Das Bett war noch in dem Zustand und der Unordnung, wie es der Schläfer vor Zeiten verlassen hatte. Wer mochte hier wohl geruht haben? Der Geruch des Körpers war inzwischen längst verflogen; dennoch versuchte Marc, sich seinen Vorgänger vorzustellen. Es gelang ihm nicht.

Je länger er regungslos in dem Himmelbett lag, desto unheimlicher wurde es dem Erit in diesem großen, dunklen Raum, in diesem fremden, leeren Palast. Ob es hier wohl Geister gab? Lange konnte er nicht einschlafen, sondern achtete auf jedes Geräusch, selbst auf seinen eigenen Atem. Irgendwann glaubte er, eine Tür ins Schloss fallen zu hören. Aber er hatte sich wahrscheinlich getäuscht. Dann wieder klangen auf dem Gang vor der Tür leise Schritte, die sich irgendwann wieder entfernten. Ängstlich kroch Marc immer tiefer unter die Decke, bis ihn endlich lange nach Mitternacht der Schlaf barmherzig von seiner Angst erlöste.

Als er lange nach Sonnenaufgang erwachte, brauchte er erst einige Zeit, bis er begriff, wo er war. Er sah sich im Zimmer um. Es war noch größer, als er es im Dunkeln vermutet hatte, größer als die meisten Salons und Schlafzimmer, die sie gestern durchstreift hatten. Ein verzierter Durchgang führte in einen angrenzenden Raum. So etwas hatte Marc noch nie gesehen. Alles war schwarz gekachelt. In den Boden war eine weite, runde Höhlung eingelassen. Sie sah aus, wie eine im Boden versenkte Wanne. Stufen führten zu ihr hinunter. In der Wanne stand ein Rest Wasser, das vor vielen Jahren eingefüllt worden war. Es war grün von Algen.

Der Erit musste Wasser lassen und machte sich auf die Suche nach der dafür vorgesehenen Einrichtung. Er fand einen gepolsterten Stuhl mit einem Deckel, unter dem sich eine Schale befand. Als er die Abdeckung hob, sah er vertrocknete Exkremente, so dass er den Stuhl rasch wieder verschloss. Weil er sich nicht länger zurückhalten konnte, schlug er sein Wasser in dem gekachelten Raum in die Wanne ab. Dann ging er nach draußen und klopfte an Akandras Tür.

Die junge Gräfin war lange vor ihrem Gefährten aufgestanden. Sie hatte ausgezeichnet geschlafen, war munter und ausgeruht. Auch sie hatte inzwischen ihr Zimmer untersucht, und dabei ein Netz von Dienergängen entdeckt, die aus jedem Raum durch eine Tapetentür betreten werden konnten. Überall hingen Kordeln und Bänder von der Decke, mit denen die Bediensteten gerufen wurden.

„Ein ausgeklügeltes System“, dachte sie und zog zur Probe an den Strippen. Doch nichts geschah.

Sie überlegte lange, wie sie sich waschen könnte. In ihrem Zimmer gab es zwar einen Waschtisch aus rotem Holz, mit goldenem Becken und goldener Kanne, aber kein Wasser. Deshalb machte sie sich auf die Suche nach der nächsten Küche. Als Marc bei ihr anklopfte, war sie nicht in ihrem Zimmer, sondern wanderte durch die Gänge. Hin und wieder öffnete sie Türen und war dabei von ihren Entdeckungen so fasziniert, dass sie ihre Toilette ganz vergaß. In der Nähe des Schlafzimmers fand sie ein rundes Gemach. Seine Wände strahlten in einem tiefen Blau. Es war ganz leer bis auf ein ebenso rundes Podest in der Mitte. Es mochte drei Handbreit hoch sein. Dort stand ein runder Tisch mit einem blauen Samtkissen. Neugierig trat Akandra näher und sah ein kleines goldenes Messerchen, das ihr ausnehmend gut gefiel. Ohne lange zu überlegen steckte sie es ein und ging zurück auf den Gang.

An seinem Ende bemerkte sie zwei Türen neben einander. Die eine war ganz weiß und die andere ganz schwarz. Die weiße führte in ein Zimmer, dessen Einrichtung lediglich aus einem Tisch und einem Polsterstuhl bestand. So wie die Tür war das ganze Zimmer weiß gestrichen, sogar die Möbel und der Fußboden. Die Farbe war so grell, dass das Auge von ihr geblendet wurde. Erschreckt ging sie wieder hinaus und öffnete die schwarze Tür. Der Raum, den sie dort vorfand, glich dem eben gesehenen aufs Haar, mit dem einzigen Unterschied, dass dort alles schwarz war. Mutig betrat die junge Frau das düstere Gemach, denn sie hatte an seiner Rückseite einen weiteren Ausgang entdeckt. Er führte zu einer groben Steintreppe, die völlig schmucklos war und zu all dem Prunk und Schmuck des übrigen Palastes nicht zu passen schien. Zögernd und mit größter Vorsicht stieg sie in die Tiefe.

Zu ihrem Schrecken fand sie sich plötzlich in einem unterirdischen Verlies wieder. Licht fiel durch ein paar Gitterstäbe hoch unter der Decke. Dieses feuchte, düstere Gelass war rund. In die runde Wand waren Zellen eingelassen und mit massiven Gitterstäben verschlossen. In der Mitte des schrecklichen Kellers hatte man Instrumente zum Foltern aufgebaut. Akandra schauderte. Sie hatte die Schattenseite von all dem Glanz entdeckt. Welche Teufel mochten hier früher gehaust haben. Die armen Gefangenen mussten miterleben, wie ihre Leidensgefährten gefoltert wurden. Welche Schreie mochten durch dieses Gewölbe gehallt sein! Doch vollends entsetzt war sie, als sie zur Streckbank trat und dort ein Gerippe eingespannt fand. Man hatte gefoltert und den Delinquenten einfach vergessen. Welche Bestien waren zu so etwas fähig? Nun sah sie auch in den Zellen Gerippe liegen, die verhungert oder verdurstet waren. Dort umklammerten die Knochen der Hände die Gitterstäbe, da lag der Tote auf dem Boden, als sei er friedlich eingeschlafen.

Wer waren diese Gefangenen, die man hier ihrem grausamen Schicksal überlassen hatte? Welcher Vergehen hatten sie sich wohl schuldig gemacht? Oder gab es gar keine Schuld? Dienten der schwarze und der weiße Raum dem Verhör, oder wurde dort das Urteil gesprochen? Die einsame Besucherin dieser Schreckenskammer bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. Was würde geschehen, wenn die Herren des Schlosses zurückkämen und sie hier fanden? Sie stieg hastig die Treppe empor und wäre beinahe auf den feuchten Stufen ausgeglitten. Dann eilte sie durch den schwarzen Raum zurück zu den Schlafzimmern und zurück zu Marc. Sie wollte nur noch heraus aus diesem goldenen Käfig, hinter dessen Fassade sich so viel Schrecken verbarg. Aber wo war der Gefährte, wo war ihr Nachtlager gewesen? Sie hatte sich in dem Labyrinth des Schlosses hoffnungslos verirrt. Sie rief den Namen des Freundes, erhielt aber keine Antwort. Sie machte Zeichen an der Wand, falls sie im Kreis lief. Schließlich setzte sie sich entmutigt und verzweifelt auf die unteren Stufen einer Treppe und barg ihr Gesicht in den Händen. Die stolze und mutige Akandra war den Tränen nahe. Da hörte sie ihren Namen.

