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Kapitel 6: Montag, 8. Juni
ОглавлениеTheo Kaufmann hatte sich von der Kleidung den klimatischen Verhältnissen angepasst. Auch wenn man diese Garderobe im Polizeipräsidium nicht gerne sah; und auch, wenn Theo Kaufmann ein Anwärter auf den Höheren Dienst war: Weißes T-Shirt und hellbraune Cargo-Shorts; etwas anderes kam für ihn gar nicht in Frage. Die Generäle, die bei dieser Hitze gerade mal die Krawatte lockern und den obersten Hemdknopf öffnen, waren ihm zuwider. Hoffentlich ließ er sich später nicht umdrehen!
Er hatte sich heute Vormittag allein auf den Weg gemacht, um die Ermittlungen in der mysteriösen Serie voranzutreiben. Sammy Saalfeld war mit Maike Schmidt in ein eiliges Ermittlungsersuchen der Kölner Brandermittlung eingebunden.
Ja, ja, ihre Serie! Er grinste in sich hinein. Manchmal kamen ihm Zweifel, ob Niemann sie mit seinen Vermutungen nicht überfahren hatte. Eine Mischung aus Kleinfeuern und Schweren Brandstiftungen! Wenn man tief genug gräbt, konnte man in jede Beziehung zum Tatobjekt oder zum Opfer Dinge hineininterpretieren und vage Parallelen entdecken.
Jetzt stand Kaufmann vor einer Reihe älterer Mietshäuser und einem schmalen Tordurchgang, der zur Hinterhofbäckerei führte. Ein schweres rostendes Eisentor war an der Hauswand arretiert. Gegenüber zwei fabrikneue Müllcontainer und geschwärzte Mauersteine, die an den Containerbrand erinnerten. Der Brandgeruch war mit dem Schmierfilm, der das Gemäuer überzog, in jede Ritze, in jeden Spalt gesickert.
Man konnte es seinem Gesicht ansehen, wie ihn dieser Ort abstieß. Wenn die Bäckerei ihre Produktion wieder aufgenommen hatte - und den Stimmen, den Geräuschen und dem Brotgeruch nach war es so! - musste er sich unbedingt mit dem Ordnungsamt in Verbindung setzen. Wie sonst sollte die Ware ausgeliefert werden, wenn nicht durch dieses verräucherte "Nadelöhr"!
Das Tor der Bäckerei stand offen. Im Inneren arbeiteten zwei Türken mittleren Alters, hantierten an veralteten Backöfen und folgten einem Arbeitsablauf, der Kaufmann fremd war. Durch die Sichtfenster konnte man mehrstöckig geschichtete Fladenbrote beim Bräunen beobachten. Auch wenn der Arbeitsbereich oberflächlich sauber schien, hatte Kaufmann eher den Eindruck, in einer Autowerkstatt als in einem Backbetrieb zu stehen. Das lag in erster Linie an dem großen schmierigen Öltank, der auf einer freiliegenden Etage oberhalb der Öfen stand. Kaufmann war fortwährend bemüht, mit seinem weißen T-Shirt nirgendwo zu nah heran zu geraten.
Die Arbeiter sahen ihn schon eine ganze Zeit an, ohne darin inne zu halten, Warenkartons vorzubereiten, die Temperatur zu regulieren und den Boden flüchtig zu feudeln.
Es stellte sich heraus, dass der Inhaber der Bäckerei auf Auslieferungstour war. Einer der Anwesenden war sein Bruder, der andere der Schwager. Sie sprachen leidlich Deutsch, gerade ausreichend, um die wichtigsten Punkte zu klären.
