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Kapitel 1: Mittwoch, 3. Juni
ОглавлениеDa tragen sie den kleinen weißen Sarg mit routinierter Trauer zur letzten Ruhestätte. Vier Männer in Schwarz, gemessenen Schrittes, eine kleine trist gekleidete Trauergemeinde im Gefolge. Viele Kinder sind darunter.
Vorhin, in der kleinen Kapelle, hatte der Pastor bewegende Worte gefunden:
"Sogar diese Geschichte kann man neu erzählen - indem man sie mit der Liebe Gottes in Verbindung bringt." ... "Wir können sicher sein, dass Marc-Leon nun bei Gott ist und dass es ihm dort gut geht." ... "Gott wird alle Tränen sammeln, die wir vergießen, so dass niemand allein mit ihnen ist." ... "Ihr werdet fragen, wo Gott an diesem Abend gewesen ist, als Marc-Leon von einem unbekannten Menschen aus seiner behüteten kleinen Welt gerissen wurde, als das Leben eines elfjährigen Jungen nach einer hoffentlich nur kurzen Zeit des Leidens gewaltsam beendet wurde! Ich sage: Gott war auch da, mit seiner Liebe bei ihm, hat ihn nicht allein gelassen. Und eines Tages werden wir alle in der neuen Welt Gottes mit Marc-Leon wieder zusammen sein, während der Sünder mit seinem Gewissen und seinen Qualen für sich bleiben wird - sofern er nicht einen Weg zur Reue findet...." Hinter den tränennassen Augen der Mutter fehlte jeglicher Glaube.
NDR Fernsehen, Hamburg Journal. Die Stimme des Berichterstatters hörte er nicht. Er wusste aus der Zeitung, dass die Polizei zur Person des Kinderschänders noch keinerlei Hinweise erlangt hat. Und als der Sarg in die Grabstätte hinabgelassen wurde, schaltete er das Fernsehgerät aus.
Vorhin, in der kleinen Kapelle, nachdem die salbungsvollen Worte des Pastors verklungen waren, war keine Orgelmusik zu hören, nein, da wurde das Lieblingslied von Marc-Leon gespielt. Ein paar Zeilen des Refrains hatte er behalten:
Wärst du ein Zauberer /
dann gäb's nur Sonnenschein /
wärst du ein Zauberer /
wär niemand mehr allein /
wärst du ein Zauberer, ein Zauberer, ein Zauberer, ein Zauberer /
dann würden alle Menschen Freunde sein.
Die Melodie wollte ihm nicht aus dem Kopf. So eine schöne Melodie! Gott, wie hieß der Sänger nur noch? Im Refrain ein Knabenchor, der so sehr nach Freundschaft und Zusammenhalt klang.
Als er die Stimmen hörte, gab es kein Halten mehr. Ihm liefen die Tränen, Augen und Wangen klitschnass, und in seine Trauer über den Tod des kleinen Jungen mischte sich Wut auf den Mann, der Hand an ihn gelegt hatte.
So ein netter Junge! Sie zeigten ein Foto von ihm aus unbeschwerten Tagen. Da lächelte er, mit leicht zusammengekniffenen Augen in die Kamera; offenbar blendete ihn die Sonne. Ein schmales Gesicht, volles, mittelblondes Haar, nackenlang, ein wenig zerzaust vom Herumtollen; dunkle Augen, Augenbrauen mit einem schwach ausgeprägten energischen Zug und leicht geöffnete, volle Lippen, die große, schön gewachsene Zähne zeigten. Zwischen den oberen Zähnen gab es vorn eine schmale Lücke. Er trug ein kaffeebraunes Sweatshirt mit einer Aufschrift, die man nicht entschlüsseln konnte. Von seinem Peiniger gab es nicht einmal eine Phantomzeichnung.
Den Friedhof, wo der Junge beigesetzt wurde, kannte er. Ein kleiner Friedhof am Ende des Holstenkamps. Ganz in der Nähe vom Bahrenfelder Forsthaus. Und nicht weit von dort wohnte der Junge auch. In der Wittenbergstraße, wurde gesagt. Sie hatten in dem Bericht viele Einzelheiten preisgegeben und gefragt, ob er jemandem aus der Bevölkerung aufgefallen ist, als er auf seinem Fahrrad nach Ottensen zu seiner Großmutter gefahren war.