Jemand sagte: „Akandra, was machst du hier?"

Sie schreckte hoch. Hatte man sie entdeckt? Waren die Folterer zurückgekommen? Was würde nun mit ihr geschehen?

Aber es war nur Marc, der vor ihr stand und erleichtert aufatmete. Er hatte ihr Schlafzimmer leer gefunden und sich voller Sorgen auf die Suche nach ihr gemacht. Vorsichtshalber hatte er sein und ihr Gepäck mitgenommen. Auch er hatte sich in dem seltsamen Palast verirrt. Nun war er froh, die Freundin gefunden zu haben. Diese sprang auf und umarmte ihn.

„Wir müssen hier weg“, sagte sie rasch. „Es ist gefährlich hier!"

„Das habe ich doch schon gestern Abend gesagt."

„Es geht jetzt nicht um Rechthaberei, sondern um die Frage: Wie kommen wir hier heraus?"

Sie liefen treppauf und treppab, sie hielten sich links, und sie hielten sich rechts, sie sahen Schmuck und Kunstwerke, ihre Blicke fielen achtlos auf Gold und Edelsteine, sie fanden Kleider und Musikinstrumente, ihre Füße hinterließen Spuren im Staub von Jahrhunderten, aber sie entdeckten keinen Ausgang. Irgendwann öffneten sie ein eisernes Tor und helles Tageslicht umflutete sie. Aufatmend traten sie hinaus. Die weite Ebene von Eliu lag vor ihnen.

„Wir haben es geschafft, Marc“, sagte Akandra.

Aber der schüttelte nur den Kopf.

„Du irrst“, antwortete er, „wir sind genauso weit wie zuvor. Wir befinden uns auf dem Dach des Palastes."

Die weiße Frau


Es war ein heller Tag, denn obgleich spät im Jahr war der Himmel wolkenlos. Weit dehnte sich Eliu vor ihnen aus. Nur die Südhöhen begrenzten den Blick. Marc deutete nach Osten, wo wie ein schwarzes Band der Kohlewald lag.

„Das ist unser Weg“, sagte er, „wenn wir den Wald erreichen, habe wir unsere Verfolger abgeschüttelt."

Vom Westen kommend sahen sie eine schmale Straße, die am Tor des Palastes endete. Sie durchquerte das Ödland und folgte dann dem Fluss Dollard.

„Was ist denn das?" fragte Akandra und deutete auf schwarze Punkte, die die Straße entlang krochen.

„Das sind Reiter“, rief Marc erschrocken.

Sie beschatteten mit den Händen die Augen und sahen sich genauer um. Zu ihrem Entsetzen bemerkten sie die gleichen Punkte im Norden und im Süden. Die Punkte verteilten sich. Die Reiter schwärmten aus und kreisten den Palast ein. Bald war auch Fußvolk zu erkennen. Waffen blitzten in der Sonne.

„Wir sind gefangen“, stellte Akandra fest. „Auch, wenn dieser Aufmarsch nicht uns gilt, so gibt es doch kein Entkommen mehr."

„Wir können uns im Palast verstecken“, meinte Marc. „Er ist so weitläufig, dass sie uns so schnell nicht finden. Vielleicht ziehen sie bald wieder ab!"

Die junge Frau dachte daran, was sie im Keller dieses Gemäuers entdeckt hatte, und Schauer überfiel sie aufs Neue.

„Wir müssen hier weg“, sagte sie. „Wenn wir bleiben, wird es fürchterlich!"

„In diesem flachen Land kann man uns meilenweit sehen, und zu Pferd haben uns die Reiter rasch eingeholt. Wenn wenigstens noch hohes Gras stünde. Aber diese Einöde bietet keine Deckung. Wir müssen hierbleiben und uns hier ein Versteck suchen."

„Wenn ich sage, wir machen uns auf den Weg, so habe ich meine guten Gründe."

Während sie noch stritten, wurden sie plötzlich zu Boden gerissen. Starke Arme hielten sie fest. Die Erits wehrten sich verbissen, schlugen um sich, traten und versuchten, den Gegner zu beißen. Doch sie kamen nicht gegen ihn an. Eine große, kräftige Gestalt war über sie hergefallen. Vorsichtig tastete Akandra nach ihrem Messer. Sie hatte das Heft bereits umfasst und wollte gerade zustoßen, da erhielt sie einen mächtigen Hieb, der sie bewusstlos zurücksinken ließ. Marc, der nach dem Hammer an seinem Gürtel gegriffen hatte, erging es nicht besser.


Als sie wieder zu sich kamen, hatte man sie vom Dach herunter gezogen. Ächzend richtete sich Marc auf und schaute sich vorsichtig um. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht, deshalb ließ er sich erschrocken wieder zurückfallen. Vor ihm ragte drohend ein weiß gekleideter Mensch auf. Er beugte sich zu ihm herunter, und der Erit riss seinen Arm schützend über den Kopf, als erwarte er einen neuen Schlag. Doch stattdessen fuhr ihm eine Hand zart über das Haar.

„Ich hoffe, es tut nicht allzu weh“, sagt eine weiche Stimme. „Es ging nicht anderes. Ihr habt euch zu sehr gewehrt, und ich konnte dort oben auf dem Dach keinen Ringkampf mit euch ausführen. Das wäre sofort aufgefallen. Ich hoffe nur, dass man uns noch nicht bemerkt hat."

Auch Akandra war inzwischen wieder zu sich gekommen und hatte die letzten Worte gehört.

„Das einzige, was zu bemerken war, ist die Brutalität, mit der Ihr uns niedergeschlagen habt. Was haben wir Euch getan?"

„Nun, immerhin wolltest du mich mit deinem Messer abstechen“, sagte die Stimme mit leichtem Spott. „Du bist überhaupt schnell mit dem Messer zur Hand, Akandra."

„Woher kennt Ihr meinen Namen?"

„Oh, ich weiß viel über euch. Ich weiß auch, dass es besser für euch ist, nicht entdeckt zu werden. Habt ihr törichten Erits denn nicht gemerkt, dass von allen Seiten Truppen auf den Palast zu marschieren. Ihr standet im Sonnenschein auf dem Dach und wart prächtig meilenweit zu sehen. Ich hatte keine Zeit für lange Diskussionen, deshalb riss ich euch zu Boden. Aber ihr habt wie die Wilden gekämpft."

„Wer seid Ihr?" fragte Akandra.

„Das erkläre ich euch später. Zuerst einmal müssen wir hier weg."

„Warum?"

ER kommt zurück."

„Wer ist ER?"

„Wisst ihr denn nicht, wo ihr euch aufhaltet? Dies ist Roscio, der Sommerpalast Ormors. Und du, Marc, hast im Bett des Zauberkönigs geschlafen."