Anlässlich des Brandes wurden die Mitarbeiter damals nicht weiter befragt. Auch hatte man davon abgesehen, durch die nähere Umgebung zu streifen und nach Zeugen zu suchen. Der Fall galt schlicht als Gelegenheitstat. Jemand mit der Neigung zu zündeln kam in den frühen Morgenstunden am offenen Tor und an den Müllcontainern vorbei und legte Feuer. Deswegen erkundigte Kaufmann sich, nachdem er sich als Kriminalbeamter zu erkennen gegeben hat, ob die Bäcker verdächtige Beobachtungen gemacht hätten. In erster Linie am Tage der Tat, zum anderen aber auch in der Zeit davor. Er fragte, inwieweit es vielleicht eine verdächtige Person gab, die sich für die Arbeitsweise des Betriebes und die Hygieneverhältnisse interessierte. Doch er konnte es drehen und wenden, wie er wollte, konnte beteuern, dass ihm persönlich bei dieser Befragung die Hygienebestimmungen egal seien, er erhielt keinen Hinweis. Wie beinahe zu befürchten. Wenn sie Pech hatten, kamen sie mit diesen späten Ermittlungen keinen Schritt weiter.
*
Lenia rief ihn auf seinem Privathandy an, als er auf dem Weg in die Abbestraße war. Seine Lebensgefährtin, die treibende Kraft, was ihre Urlaubsplanungen anbelangte. Jetzt wollte sie ihm mitteilen, dass sie die Rafting-Tour nach Tirol, in die Imster-Schlucht gebucht hat. In die Area 47, "The Ultimate Outdoor Playground". Sie war wirklich so verrückt! Befand sich mitten im Sportstudium und ließ keine Gelegenheit aus, sich in Abenteuer zu stürzen und Gefahren zu meistern.
Er versprach ihr, sie in ein paar Minuten zurück zu rufen, weil er beim Gehen ungern Telefongespräche führte.
Von seiner Parkplatzsuche her erinnerte sich Kaufmann an Carlo's Coffee in der Bahrenfelder Straße, wo er sich einen Café Latte und einen Brownie gönnte. Er tauschte die Goldrand- gegen eine Sonnenbrille, streifte das Headset über und setzte sich vor dem Coffee-Shop auf eine Holzbank. Ein paar alte Damen saßen dort und tratschten. Er stellte den Kaffeebecher neben sich und wählte Lenias Nummer.
Seine Freundin hatte ihn mit ihrer Vorliebe schon lange überwältigt, aber zu mehr als dem Hochseilgarten, der Kletterwand und einem Bungee-Jump vom Fernsehturm hatte es noch nicht gereicht. Aus seiner Sicht: immerhin! Doch Lenia musste ihm natürlich noch einmal unter die Nase reiben, dass die Imster Schlucht für sie eigentlich einen Rückschritt bedeutete. Lenia, die mit ihrem Bruder im vergangenen Jahr im Ötztal Canyoning betrieben und als 17jährige mit ihren Eltern wesentlich anspruchsvollere Rafting-Passagen gemeistert hatte. Er bewunderte ihren Mut, ihre Begeisterung und wollte ihr nicht nachstehen. Wenn Lenia ihn bei mancher Gelegenheit als Greenhorn bezeichnete, stachelte ihn das nur an.
Er schob seinen Brownie in den Mund und fuhr fort, mit Lenia vom bevorstehenden Urlaub zu träumen. Von den Linienbussen, die an der nahen Haltestelle alle paar Minuten ihre Fahrgäste freigaben, nahm er nur beiläufig Notiz. Erst als eine junge Mutter mit einem schlafenden Kind in ihrem Buggy neben ihm Platz nahm und einen Cappuccino schlürfte, fiel ihm die Abbestraße wieder ein.
Er beendete das Gespräch und rief Brian Niemann an, den sie heute Morgen noch nicht erreichen konnten. Jetzt war er anwesend, aber kurz angebunden.
"Bin eben durch die Tür, Theo. Den ganzen Morgen auf Außerermittlungen."
"Nur ganz schnell, Brian. Ich bin in deiner Serie unterwegs. Gibt es Neuigkeiten? Irgendein Brandort, der dazu passt?"