Wenn man sich das nur vorstellte! Hierher nach Ottensen. Eigentlich führte ihn der Weg fast nur entlang von Hauptstraßen, für einen Elfjährigen eine sichere Strecke, selbst in der Abenddämmerung. Irgendwo auf dem Weg sollte das Verbrechen dann verübt worden sein, vielleicht sogar gar nicht weit vom Wohnort der Oma. Sicher nicht! Denn die Oma wohnt in der Großen Rainstraße, unweit vom Bahnhof Altona und gerade mal ein paar Häuserblocks von hier entfernt!
Gefunden hatten sie den Jungen auf einer kleinen, baumbestandenen Grünfläche hinter dem Haus Barnerstraße 10. Mit Kopf und Füßen in zwei große Industriemüllsäcke gesteckt und dann in einen Teppich gerollt!
Gott, irgendwie musste der Täter ihn ja nach dort hingeschafft haben! Hatte das denn niemand mitbekommen?
Wärst du ein Zauberer / dann gäb's nur Sonnenschein,....
Ihm wollte diese wunderschöne Melodie einfach nicht mehr aus dem Kopf.
*
Dann saß er eine ganze Weile da und starrte auf den dunklen Bildschirm. Er saß auf seinem Lieblingsplatz. Ein Zeitungsstapel als Sitzfläche, zwei etwas höhere als Armlehne. Für den Rücken waren hinter ihm bunte Kissen und ein hellbrauner, flauschiger Teddybär angeordnet. Den Sitzplatz hatte er so ausgerichtet, dass er zur Rechten aus dem Fenster bis auf die Straße hinunter schauen konnte. Manchmal ersparte der Blick nach draußen das Fernsehprogramm. Es gab immer etwas zu beobachten und wenn es mal nichts zu beobachten gab, füllte seine Fantasie Häuser und Straßen. Gleich unter dem Fenster der alte vergilbte Heizkörper, der in der kälteren Jahreszeit für besonderes Wohlbehagen sorgte. Und vis-à-vis, neben dem alten Wohnzimmerschrank, sein neuer weißer Flachbildfernseher.
Er mochte den Geruch von Zeitungen. Die ganze Aktualität und Relevanz lagen darin! Sog er ihn ein, war es, als würde der Informationsfluss direkt in sein Gehirn münden. Die Zeitungen stapelten sich rings um den Wohnzimmertisch und ersetzten Sofa und Sessel. Damit er überall hingelangen konnte, hatte er Schneisen gelassen, die wie Straßenschluchten wirkten. Bild-Zeitung und Hamburger Abendblatt. Alle Exemplare durchgelesen und alle Artikel eingerahmt, die ihn besonders bewegten. Die über Marc-Leon verteilten sich im Mai über einige Tage und jedes Mal war ein Bild von dem Jungen eingefügt. Das Portrait vom 27. Mai war besonders gelungen und die Vorstellung, dass es ihn nicht mehr gab, bereitete ihm ziemliche Schmerzen. In der Bild vom 28.5. konnte man ihn unbeschwert auf der sonnenüberfluteten Segelyacht seiner Eltern sehen. Vater, Mutter und die ältere Schwester, alle waren an Deck.
Warum?, fragte er sich. Warum hatte es so kommen müssen?
Und was das alberne Gerede vom Pastor nur sollte! Dass Marc-Leon nun bei Gott ist und es ihm dort gut geht! Wie könnte ein 11jähriger so denken, wenn ihm eigentlich noch so viel irdische Zukunft bevorstand? Oder..... Gott war auch da, mit seiner Liebe bei ihm, hat ihn nicht allein gelassen. Ist es von Vorteil, zwar leider gestorben, nur eben nicht allein gestorben zu sein?
Und wie schön: Jemand sorgt sich um ihn in der Zeit nach dem Ableben, jemand, den er nie zu Gesicht bekommen und von dem er eigentlich mehr erwartet hatte.
Wie werden Mutter und Vater die Erinnerungen an ein fröhliches Kinderlachen los, wenn Gott Trost spendet und es das Lachen nie mehr geben würde? Seine Aufgabe wäre es doch gewesen, die Signale für jedermann erkennbar zu machen, die Signale, die abnorme Menschen mit sexuellen Abirrungen aussenden. Seine Aufgabe wäre es gewesen, das Schicksal so zusammenzufügen, dass Täter und Opfer einander nicht begegnen.
Gott hat also jämmerlich versagt!