Den Erits blieb das Herz stehen. Sie wollten hundert Fragen auf einmal stellen, aber die weiße Gestalt schnitt ihnen das Wort ab.

„Später, später“, rief sie. „Zuerst müssen wir uns retten!"

„Wie soll das geschehen“, fragte Marc. „Wir sitzen hier in der Falle. Sobald wir den Palast verlassen, werden wir gesehen, und die Hetzjagd beginnt."

„Ich habe eine Idee, wie wir ungesehen entkommen könnten. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren."

Die Gestalt half ihnen auf die Beine und lief dann voraus die Treppe hinunter. Sie schien sich auszukennen, denn sie führte die beiden zielstrebig durch das Gewirr der Gänge. Ihr Ziel war der runde, blaue Raum, den Akandra am Morgen erkundet, und aus dem sie den kleinen Dolch mitgenommen hatte. Als sie dort angelangt waren, erkannten die Erits endlich, mit wem sie es zu tun hatten. Ihr Führer war eine Frau. Sie trug einen weißen Mantel und darunter grüne und erdfarbene Wäsche aus Wolle. Ihr Haar war lang und dunkel. Als sie den Mantel zurückschlug, erkannten sie ein großes Messer an ihrer Seite und über der Schulter einen Köcher und einen langen Bogen. Die Frau begann systematisch den Raum abzusuchen. Schon zweimal hatte sie alles abgetastet und genau in Augenschein genommen, aber nichts gefunden. Sie schimpfte still vor sich hin.

„Sie müssen da sein. Wenn ich sie nicht bald finde, muss ich mir etwas anderes überlegen. Viel Zeit bleibt nicht mehr!"

Inzwischen klopfte sie sogar die Wände ab. Marc fragte höflich, ob er helfen könne, und was denn gesucht werde. Aber er bekam keine Antwort, und als er noch einmal nachfragte, wurde er barsch abgewiesen. In diesem leeren Raum konnte nichts verborgen sein. Warum gab sie nicht auf? Die beiden Erits kamen sich überflüssig vor und langweilten sich. Jung und unbefangen wie sie waren, begannen sie ein Hüpfspiel auf den schwarzweißen Marmorplatten des Fußbodens, das sie als Kinder schon gespielt hatten. Da geschah es plötzlich. Ein Knirschen ging durch den Raum, die Frau und die Erits erstarrten vor Schreck, und eine der Wände wich zurück. Eine Kammer mit Regalen wurde sichtbar, auf denen wunderliche Dinge standen: seltsame kristallene Kugeln, Zylinder, die in allen Regenbogenfarben glänzten, und Stöcke aus Silber und Gold. Die Frau eilte hinein und kam mit drei unscheinbaren, grauen Tüchern zurück.

„Ich habe, was wir brauchen“, sagte sie befriedigt. „Wenn ihr euer kindliches Spiel nicht gespielt hättet, so hätte ich diese Schatzkammer niemals gefunden. Der Öffnungsmechanismus war im Boden. Die Bodenplatten müssen in einer ganz bestimmten Reihenfolge betreten werden. Nun kommt, wir haben schon viel Zeit verloren und müssen hier weg."

Sie rannten gemeinsam durch endlose Flure und Zimmer, bis sie endlich die zerbrochene Eingangstür erreichten und ins Tageslicht traten. Dort entfaltete die Frau die mitgebrachten Tücher und warf sie ihren Begleitern über den Kopf. Auch sie selbst hüllte sich ein. Die Tücher waren aus dünner Gaze. Den Erits wurde der Sinn der Maskerade nicht klar.

„Folgt mir!" sagte die Frau. „Wundert euch über nichts, ganz gleich was geschieht. Habt keine Angst, ihr seid jetzt unsichtbar. Das sind Verschwindetücher. Später will ich euch alles erklären, aber jetzt ist dazu keine Zeit. Redet von jetzt an nicht mehr, auch wenn dies Erits besonders schwerfällt. Wenn ihr eure Zunge nicht in Zaum haltet, werden wir entdeckt und sind verloren."


Sie nahm die Erits an der Hand und trat ohne zu zögern durch das Tor des Parks hinaus in die weite Ebene. Als sie vor der Einfriedung standen, prallten ihre beiden Begleiter zurück. Sie waren umzingelt. Die schwarzen Punkte, die sie vom Dach aus gesehen hatten, waren nämlich inzwischen angekommen. Was vom Dach noch wie ein Spiel ausgesehen hatte, war eine reale Bedrohung geworden. Vor sich sahen sie Orokòr, schwarzgesichtige, sonnenverbrannte Männer aus dem Süden und schmallippige, brutale Gestalten aus dem Norden. Alle trugen grausame Waffen, und man sah ihnen an, dass sie damit umzugehen wussten. Sie waren dabei, rund um die Palastmauer Zelte aufzubauen und Feuer zu entzünden. Einige von ihnen bereiteten Essen und zerteilten erlegte Beute. Als Akandra sah, was da gebrutzelt werden sollte, würgte es sie. Fahnen waren aufgestellt, um die einzelne Haufen mit ihren Unterführern zu kennzeichnen. Den Pferden hatte man die Vorderbeine zusammengebunden, aber die Sättel nicht abgenommen. Es waren struppige Tiere, ungepflegt und bösartig. Man sah, dass sie nur mit dem Notwendigsten versorgt wurden und darauf angewiesen waren, sich ihr Futter selbst zu suchen. An den Sätteln hingen Fangleinen, manche noch blutbeschmiert. Um welchen Hals hatten sie sich noch vor kurzem zugezogen, welche Gelenke waren mit ihnen so fest gefesselt gewesen, bis das Fleisch aufgesprungen war und geblutet hatte? Hundemeuten waren an langen Leinen angepflockt, kläfften und bissen sich gegenseitig. Die Jäger, die für ihre Betreuung zuständig waren, bauten sich Behausungen in ihrer Nähe. An einer Stelle aber wichen die Zelte ehrfurchtsvoll zurück. Dort auf einem freien Platz stand ein bequemer, offener Reisewagen. In ihm saß eine kleine, glatzköpfige Gestalt. Es war klar, dass der Gnom auf Ormor wartete, um mit ihm zusammen das Schloss zu beziehen.


Lange konnten die drei Unsichtbaren das Lager nicht beobachten, denn Livrierte eilten auf das Tor zu und hätten sie umgerannt, wenn sie nicht ausgewichen wären. Es waren Heerscharen von Dienern, die den Palast auf den bevorstehenden hohen Besuch vorbereiten mussten. Der Hausherr kam nach vielen Jahren zurück und wollte sein Domizil so vorfinden, wie er es verlassen hatte. Da gab es viel zu tun!