Ein paar Sekunden Schweigen. Die Mutter hörte zu schlürfen auf und lauschte ihrer Unterhaltung. Kaufmann sah Niemann vor sich, wie er den Kopf schüttelte.
"Nein. In Ottensen überhaupt nichts. In Bahrenfeld ein paar Müllcontainer, dieses Mal sogar im Volkspark ein paar Müllcontainer..., ein Grillwochenende eben."
"Dann bleibt es ja überschaubar."
Kaufmann hörte ein raschelndes Geräusch, als sein Kollege blätterte. "Müll und Altpapiercontainer in einer nahe gelegenen Kleingartenkolonie. Sieht aber eher so aus, als wären dort Alks auf dem Weg nach Hause gewesen."
"Ich geh' jetzt in die Abbestraße."
"Viel Glück."
Kaufmann verstaute das Headset in einer seiner großräumigen Hosentaschen, fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene, wellige Blondhaar und blinzelte in die Sonne. Ihm war in diesem Moment eher danach zumute, die sommerliche Atmosphäre hier in Ottensen zu genießen als die Ermittlungen fortzusetzen. Er machte sich dann aber doch auf den Weg und stand ein paar Minuten später vor dem Haus, wo im Treppenraum die Kinderkarre gebrannt hatte.
Bei dem Objekt handelte es sich um einen dreigeschossigen Altbau wenige Meter hinter der Kreuzung Hohenesch. An der Fassade des Nachbargebäudes stand ein Baugerüst.
Kaufmann gelangte problemlos ins Haus. Die Eingangstür schloss nicht richtig. Was grundsätzlich schon mal schlecht war. Wenn man den Kreis der Unbefugten nicht eingrenzen konnte, litt darunter die Beweisführung. Es würde darauf ankommen, ob die Geschädigte oder ein anderer Anwohner verdächtige Aktivitäten wahrgenommen hatten.
Der Treppenraum war bereits renoviert. Keine Selbstverständlichkeit in dieser Gegend. Manchen Hauseigentümern kamen solche Ereignisse gelegen, um die Mieter systematisch aus ihrem Zuhause zu vergraulen und die Wohnungen mittelfristig in Eigentumsobjekte zu verwandeln.
Das Gebäude hatte keine besonders große Grundfläche. Dementsprechend eng gewunden führten die Treppen hinauf. Neuer Anstrich, aber der Holzanteil ist nicht verringert worden. Und auf dem kleinen Abstellplatz stand wieder eine Kinderkarre. Beste Voraussetzungen für eine Wiederholungstat.
Regine Freundt, die Geschädigte, wohnte in der ersten Etage.
Den Vorinformationen nach müsste sie zu Hause sein. Jedenfalls war sie nicht berufstätig. Als Kaufmann klingelte, kamen ihm plötzlich Bedenken, ob es nicht vielleicht doch sicherer gewesen wäre, zu zweit hierher zu kommen. Neben ihrem Hang zum Alkohol schien sie ja auch psychotische Anwandlungen zu haben. Er sah eine hagere dreißigjährige Frau vor sich, die wie sechzig aussah, mit aschblonden Haaren, unstetem, aggressivem Blick und rauchend.
Nun war es zu spät. Der durchdringende Klang der Türglocke verhallte, und auch Schritte waren bereits zu vernehmen. Zögernde Schritte.
Dann ein "Wer ist da?" Die Stimme belegt, als hätte die Frau sie seit Tagen nicht mehr benutzt.
Kaufmann wurde viel zu spät bewusst, wie prekär diese Situation eigentlich war. Sich durch die geschlossene Tür als Kriminalbeamter zu erkennen zu geben, könnte bei der Freundt vielleicht zu einer Kurzschlussreaktion führen und der Fantasie der Nachbarn neue Nahrung geben. Hätte also bestenfalls zum Misserfolg geführt. Also sagte er in einer spontanen Eingebung:
"DHL. Ich hätte ein Päckchen abzugeben."
"Ich erwarte keine Postsendungen. Von wem ist es?"