Seit diesem schrecklichen Ereignis hatte er eine ungeheure Wut auf alles, was mit Kirche zusammenhing. Das regelmäßige Glockengeläut der Osterkirche ein paar Häuserblocks entfernt und seine eigene Vergangenheit, auf die der schwarze Schatten von zwei Jahren Konfirmandenunterricht und seiner Konfirmation fällt, die er eigentlich nie gewollt hatte. Und wenn er nur an das kirchliche Zeltlager vor den Toren Hamburgs dachte! Wie der eine ehrenamtliche Begleiter seine homophilen Neigungen auszuleben versuchte! Wie kann man Gott vertrauen, wenn er nicht einmal im eigenen Haus für Ordnung sorgt!
Ächzend stemmte er sich aus seinem Lieblingsplatz heraus. Dabei rutschte die Tüte Kartoffelchips auf den Boden und ergoss den verbliebenen Inhalt auf den alten Perserteppich. Mit seinem braunen Kunstlederpantoffeln zerquetschte er die kleinen knusprigen Scheiben zu Krümeln, als müsste er sich lästigen Getiers erwehren. Ein Mann, Ende 20, von unsportlicher Statur, mit schmalen Schultern und breiten Hüften, darüber ein nachlässig geknöpftes, rot-schwarz kariertes Flanellhemd und eine fleckige, dunkelblaue Jogginghose, die er nur zu Hause trug.
Er trat an das Fenster, das vor der dunklen Fassade des alten Wohnhauses gegenüber ein schwaches Spiegelbild von ihm erzeugte. Nur nebenher nahm er von seinem blassen Gesicht Notiz; ein rotbrauner, zotteliger Vollbart und ungekämmte, lockige Haare rahmten die weiße Haut ein.
In unbestimmte Gedanken versunken beobachtete er die Passanten in seiner Straße. Jugendliche Türken, die gerade gestikulierend Richtung Bahrenfelder Straße tänzelten, eine dickliche Frau mit langem schwarzen Mantel und Kopftuch, die, gefolgt von einem krummbeinig dahin schlurfenden kleinen Jungen, eine Kinderkarre voller Aldi-Tüten vor sich her schob. Und eine junge Frau mit kurzen roten Haaren und Joggingschuhen fiel ihm noch auf. Sie trug eine dunkle Umhängetasche, lässig übergeworfen, und hatte einen forschen, federnden Gang, so wie er ihn bei Frauen so mochte.
Wärst du ein Zauberer, dann gäb's nur Sonnenschein.
Ein Auto fuhr langsam Richtung Gaußstraße, dann ein gelber Kleintransporter, der abbremsen musste, als die Rothaarige die Straße überquerte.
Obwohl die Motoren heutzutage schon sehr leise waren, die Fahrgeräusche wurden in der Häuserschlucht manchmal zu einem Fortissimo. Das passierte vor allem dann, wenn ein paar Überdrehte im niedrigen Gang den Motor aufheulen ließen. Einige junge Türken kannten da keine Gnade. Wenn bei sommerlicher Hitze auch noch die Seitenscheiben hinuntergelassen waren, boten die Hausfassaden einen idealen Resonanzboden für ihre traditionelle Popmusik. Ihn traf es dabei besonders, weil das Haus, in dem er wohnte, wohl als einziges noch nicht schallisoliert war.
Wie er sich darüber ärgerte! Gleich einer Welle puren Adrenalins kam plötzlich der ganze Zorn auf den Vermieter in ihm hoch. Monat für Monat kassierte der den Mietzins, der am oberen Limit lag, wohingegen für ihn Wohnqualität und zeitgemäßer technischer Standard Fremdworte waren. Dem Pallmann gehörten in Ottensen und Bahrenfeld einige Gebäude und wie er wusste, ließ er sie systematisch verkommen. Er hatte nicht vergessen, wie man sich in der Nachbarschaft über dieses Thema austauschte.
Seine Gedanken gingen oftmals diesen Weg. Immer im Kreis herum. Es genügte nicht, diesem Manne nur einen einzigen Denkzettel zu verpassen. Man müsste ihn immer und immer wieder ärgern und nicht zur Ruhe kommen lassen. Vielleicht sollte er keine Zeit verlieren und sich zum Terminator, zum Vollstrecker aufschwingen.