Die weiße Frau nahm ihre Begleiter an der Hand und führte sie mitten durch das geschäftige Treiben des Lagers. Diese konnten noch immer nicht begreifen, dass man sie nicht sah, und folgten ängstlich. Beinahe hätte Marc aufgeschrien, als ihm ein riesiger Orokòr aus seinen roten Augen direkt ins Gesicht sah. Gleich würde er auf ihn zukommen und ihm das schwarze, gebogene Messer ins Herz stoßen. Aber nichts geschah. Akandra hingegen stolperte über Zeltschnüre und wäre gefallen, wenn ihre Führerin sie nicht aufgefangen hätte. Sie rochen den Gestank, der von den Kochkesseln aufstieg, und mussten ihren Würgereiz bekämpfen. Die Zelte waren schwarz und geflickt, und das Lager erfüllt vom heißeren Schreien der Männer. Die Frau umging den Wagen mit dem Glatzkopf weiträumig, deshalb mussten sie an den Hunden vorbei. Diese witterten die Eindringlinge und ihr Kläffen ging in ein wütendes Bellen und Knurren über. Die Südländer wurden aufmerksam. Fragen und Befehle wurden gebrüllt. Schon dachten die Erits, man hätte sie entdeckt, da rief ein Jäger: „Schon gut! Es ist niemand hier! Das sind nur die stinkenden Orokòr, über die sich die Hunde aufregen."

Ein kleiner, gedrungener Orokòr war gerade dabei, das Feuer unter seinem Kochkessel durch Blasen anzufachen. Er hatte sich gebückt und seinen schmutzigen Hintern in die Höhe gereckt. Akandra konnte nicht an sich halten und trat ihn mit aller Kraft, so dass er kopfüber in das Feuer fiel und sich die heiße Brühe über ihn ergoss. Er schrie auf wie ein Schwein beim Metzger. Die weiße Frau packte Akandra am Arm und zog sie mit einem wütenden Blick fort. Tumult breitete sich aus, der sich in wildem Gelächter auflöste. Endlich hatten sie das Lager durchquert. Vor ihnen lag die leere Steppe. Aber es gab kein Verschnaufen, denn nun begann die Führerin zu rennen, und die Erits mussten auf ihren kurzen Beinen folgen, ob sie wollten oder nicht.

„Achtet darauf, dass ihr nicht zu viel Staub aufwirbelt“, zischte die Frau. „Wir wollen keine Spur in der Luft hinterlassen."

Sie liefen und liefen, und schließlich stolperten die Erits nur noch hinterher.

„Eine Rast“, stöhnte Akandra. „Ich brauche eine Rast, sonst falle ich um."

Die Frau blieb stehen und blickte zurück. Die Zelte waren nur noch klein in der Ferne zu erkennen.

„Wir können eine kurze Pause einlegen“, sagte sie, und alle ließen sich auf die harte ausgetrocknete Erde fallen.

Als sie etwas verschnauft hatten, begann Marc: „Nun wird es aber Zeit, dass Ihr uns aufklärt. Ihr habt uns sicher viel mitzuteilen."

„Es ist überhaupt keine Zeit für Palaver. Noch befinden wir uns im Blickfeld von Ormor, und er kann uns jederzeit von seinen Reitern einfangen lassen. Wenn ihr schon wieder Kraft habt, um Fragen zu stellen, dann können wir auch weiterlaufen."

Die Frau rannte los, und die beiden Erits mussten ihr mit müden Füßen folgen. Akandra blickte Marc böse an. Wenn sie gekonnte hätte, so hätte sie ihm einen ähnlichen Tritt verpasst, wie dem Orokòr.

„Wie weit wollt Ihr denn noch laufen?" keuchte Akandra endlich.

„Soweit es geht! Redet nicht, das kostet nur Kraft! Achtet lieber darauf, dass ihr die Tücher nicht verliert."

Gerade diese Tücher waren lästig. Die Gaze machte das Atmen schwer, und Hitze staute sich unter dem Stoff. Marc konnte nicht einsehen, weshalb sie in dieser Einöde noch unsichtbar sein mussten. Entgegen der Anweisung wollte er das Tuch abnehmen und einstecken, aber ein scharfer Befehl hielt ihn zurück.

„Hier sieht uns doch niemand“, wandte er ein. „Was soll diese unnütze Quälerei?"

„Und an die Vögel denkst du nicht?"


Endlich konnte auch ein eiserner Wille die Erits nicht mehr vorantreiben. Sie folgten nur noch stolpernd und taumelnd, und ihre strenge Führerin gestattete ihnen, sich in den Staub fallen zu lassen. Es war inzwischen später Nachmittag, die Sonne stand im Westen. Nachdem sie etwas zu Atem gekommen waren, fielen Marc und Akandra in einen Schlaf der Erschöpfung. Die Frau ließ sie gewähren und hielt Wache.

Als sie erwachten, aßen sie von ihren Vorräten, und dann konnte sich Marc nicht länger zurückhalten. Er überfiel ihre Retterin mit vielen Fragen. Er wollte wissen, wer sie sei, was es mit dem Palast auf sich habe, woher sie ihre Namen wisse, woher sie komme und all die anderen Fragen, die ihm auf dem langen Marsch durch Kopf gegangen waren.

„Wer ich bin, kann ich euch jetzt noch nicht erklären. Aber ihr könnt mich Qumara nennen. Gerettet habe ich euch mit Verschwindetüchern. Unter Eingeweihten und Weisen ist schon lange die Rede davon, dass sie in Seinem Besitz sind. Man sagt, Ormor habe sie vor vielen tausend Jahren den Achajern gestohlen. Ich wusste natürlich nicht, ob an dem Gerücht etwas Wahres ist. Mir blieb jedoch keine Wahl, deshalb habe ich sie gesucht und in seinem Zauberkabinett auch gefunden. Ohne die Tücher wären wir alle verloren gewesen. Ja, ihr habt euch im Palast des Zauberkönigs wie zu Hause gefühlt. Sein Hauptsitz ist zwar eine Burg im Norden, aber hier im Süden erholte er sich in den Sommermonaten. Als er vom Bündnis besiegt und in den Berg gebannt worden war, haben alle seine Getreuen das Schloss in Panik verlassen und sich in alle Winde zerstreut. Niemand hat es in all den Jahren gewagt, diesen Palast zu betreten. Er geriet in Vergessenheit. Doch nun ist Ormor befreit und bezieht sein altes Domizil. Von hier aus will er die Eroberung von Centratur leiten und die unterworfenen Länder regieren. Hier wird auch das Schicksal eures Heimlands entschieden werden. Man sollte es kaum glauben, dass ausgerechnet zwei junge Erits in diesen gefürchteten Bau eindringen, und einer von ihnen sogar im Bett des gewaltigen Zauberkönigs, dieser Geisel von Centratur, schläft. Was habt ihr euch dabei gedacht? Ich hoffe nur, ihr habt nicht zu viele Spuren hinterlassen, die auf eure Anwesenheit hindeuten, und ganz besonders hoffe ich, dass ihr nichts mitgenommen habt. ER würde dies nämlich bald entdecken und euch niemals verzeihen. Es ist schon gefährlich genug, dass wir die Verschwindetücher entwenden mussten."

Akandra erschrak und tiefe Röte überzog ihre Wangen. Sie erinnerte sich, dass sie an diesem Morgen allein im Zauberkabinett gewesen war und dort etwas eingesteckt hatte. Sie fasste in ihre Tasche und zog das goldene Messerchen heraus. Es blitzte, obwohl die untergehende Sonne nur noch schwach schien. Verlegen zeigte sie Qumara ihr Diebesgut.