Improvisieren, Theo! Von wo war sie nochmal zugezogen? Ach ja, aus Gütersloh, richtig.
"Der Absender ist unleserlich. Kommt aber aus Gütersloh."
Stille. Dann wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Kaufmann setzte ein galantes Lächeln auf und schob mit einem "Guten Tag, Frau Freundt" seinen Dienstausweis hindurch.
"Das ist ja link", sagte sie leise, doch dem Tonfall entnahm er, dass sie seine Intention verstand. Sie schloss auch die Tür nicht wieder und reichte ihm den Ausweis zurück. Dann öffnete sie ganz und ließ ihn eintreten. In der Halogenbeleuchtung des Korridors stand eine hagere Gestalt mit rot-schwarzem, kurzem Haar, das in einem markanten Kontrast zu ihrem blassen, ungeschminkten Gesicht stand. Schmale grüne Augen, kaum sichtbare Augenbrauen und ein schmallippiger Mund. Hatte ein blass gelbes, weites T-Shirt übergeworfen und trug darunter - fast nichts! Einen schwarzen Bikini-Slip glaubte Kaufmann mit einem flüchtigen Blick zu erkennen. So gekleidet jemand Fremdem gegenüberzutreten, schien für sie normal zu sein.
Kaufmann fühlte sich unwohl. "Wenn Sie möchten, können Sie sich gerne erst mal -"
"Ist schon okay. Wir gehen ins Wohnzimmer."
Als hätte er etwas anderes vermutet.
Die Wohnung war aufgeräumt. Das notwendige Mobiliar bestand in erster Linie aus Second-Hand-Artikeln, die zwar geschmackvoll ausgewählt waren, aber untereinander partout nicht zusammen gehörten. Die weißen Wände zierten unvollendete kindliche Gemälde und mit weichem, stumpfem Bleistift gefertigte asymmetrische Skizzen und grobe Schraffierungen. Auf einer Staffelei neben dem Fenster eine Leinwand mit einem Kinderportrait, das irgendwie monströs wirkte. Zu große Augen, zu großer Mund und ungewöhnliche Proportionen.
Kaufmann erfasste das alles binnen weniger Augenblicke, trotzdem sagte sie mit bissiger Ironie: "Schauen Sie sich ruhig erst mal in Ruhe um."
Ihm lag auf der Zunge zu sagen: Wie in einem Kunstmuseum. Aber er sagte es nicht.
"Ich habe ein paar Frage an Sie, wegen des Feuers."
"Setzen wir uns an den Esstisch."
Er war für zwei Personen und stand genau vor dem Fenster.
"Wieso interessiert sich die Kripo für eine abgebrannte Kinderkarre?"
Kaufmann fingerte Notizheft und Kugelschreiber aus seiner Hosentasche und legte es vor sich auf den Tisch. "Ich bin von der Brandermittlung, Frau Freundt. Ich kenne Fälle, wo jemand eine Kinderkarre anzündete, dann aber das Treppenhaus Feuer fing und die Bewohner in letzter Sekunde über die Drehleiter gerettet werden konnten."
Er ließ sein Horrorszenario wirken, rechnete eigentlich mit etwas Respekt vor den Gefahren, musste dann jedoch ein amüsiertes Funkeln in ihren Augen sehen. Fehlte nur, dass Sie ein 'Wow!' ausrief.
"Auch hier hätte es zu einem wesentlich größeren Schaden kommen können", setzte er unverdrossen hinzu.
"Glaub' ich. So ein altes, morsches Treppenhaus brennt wie Zunder, wenn die Flammen erst mal übergesprungen sind."
"Wie lange ist die Haustür schon defekt?"
"Wie lange sie schon nicht richtig schließt?"
"Genau."
"Seit einigen Monaten. Lange vor dem Feuer." Sie stand wieder auf. "Möchten Sie was zu trinken? Ich habe Sprudel."