Er wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als etwas passierte, das er intuitiv als bedeutsam einstufte. Beinahe unbemerkt war ein Junge aus dem Haus schräg gegenüber auf die Straße getreten. Der Junge war nicht groß, vielleicht einen Meter fünfzig. Er trug eine olivgrüne Cargohose; das T-Shirt in einer etwas helleren Tönung und an den Schultern dunkelblau abgesetzt. Auf der Vorderseite prangte eine große, weiße "78". Sogar hier vom Fenster aus konnte er erkennen, dass seine Turnschuhe nicht ganz billig gewesen sein dürften. Seine gesamte Erscheinung zeigte, dass er aus gutem Hause stammte. Dunkelbraunes, schulterlanges Haar, dessen Wellen im ersten Lichtschein der Parterrefenster seidig glänzten. Ein oval geformtes Gesicht mit schwungvollen Augenbrauen und wachen dunklen Augen, so wach, dass der Mann am Fenster instinktiv zurück wich und sich hinter dem Vorhang verbarg. Es schien, als wollte der Junge jeden Moment zu ihm herauf schauen.
Er wusste, der Kleine wohnte dort drüben nicht. Nirgendwo hier in der Umgebung. Ihm wurde ganz übel bei dem Gedanken, dass er vielleicht auch in dieser merkwürdigen Wohnung zu Besuch war, in die er schon ab und zu mal Kinder oder Jugendliche hineingehen sah. Er wohnte hier lange genug um zu wissen, dass in dem Haus nur alte Leute und zwei ausländische Familien mit Kleinkindern wohnten. Anfangs dachte er, die Jungen wären vielleicht Babysitter, bis er im vorletzten Monat bemerkte, wie ein 13-, höchstens 14jähriger das Haus betrat und kurz darauf in der zweiten Etage das Licht anging. Flüchtig sah er den Jungen im Hintergrund, ehe eine hagere, langhaarige Gestalt die Fenstervorhänge zuzog. Später hatte er den Mann einmal bei Aldi und einmal am Kinderspielplatz gegenüber der Osterkirche gesehen. Ein ungepflegt wirkender Zeitgenosse mit schlabbrigem Wollpulli und Blue Jeans, die wer weiß wie lange keine Waschmaschine mehr durchlaufen hatten.
Er hatte ein schmales, graues Gesicht mit ausgeprägter Faltenbildung. Das graue Haar war in der Stirn ausgedünnt, und hinten fiel es lang und ungepflegt bis über die Schultern. Schwer einzuschätzen, wie alt dieser Mann war. Er sah aus wie sechzig, konnte aber auch Anfang fünfzig sein, so forsch, wie er sich fortbewegte.
Er hätte sich gern ins Treppenhaus hineingewagt um herauszufinden, welcher Name an der Wohnungstür steht. Aber er traute sich bisher nicht. Immer, wenn er die Haustür aufdrückte - der automatische Schließmechanismus schien defekt zu sein - , hörte er irgendwelche Geräusche, oder es kam tatsächlich jemand die Treppen herunter.
Der Kerl wohnte dort auch nicht, das könnte er beschwören! Wenn er neu eingezogen wäre, hätte er entweder vom Umzug oder von der Renovierung etwas mitbekommen müssen, selbst wenn er nicht immer zu Hause war.
Die Nackenhaare stellten sich ihm auf bei der Vorstellung, dass der Junge eben bei diesem Menschen in der Wohnung war!
Er trat wieder vor und schaute aus dem Fenster. Der Junge verschwunden und die Vorhänge drüben zugezogen. Und sie waren nicht zugezogen, weil etwa die Schlafenszeit bevorstand. Sie verbargen irgendein schmutziges Geheimnis, davon war er felsenfest überzeugt!
Fast zwangsläufig musste er wieder an Marc-Leon denken. Was für ein naher örtlicher Zusammenhang sich daraus konstruieren ließe!
Er kratzte sich in seinem Bart und wurde ganz zittrig.
Das könnte nun wirklich kein Zufall sein! Die Besuche von netten Jungen, Kinder auf einem Spielplatz beobachten. Oh, nein! Vor so etwas sollte man die Augen nicht verschließen, diese Möglichkeit musste man einfach in Betracht ziehen. Und er wurde ja geradezu Zeuge. Ihm war es unabweislich beschieden zu helfen und auf diesen Menschen aufmerksam zu machen. Offenbar hatte keiner der Hausbewohner überhaupt eine Ahnung davon, was in der zweiten Etage vor sich geht! Somit konnte es nur ihm vorbehalten sein, diese Angelegenheit zu erhellen.
Wärst du ein Zauberer, wär niemand mehr gemein.
Der Sänger hatte einen holländischen Akzent. Er kam nur nicht auf seinen Namen.