Dieses erbleichte: „Wo hast du das her?"

„Aus dem Zauberkabinett. Ich dachte nicht, dass man es vermissen würde. Im Übrigen war der Palast verlassen, und somit gehörte das Messer doch niemand."

„Du törichtes Mädchen“, sagte die Frau, „dafür wird uns Ormor rund um den Erdball jagen. Wie wollt ihr mit dieser Last eure Mission erfüllen?"

„Dann werde ich das Messer einfach wegwerfen. Ich will es gar nicht behalten. Die Männer von Ormor werden es finden, und er wird zufrieden sein."

„Oh, heilige Einfalt! Sie werden es sicher finden, aber nicht zufrieden sein. Sondern der Zauberkönig wird uns erst recht verfolgen lassen. Du weißt nicht, was du da gestohlen hast! Unter diesen Umständen ist jetzt keine Zeit mehr für Erklärungen. Wir müssen sofort weiter. Inzwischen ist Ormor sicher in Roscio eingetroffen. Nachdem er sich erfrischt hat, wird er sein Zauberkabinett inspizieren und den Diebstahl sofort entdecken. Dann wird er zum Thron eilen und sich umsehen. Von dort wird er uns sehen, denn die Verschwindetücher verbergen uns vor allen Blicken, aber nicht vor den seinen. Sobald er uns sieht, wird er seine Reiter losschicken. Zuvor müssen wir den Kohlewald erreichen, dann haben wir vielleicht eine Chance. Verwahre das Messerchen wohl, Akandra! Und jetzt steht auf und lauft um euer Leben!"


Sie sammelten ihr Gepäck zusammen und rannten, so rasch sie konnten. Als Marc später über die Schulter blickte, sah er eine große Staubwolke weit im Westen. Die Verfolgung hatte begonnen. Inzwischen war die Sonne am Untergehen und Dunkelheit breitete sich aus. Die Erits litten unter Seitenstechen und glaubten, ihre Lungen würden platzen. Sie freuten sich auf die Dunkelheit, denn dann, so hofften sie, würde die Verfolgung enden. Doch jedes Mal, wenn sie zurücksahen, war die Staubwolke im Licht des Mondes größer geworden.

„Wie können die Reiter uns finden?" fragte Marc bei einer kurzen Rast. „Wir tragen doch die Verschwindetücher, und nun ist es auch noch dunkel?"

„Sie sind unerbittlich auf unserer Fährte und sie werden uns nicht verfehlen“, war die Antwort der Führerin. „Sie haben die Hundemeute bei sich. Die folgt unserer Spur."

In der Ferne vermeinte Marc schon den Kohlewald als dunklen Schatten zu sehen und atmete auf, da blieb die Frau plötzlich stehen. Sie hielt die Erits zurück und dies keinen Augenblick zu früh. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf.

„Ein ausgetrocknetes Flussbett“, sagte sie. „Ich bin unschlüssig, ob wir es rasch überqueren oder uns dort verbergen sollen."

Sie hatten nicht viel Zeit zum Überlegen, denn in der Ferne hörten sie schon das Bellen von Hunden. Außer einem großen, schwarzen Graben konnten sie nichts erkennen, deshalb kletterten sie vorsichtig über den Rand und rutschten den sandigen Abhang hinunter ins Ungewisse. Staubig und zerschürft landeten sie in dornigen Büschen.

„Kommt mit“, raunte Qumara und rannte so schnell sie konnte nach links. Die Erits folgten ihr stolpernd und stöhnend. Dornen schlugen sich in ihr Fleisch, und sie stolperten über Steine. Am östlichen Ufer versuchten sie, nach oben zu klettern, rutschten aber immer wieder ab. In der Dunkelheit fanden sie keinen Halt für Hände und Füße. Zu allem Überfluss verlor Marc auch noch das Gazenetz. Das Gebell der Hunde war nun unüberhörbar und auch das Trommeln vieler Pferdehufe. Da gelang es Qumara, mit verzweifelter Anstrengung die Böschung zu erklimmen. Sie zog die Erits nach, dann rannten alle mit letzter Kraft weiter. Der Lärm der Verfolger war nun ganz nah, sie konnten schon die Rufe der Reiter hören, die ihre Pferde anspornten. Plötzlich gab es ein wildes Geheul, Pferde wieherten in Todesangst, Hunde bellten, kläfften und winselten und dann war Stille. Nur noch eine einzelne Männerstimme schrie unter großen Schmerzen.

„Nun können wir etwas langsamer gehen“, sagte die weiße Frau. „Wir haben eine Galgenfrist bekommen. Die Meute ist geradewegs in den Abgrund galoppiert."

„Dann sind wir sie also los“, fragte Akandra.

„Davon kann keine Rede sein. Sobald sie wieder zu sich gekommen sind, werden sie die Verfolgung fortsetzen. Die haben viel zu viel Angst vor ihrem Herrn, um ohne uns zurück zu kommen. Wenn die Jagd erfolglos ist, wird er sie ohne Erbarmen in seine berüchtigten Verließe werfen lassen. Wenn sie uns aber erwischen, werden wir im Keller von Roscio alle Gemeinheiten erleben, zu denen der Zauberkönig fähig ist."


Sie liefen die Nacht hindurch, und Marc fragte sich manchmal, woher er die Kraft nahm, und warum er nicht einfach umfiel. Gegen Morgen war der Wald zum Greifen nahe. Sie sahen sich um, da waren die Verfolger wieder. Zwar hatten sie ihre Pferde entweder verloren, aber alle, die noch gehen konnten, hatten sich zu Fuß und mit den Hunden auf den Weg gemacht. Da die Jäger den größten Teil der Strecke auf den Rücken ihrer Pferde zurückgelegt hatten, waren sie ausgeruhter als die Verfolgten und deshalb auch schneller. Einen Hund aus der Meute hetzte weit voraus. Qumara nahm ruhig ihren Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne.

„Lass' mich das machen“, sagte Marc.

Er ergriff den wundersamen Hammer und erlegte den Hund mit einem Wurf. Die Frau sah ihn überrascht an, sagte aber kein Wort. Für die Männer musste es wie ein Wunder scheinen, als ihr Hund ohne sichtbares Zeichen tot umfiel. Doch sie ließen sich nicht abschrecken, sondern beschleunigten noch ihre Schritte.

„Jetzt bin ich aber an der Reihe“, sagte Qumara, und der vorderste Mann fiel von ihrem Pfeil getroffen zu Boden.

Diese unerwartete Gegenwehr verwirrte die Verfolger, sie zögerten, wurden langsamer. Dies gewährte den Flüchtigen den nötigen Vorsprung, um den Wald zu erreichen. Mit großen Sätzen brachten sie sich hinter Bäumen in Deckung. Da stürmte die Meute bereits aufs Neue heran. Die Hunde hetzten voraus, und die Krieger hatten ihre Bogen schussbereit. Doch ihre Beute stand gut gedeckt von Bäumen und schoss mit zwei Bogen, denn auch Akandra hatte inzwischen ihre Waffe ergriffen. Marcs Hammer flog unablässig durch die Luft. Aber die Übermacht war groß. Schon hatte ein Hund mit grauem, struppigem Fell den Durchbruch geschafft und wollte Qumara anspringen, da traf ihn ein Bolzen aus einer Armbrust, und einen zweiten Hund erschlug ein mächtiger Schwerthieb. Ein Mann war aus den Büschen getreten. Er trug einen verwaschenen Anzug, der irgendwann einmal grün gewesen war.