"Nein, danke." Kaufmann lächelte gewinnend, falls sie seine Ablehnung als Beleidigung aufgefasst hätte. Sie schenkte sich selbst ein Glas ein und nahm wieder Platz.
"Solche Brände", setzte sie nachdenklich an, "ich meine, so im Treppenhaus, die kommen ja bestimmt häufiger vor. Und dann doch meistens dort, wo die Türen nicht richtig zu gehen. Stimmt das nicht?"
"Das stimmt." Er hätte mehr dazu sagen können, beließ es aber dabei.
"Und wie wollen Sie da jemals einen Täter ermitteln?"
"In diesem Fall liegt die Sache etwas anders, Frau Freundt." Er sog die Luft ein und lehnte sich zurück. Der Stuhl knackte, hielt aber stand. "Wir gehen einer Häufung kleinerer Brände nach und suchen nach einer Gemeinsamkeit." Er gab ihr einen flüchtigen Überblick, ohne die Örtlichkeiten preiszugeben. "Sie, Frau Freundt, sind - Sie werden es zugeben müssen - durch Ihre Vorgeschichte mit dem Sorgerecht gebrandmarkt."
"Schade, dass Sie diese Angelegenheit wieder erwähnen müssen."
"Sie haben um Ihr Kind gekämpft, mit allen Mitteln, mit nicht ganz legalen Mitteln -" er hob beschwichtigend die Hand, um ihre Einwände im Keim zu ersticken, "und das wird in der Nachbarschaft nicht unbemerkt geblieben sein."
"Sie meinen, dass mir jemand einen Denkzettel verpassen wollte? Dass mir jemand sagen wollte, dass das nicht die feine Englische Art ist, wie ich mit den Behörden umgesprungen bin?"
"Wäre so ein Gedanke, ja." Kaufmann legte die Hände auf den Tisch und verflocht die Finger ineinander. "Womit ich zu meiner entscheidenden Frage komme: Ist Ihnen vor dem Feuer oder auch danach jemand aufgefallen, der sich in Ihrer Nähe ungewöhnlich verhalten hat?"
"Ja wohl nicht aus diesem Hause, oder?"
"Eher nicht. Vielleicht jemand aus der Straße. Jemand, dem es ein Dorn im Auge ist, wie Sie Alkohol konsumieren und Ihrer Tochter ein schlechtes Vorbild sind."
"Was Sie alles über mich wissen!"
"Wenn wir nach einem gemeinsamen Motiv für eine Brandserie suchen, müssen wir schon etwas tiefer graben."
Sie rutschte von ihrem Stuhl und ging zur Staffelei. "Hier, meine Therapie, um vom Alkohol loszukommen. Ein bewusst verqueres Gesicht, um den Psychologen eine Spielwiese zu bieten."
"Wenn Sie bewusst so malen, halten Sie die Gelehrten schön zum Narren."
Ihre Augen blitzten auf. Ihre Art zu lächeln, ohne den Mund zu verziehen. "Ansonsten bleibt es bei einem Glas Rotwein zum Abendbrot. Bewusst."
Als sie sich wieder zu ihm setzte, sah er sie eindringlich an. "Ist Ihnen jemand aufgefallen, der sich Ihnen gegenüber feindselig verhalten hat."
Sie antwortete prompt. "Die Familienfürsorge, ja."
Kaufmann verdrehte die Augen.
Sie ging eine Weile in sich, setzte das Glas zum Trinken an, stellte es dann aber wieder hin. "Nein. Meine Nachbarin hier auf der Etage ist eine kauzige Alte, die richtig rührig mit meiner Lütten umgeht. Im Parterre wohnen zwei Schwule, die immer nett und freundlich sind. Die anderen Bewohner kümmern sich nicht. Haben alle ihre eigenen Probleme. Und in den Nachbarhäusern? Alles anonym, niemand, mit dem sich Berührungspunkte ergeben haben."
"Keine bösen Blicke?"
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Aber an irgendetwas schien sie sich zu erinnern.
"Sie haben also doch eine Beobachtung gemacht."
"Leider keine, die Ihnen weiterhelfen würde."
"Erzählen Sie!"
Sie trank hastig von ihrem Selterswasser. "An irgendeinem Tag hab' ich mal das Gefühl gehabt, ich werde verfolgt. Oder zumindest beobachtet. Erst im Aldi-Markt, als ich beim Einkaufen war, und dann auf dem Weg nach Hause. Ich habe mich immer wieder umgedreht, hab' aber niemanden gesehen."
"Niemanden gesehen, der sich für Sie interessierte oder gar niemanden?"
"Überhaupt niemanden. Zumindest abseits der Bahrenfelder Straße nicht."
"Und im Supermarkt?"
Sie lachte verunsichert auf. "Ist ja nun eine ganze Weile her. Und wie oft war ich danach schon wieder bei Aldi."
"Aber an das Gefühl erinnern sie sich."
"Weil Sie nach so was gefragt haben."
"Versuchen Sie sich an den Tag zu erinnern, an dem Sie sich beobachtet fühlten. Blenden Sie alles andere aus."
Regine Freundt schloss ihre Augen und schien tatsächlich um eine Erinnerung bemüht. Nach einigen Sekunden sagte sie langsam, ohne ihre Augen zu öffnen: "An dem Tag, den ich meine, waren viele ältere Frauen oder junge Mütter beim Einkaufen. Oder alte Ehepaare. Aber genau neben mir war jemand, da dachte ich noch, der typische Junggeselle. Lauter Dosengerichte im Einkaufswagen. Dazu Dosenbier und Schokolade und all sowas. Hatte dunkles Haar und einen Vollbart. Streetworker-Typ, sag' ich mal."
"Und der kam Ihnen merkwürdig vor?"
"Das habe ich nicht gesagt!"
"An den erinnern Sie sich explizit."
"Ja, so ist es schon eher richtig."
"Sie haben den Mann aber auch schon öfter bei Aldi gesehen."
"Kann sein, aber sicher bin ich mir nicht. Er muss mich angesehen haben, und als ich ihn ansah, hat er weggeguckt."
"Aha. Und an den Tagen, als Sie mit den Behörden aneinander gerieten?
Sie sah ihn lange an. "Da hatte ich wahrhaftig andere Probleme."
"Keiner, den vielleicht Ihr Unterbewusstsein abgespeichert hat?"
Sie überlegte gewissenhaft, dann schüttelte sie den Kopf. "Wenn mir noch was einfällt, kann ich Sie ja anrufen."
"Ich lasse Ihnen meine Visitenkarte da." Kaufmann machte sich einige Notizen.
Er fand die Unterhaltung höchst interessant. Vom Verlauf ganz anders als er sich es zunächst vorgestellt hatte. Leider ergab sie keine Anhaltspunkte, mit denen er weiterarbeiten konnte.
*
Das Telefon wiederholte unbarmherzig die synthetische Tonfolge. Ulf hatte mit den hellbraunen Vorhängen das Tageslicht leidlich aussperren können, aber daran, sein Telefon leise zu stellen, dachte er immer nicht.
Es war Mutter! Sie redete sofort los und ließ ihm keine Gelegenheit zu zeigen, wie sehr ihn der frühe Anruf störte. Wie sehr es ihn überhaupt störte, wenn sie jeden zweiten Tag anrief. Sie redete über das Wetter, über Sturm der Liebe, ihre Lieblingsserie im Fernsehen und darüber, für wen sie gerade Wintersachen strickte. Als wäre gestern, im Garten, nichts vorgefallen. Dann aber, wie aus dem Nichts, die Frage:
"Bist du denn heute wieder normal, mein Ulfilein?"
Er suchte seine Bettdecke. Sie war zum Fußende gestrampelt. Bei seinem Versuch, sie zu entwirren und zu sich hoch zu ziehen, schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen.
"Was soll die Frage?"
"Vati und ich haben uns gewundert, was dich gestern so wütend gemacht hat."