„Darf ich mitmachen?" fragte er lächelnd.

Viel Zeit für weitere Einladungen blieb nicht, denn nun brach der Ansturm erst richtig los, und die neuen Waffen wurden dringend gebraucht. Es dauerte lange und es gab ein großes Schießen, Hauen und Stechen, bis sich die Angreifer endlich unter großen Verlusten zurückzogen.

„Sie werden wiederkommen“, sagte der Mann. „Aber für den Moment haben wir eine Verschnaufpause."

„Wer seid ihr?" fragte Akandra und nahm ihr Verschwindetuch ab.

„Ich bin Bréon aus dem Geschlecht der Habbas und deine Tarnkappe hättest du ruhig anbehalten können. Ich sehe dich auch so."

„Das ist ein Freund Akandra“, sagte Qumara. „Ich habe Bréon schon früher getroffen. Er ist ein Waldläufer aus dem Geschlecht der Habbas und die haben eine uralte Rechnung mit Ormor und seinen Schergen zu begleichen."

In diesem Augenblick begann ein neuer Angriff. Es blieb keine Zeit für weitere Erklärungen. Pfeile schwirrten durch die Luft. Sterbende Krieger schrien und stöhnten. Hunde winselten und schleppten sich tödlich verwundet durch das Steppengras. Einige der Jäger gelang es, den Pfeilhagel durchbrechen, aber unter ihnen hielt das Schwert von Bréon eine blutige Ernte. Ermattet und dezimiert gaben die Angreifer schließlich auf.


Die Verteidiger lehnten an Bäumen und bemühten sich ruhig zu atmen und wieder zu Kräften zu kommen.

„Was hat Euch in dieser Not zu uns geführt?" fragte Akandra den Waldläufer schließlich und betrachtete den Retter genauer.

Bréon war hochgewachsen und hatte ein bartloses Gesicht. Er gehörte zu jenen Menschen, die bis ins hohe Alter hinein, zwar nicht jung, aber doch zumindest zeitlos aussehen. Nur an seinen Schultern, die das Leben gebeugt hatte, war sein hohes Alter zu erkennen.

„Man weiß, wo man gebraucht wird. Erzählt mir lieber, was ihr mit der Zauberin zu schaffen habt. Zwei Erits und die Hohepriesterin von Rutan auf der Flucht vor den Schergen von Ormor, das ist wirklich eine seltsame Reisegruppe."

Marc und Akandra waren bei dieser Eröffnung wie vom Schlag getroffen. Sie sahen ihre Begleiterin mit völlig neuen Augen. Sicher, sie hatten sich schon Gedanken gemacht, warum die Weiße Frau ihnen half, aber die Ereignisse hatten sich so überstürzt, dass sie sich nicht lange mit der Frage beschäftigten.

„Euer Schicksal ist auch das meine.“ sagte Qumara feierlich. „Wir sind miteinander verflochten. Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich versuchen, euch ungeschoren in mein Land zu bringen. Wenn ich dabei versage, sind wir alle verloren. Bréon, ich vertraue dir. Du musst über unser Zusammentreffen schweigen. Je mehr Leute Bescheid wissen, desto geringer ist unsere Chance, den Feind zu überrumpeln."

„Schweigen war stets die unabdingbare Voraussetzung für Erfolg. Doch dieser Kampf hier ist noch nicht zu Ende.“

„Haben wir es denn nicht geschafft?" fragte Marc.

„Du kannst sicher sein, dass sie wiederkommen“, beschied ihn der Mann. „Ihre Angst vor Ormor ist größer als vor dem Tod. Ich habe diese Strolche schon in vielen Kriegen bekämpft und kenne sie genau.“

„Viele Kriege?“ fragte Akandra erstaunt. „Der sind doch schon vor langer Zeit gewesen. Wie könnt ihr so alt sein?“

„Habbas haben ein langes Leben.“ Mit diesen Worten gab Bréon der Zauberin einen Wink und sie zogen sich ein wenig tiefer in den Wald zurück.

„Das ist ein Mann!“ sagte die Grafentochter bewundernd zu ihrem Gefährten. „In seiner Gegenwart kann uns nichts passieren. Ich werde ihn fragen, ob er uns begleitet.“

Marc kniff die Lippen zu einem dünnen Spalt zusammen, sagte aber nichts.

Kurz darauf kamen der Habbas und Qumara zurück. Man sah ihnen an, dass sie sich einig geworden waren. Akandra zögerte nicht lange, sondern bat den Mann sogleich um Beistand bei ihrer Mission. Der antwortete nicht, aber die Weiße Frau sah sie recht seltsam an.

Endlich antwortete Bréon: „Über dein Vertrauen freue ich mich. Doch werdet ihr eure Aufgabe ohne mich bewältigen müssen.“ Als er das enttäuschte Gesicht der Grafentochter sah, fuhr er fort: „Gern würde ich mit euch gehen, aber hier muss ich noch etwas erledigen. Ich werde dir von meiner Vergangenheit erzählen, dann wirst du verstehen, weshalb ich hierbleiben muss.


Aufgewachsen bin ich auf einer Burg in Strawen, das früher das Nordreich hieß. Unser Geschlecht, das der Habbas, stellte die Könige der Menschen in Endimor. Endimor wiederum ist der alte Name für Centratur. Die Habbas waren über das Meer gekommen, aber ihre Zahl verringerte sich schon damals rasch. Unsere Väter regierten milde und gerecht. Sie kultivierten das Land und schufen die großen Bauwerke, deren Überreste ihr heute noch seht. Von den Habbas lernten auch die Erits schreiben und die allen gemeinsame Sprache. Wir lebten in Freundschaft mit den Achajern und in Freundschaft mit Ormor, unserem Nachbarn. Und da war noch der Weiße Rat, der über unsere Seelen wachte.

Meine Eltern waren fröhliche Menschen. Auf unserer Burg wurde viel gelacht und gefeiert. Es gab große Bankette und Tjosten und andere Wettkämpfe. Wir Habbas hielten engen Kontakt untereinander. Ich kann mich erinnern, einmal kam ein Junge aus dem Süden zu uns auf die Burg. Wir spielten zusammen. Er war sehr mutig, ritt wie der Teufel und konnte schon damals mit dem Schwert umgehen. Er hieß Trista und wurde später unser Herrscher. Von ihm wiederum stammt König Meliodas ab, dessen Tod wir so schmerzlich beklagen.

Ich erinnere mich, dass mich eines Morgens meine Mutter weckte. Sie war bleich und ihre Hände zitterten.

'Steh' auf', sagte sie, 'der Feind ist da!'

Ich hielt dies für eine prächtige Abwechslung in meinem langweiligen Alltag und rannte sogleich auf die Burgmauer. Dort standen gewappnet alle unsere Ritter und Knechte. Sie blickten mit ernsten Gesichtern durch die Zinnen. Draußen war ein großes Heer aufgezogen, und als ich kam, ritten gerade Parlamentäre vor unser Tor und forderten die kampflose Übergabe der Burg im Namen Ormors des Großen. Sie saßen auf Pferden und hatten bunte Wimpel an ihren Lanzen. Vater lehnte höhnisch ab; aber ich merkte, wie verzweifelt er war. Die Reiter zogen ab, und wir erwarteten einen Sturm auf unsere Mauern. Doch nichts geschah. Stattdessen wurde ein Ungetüm zum Tor gerollt.

Unsere Männer riefen erschrocken: 'Gott steh' uns bei, sie kommen mit Mauerbrechern.'

Unter einem Dach aus Leder hing an Seilen ein großer Baumstamm mit einer eisernen Spitze. Den schwangen die Angreifer hin und her und jedes Mal krachte er gegen das Tor. Die Unseren versuchten, die Maschine mit Feuer und Pech und auch mit Steinen zu vernichten. Es war vergeblich.

'Da gibt es nichts mehr zu verteidigen’, sagte mein Vater. 'Wir müssen fliehen.'

In aller Eile packten wir das Notwendigste zusammen und verließen unsere Heimstatt durch einen unterirdischen Gang, der weit unterhalb des Burghügels im Wald endete. Als wir dort ans Licht krochen, hörten wir ein mächtiges Krachen und die Triumphschreie der Eroberer.

Zuerst lebten wir auf den Burgen befreundeter Familien. Dort war es eng, und wir merkten bald, dass wir unwillkommen waren. Mit der Zeit wurde eine nach der anderen dieser Burgen erobert. Wir mussten fliehen und kämpfen und fliehen. Die Schar der Flüchtlinge wurde immer größer. Bald fanden wir keinen Unterschlupf mehr und hausten in den Wäldern wie die Viehhirten.

Es war klar, dass die Völker des Nordens nur mit vereinten Kräften eine Chance gegen Ormor hatten. Die Habbas verhandelten deshalb mit den Achajer, um ein Bündnis gegen den Angreifer zu schließen. Aber die Achajer zögerten. Sie hatten unter dem Aggressor bisher nicht zu leiden gehabt und wollten nicht in den Krieg eintreten. Derweil schleiften die feindlichen Truppen eine Festung der Habbas nach der anderen, und mit den Bastionen wurde auch unsere Widerstandskraft weniger. Für uns war es selbstverständlich, dass Ormor, wenn er uns besiegt hatte, die Achajer angreifen würde. Aber dies war dem schönen Volk nicht einsichtig zu machen. Es unterhielt sogar noch Gesandtschaften an Ormors Hof. Derweil nahmen die Truppen des Zauberkönigs immer mehr Gebiete vom Nördlichen Reich in ihren Besitz."

„Gab es keinen Führer oder König, der den Widerstand hätte organisieren können?" fragte Akandra atemlos.

„Oh, natürlich hatten wir einen Herrn. Der führte auch die Verhandlungen mit den Achajer. Er hieß Arveleg und hatte mehr Sinn für die Künste, als für das Kriegeführen. Er liebte alle Geschöpfe der Erde. Sein Hof war eine Heimat für Philosophen, Dichter und Künstler. Die schönsten Kunstwerke wurden unter seiner Herrschaft geschaffen. In langen Gesprächen suchte er zusammen mit all den klugen Leuten in seiner Umgebung nach Wegen zum ewigen Frieden. Sein Ziel und das seiner Freunde war es, eine Welt zu schaffen, in der alle Geschöpfe in Eintracht miteinander leben. Man war sich einig, dass dies nur möglich wäre, wenn auch alle daran glaubten. Von Zweiflern hieß es, dass sie diese paradiesischen Zustände nicht wollten.

Arveleg suchte den Frieden mit Ormor auch dann noch, als dieser schon längst eine Burg nach der anderen angriff und schleifte. Immer wieder sandte er Boten zum Dunklen Schloss mit der Bitte um Unterhandlung. Er ließ ausrichten, es wäre doch unsinnig, das Land zu verwüsten, es gäbe doch sicher einen Weg zur Verständigung. Ormor war klug und schenkte den Unterhändlern sein Ohr. Er verhandelte und eroberte gleichzeitig. Die zögerliche Haltung unseres eigenen Königs war sicher auch ein Grund, weshalb sich die Achajer so lange zurückhielten. Doch eines Tages wurde die Königsburg selbst angegriffen, all die Skulpturen, die kunstreichen Gärten und die Bibliothek zerstört. Da endlich sammelte Arveleg seine Getreuen zum Gegenschlag. Aber er war ein Philosoph und kein Feldherr, und unsere Kräfte waren schon zu sehr geschwächt. Eine Schlacht nach der anderen ging verloren.

Kurz bevor wir völlig verzweifelten, griffen die sechsfingrigen Achajer ein. Aber sie taten dies nicht, um uns zu helfen, und auch nicht, weil ihnen der Friede in Centratur so wichtig war. Ihr Entschluss hatte Gründe, die nur sie selbst betrafen. Ormor hatte nämlich in seinem Siegestaumel und Übermut die Gesandten der Achajer offen gedemütigt und nach Hause geschickt. Der Achajerkönig, er hieß Galmedan, bot daraufhin dem Herrscher der Habbas den gemeinsamen Kampf an.

Es begann eine grausame Auseinandersetzung, die sich noch vierzig Jahre hinzog. Dörfer und Städte wurden zerstört und Ernten vernichtet. Männer starben in unübersehbarer Zahl, Frauen und Kinder wurden geschändet und umgebracht. Es waren schreckliche Jahre. Der Krieg schien nicht enden zu wollen. Am Ende gelang es vereint doch noch Ormor zum Rückzug und zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Damit war der Sieg auf Seiten der Verbündeten, aber zu welchem Preis!

Es wurde nie wieder so, wie es einmal war. Auch die Achajer konnten sich über den Sieg nicht freuen. Das Land war befreit, aber so verwüstet, dass man es nicht mehr bewohnen konnte. Arùmedo, der große Achajerfürst, sagte viele Jahre später, es sei ein schlimmer Sieg gewesen. Die Opfer waren einfach zu hoch. Unser König lebte nicht mehr. Die Herrschaft war auf Trista übergegangen.

Meine Familie hatte der Krieg hinweggerafft. Als der Krieg begonnen hatte, war ich ein Kind gewesen. An seinem Ende war ich ein reifer Mann. Was sollte ich tun? Außer Kämpfen und Überleben hatte ich nichts gelernt. Eine Familie konnte und wollte ich in dieser Welt nicht mehr gründen. So blieb ich allein und wurde, wie so viele Habbas, ein Waldläufer. Ich lebte vom Jagen und Fallenstellen und verdingte mein Schwert Glutemin. Wo immer ich auf das Böse traf, überwältigte mich tiefer Hass. Ich vernichtete alle Feinde erbarmungslos und grausam. Manchmal, so sehe ich inzwischen ein, überschritt ich sogar die Grenze der Menschlichkeit und wurde selbst zu einer Bedrohung, denn mir fehlte Gelassenheit und Nachsicht. Ich war lange Zeit so unbarmherzig, dass ich mich heute dafür schäme."

Bei diesen letzten, so überaus ehrlichen Worten trat Akandra auf ihn zu. Sie umfasste seinen Kopf mit beiden Händen und zog sein Gesicht zu dem ihren herunter. Dann küsste sie den Mann auf den Mund.

„Ihr sollt doch mit uns kommen“, sagte sie schlicht, „und ich will Eure Familie sein."

Behutsam befreite sich Bréon aus ihren Händen und wandte sich ab. Marc sah, wie er sich verstohlen eine Träne aus den Augen wischte.

„Erst war Krieg, dann kamen Kriege über Kriege und jetzt ist wieder ein Krieg“, sagte er wütend. „Wir teilen die Geschichte Centraturs nach Kriegen ein. Gibt es denn keine erfreulichen Ereignisse, um unsere Erinnerungen an die Vergangenheit zu ordnen. Ist Geschichte immer eine Geschichte von Kriegen? Was ist das für eine Welt, in der die Kriege zum Maßstab werden!“


Niemand konnte ihm antworten, denn in diesem Moment brach erneut eine Angriffswelle über sie herein. Von allen Seiten stürmten Männer und Hunde heran, und sie hatten alle Hände voll zu tun, sich ihrer Haut zu erwehren. Dann war auch diese Attacke abgeschlagen, und die überlebenden Jäger Ormors flohen nach Westen über die Ebene. Marc und Akandra hüpften vor Freude über ihren Sieg.

„Ich glaube nicht, dass wir Grund zum Jubel haben“, sagte der Waldläufer.

„Du hast recht, Bréon“, gab Qumara sorgenvoll zu. „Ormor hat natürlich von seinem Thron aus diesen Kämpfen zugesehen. Nun weiß er, wie gefährlich wir sind. Er kann sich auch denken, dass es sich bei uns um keine törichten Wanderer handelt, die zufällig bei ihm eingedrungen sind. Der Zauberkönig will uns haben! Sicher hat er bereits Verstärkung geschickt. Ich möchte wetten, Orokòr sind unterwegs. Mit ihnen werden wir es nicht mehr so leicht haben, wie mit diesen Jägern. Die schwarzen Bestien werden uns zermalmen. Wir müssen hier weg."

„Und ich werde hierbleiben und eure Flucht decken, so wie wir es abgesprochen haben."

„Das wäre Euer Untergang“, rief Akandra entsetzt.

„Irgendwann muss auch ich sterben, und es ist an der Zeit. Die Zeit der Waldläufer ist vorbei.“

„Das will ich nicht“, rief das Mädchen verzweifelt. „Ich will, dass Ihr mit uns kommt. Ich habe Euch eben erst gefunden und will Euch nicht schon wieder verlieren."

„Ihr habt keine Wahl“, beruhigte sie der Waldläufer sanft. „Ihr müsst mein Angebot annehmen. Macht, dass ihr fortkommt! Nutzt die Zeit! Euer Vorsprung schmilzt mit jeder Minute."

„Was ist, wenn sie Euch besiegen und gefangen nehmen?" das Mädchen war noch lange nicht zum Gehen bereit.

„Lebend werden sie mich nicht in die Verließe von Roscio schleppen. Das werde ich zu verhindern wissen."

„Ihr seid ein tapferer Mann!"

„Auch du bist eine tapfere Frau! Erfüllt eure Mission so gut ihr könnt und bewahrt euch auch in der größten Gefahr die Heiterkeit der Herzen. Wir Habbas haben selbst in schwersten Zeiten fröhlich gelebt. Wir haben viele Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten sehen und erdulden müssen, aber wir haben nie resigniert und nie den Spaß am Leben verloren. Wir singen auch im Untergang. Dann singen wir besonders laut und aus ganzem Herzen. Ich habe ein langes Leben gelebt. Meine Hoffnungen sind schon früh zusammengebrochen. Trotzdem oder gerade deswegen habe ich mit Haltung und mit Freude gelebt. Und mit Haltung und Freude möchte ich auch abtreten. Deshalb nehmt nun Abschied! Qumara, wenn du bei ihnen bist, werden sie weit kommen. Ich wüsste außer Aramar keinen besseren Führer. Und du, Akandra, vergiss mich nicht! Ich wäre wirklich gerne mit dir gegangen und bis zu meinem Tod werde ich an dich denken, denn du bist jetzt meine Familie. Und du, Marc, sei nicht verzagt. Geht nun alle mit dem Segen derer, die über die Erde wachen."

Damit wandte er sich ab und spannte seine Armbrust. Die verbliebenen Pfeile ordnete er, griffbereit zum Nachladen. Das Schwert steckte er vor sich in die Erde. Dann lehnte er sich an einen Baum und wartete. Er war so gelassen, als kämen bald seine Freunde. Und ein wenig, so schien es Akandra, freute er sich sogar. Die Zauberin zog die Erits mit sich durch die Büsche, und der Habbas sah sich nicht nach ihnen um.


Sie hatten einen Pfad gefunden, der sie nach Osten zum Goldfluss führte. Auf ihm eilten sie entlang. Das niedere Nadelgehölz links und rechts war wie eine Wand. Die Luft schien zu stehen. Es war ganz still. Kein Vogel sang. Kein Tier raschelte im Unterholz. Über dem Wald lag eine dumpfe Bedrohung. Die Natur schien den Atem anzuhalten. Die Gefährten waren niedergedrückt. Akandra rannen Tränen über die Wangen. Qumara trieb sie wieder zur Eile an. Um Marcs Brust hatte sich die Angst wie ein eiserner Reif gelegt.

In diesem Augenblick krachte es in den Büschen. Eine Wildschweinherde brach mit lautem Getöse und Gegrunze aus dem Unterholz und verstellte ihnen den Weg. Zwei große Keiler mit riesigen Fangzähnen machten Anstalten sie anzugreifen. Auch hinter ihnen waren Wildschweine aufgetaucht, senkten die Köpfe und nahmen sie als Gegner an. Marc griff nach seinem Hammer, aber er wusste, während er den einen Keiler erlegte, würden die anderen sie zerfleischen.

Da begann die Weiße Frau mit leiser Stimme zu singen. Bald konnte man sehen, wie sich die Muskeln der Tiere bei dem Lied entspannten. Singend ging Qumara auf den größten Eber zu und streichelte über seinen borstigen Rücken. Wie ein Hauskätzchen rieb er seinen massigen Kopf mit den furchtbaren Hauern an ihrer Hüfte. Dann wandte er sich ab und die ganze Wildschweinherde verschwand im Wald.

„Die hat Ormor geschickt“, sagte Qumara. „Wildschweine sind scheue Tiere und greifen von sich aus nicht an. Er ist uns auf der Fährte."

Marc hatte dem Schauspiel erstaunt zugesehen. Ihre Führerin hatte in dieser Not so eine Ruhe und Sicherheit ausgestrahlt, dass er sich dachte: „Mit dieser Frau gehe ich bis ans Ende der Welt!"

Centratur - zwei Bände in einer Edition

Подняться наверх