"Anstatt dich vielleicht zu entschuldigen?"
"Ich wollte mal hören, ob alles in Ordnung ist mit dir."
"Was soll denn nicht in Ordnung sein?"
"Du weißt ja gar nicht, weswegen ich überhaupt auf die Sache zu sprechen kam."
Ihm war nach einer Fortsetzung der gestrigen Unterhaltung nicht zumute.
"Bist du noch dran?"
"Ich bin noch dran."
"Weißt du, du warst damals doch so sehr auf Jungen aus, dass ich schon glaubte, du wärst homosexuell."
"Mutter!" Seine Stimme wie zu einem Aufschrei erhoben, aber in hysterischem Lachen ausgeklungen. "Wir waren Kinder! In dem Alter hatten wir mit Mädchen nichts im Sinn! Jemand aus meiner Grundschulklasse hatte mich mal gefragt, ob das Ficken ist, wenn zwei Jungen mit ihren Pillermännern gegeneinander machen. So gut kannten manche Kinder sich aus."
Wie sicher er sich am Telefon fühlte! Hier brachte es ihm Spaß, freizügig zu sprechen und sich vorzustellen, wie Mutter die Augen verdrehte.
"Hast du denn eine Freundin? Du erzählst uns ja nie etwas."
"Vielleicht, weil euch das nichts angeht?"
"Wir haben Angst, dass du dich zu sehr an das Alleinsein gewöhnst und du nachher gar nicht weißt, was du mit einem Mädchen anfangen sollst."
Er merkte, wie die Wut in ihm wieder hochkochen wollte. Eine Ohnmacht aus heimlichem Verliebtsein und der bitteren Erkenntnis, dass Mutter einen wunden Punkt anriss. Wenigstens machte die Wut ihn am Telefon nicht sprachlos.
"Wenn ich fast jedes Wochenende in eurem verdammten Schrebergarten bin!"
Eine Schrecksekunde Pause. Dann sagte sie wie zu seiner Information: "Du musst ja nicht kommen. Du brauchst nur sagen, nein, ich habe keine Zeit, ich geh am Samstag da und da hin oder hab das und das vor. Immerhin bist du schon alt genug und kannst dein Leben so leben wie du willst."
Das hat Mutter so noch nie gesagt. Er war aber zu müde, um seine Verwunderung zu zeigen.
"Bist du noch dran?"
"Ja."
"Vati und ich wollten Samstag einen Grillabend veranstalten. Hättest du Lust zu kommen?"
Erst wollte er kategorisch ablehnen. Aber Grillabend hörte sich gut an. "Vielleicht", sagte er. "Gibt es bei euch im Laden Grillfleisch im Angebot?"
"Es gibt immer gutes Fleisch im Angebot." Sie machte eine Pause und schien etwas zu überlegen. Dann fügte sie hinzu: "Wir haben übrigens auch ein paar Nachbarn eingeladen. Wird bestimmt lustig."
"Den alten Mann in der Cordhose?"
"Es gibt auch andere Nachbarn. Würdest du öfters hier sein, könntest du sie alle besser kennenlernen."
"Danke, nein."
Er verzog angewidert das Gesicht. Seine Bettwäsche hatte schon einen deutlichen Grauschleier. Als er sich erhob und die Beine aus dem Bett schwang sah er, dass das Kopfkissen fettig aussah und voller Haare war. Er würde heute unbedingt in den Waschsalon gehen müssen!
"Ich höre dich gar nicht mehr."
"Ich bin gerade aufgestanden."
"Oh, Ulfilein. Warum liegst du nur so lange im Bett? Anstatt früh aufzustehen und dich um eine Arbeit zu kümmern. Lebst immer so in den Tag hinein." Sie holte Luft. "Oder hast du inzwischen was gefunden?"
"Vielleicht."
"Du mit deinem 'Vielleicht'!" Wie ihn diese Predigten an früher erinnerten! "Das geht nicht, dass du Monat für Monat den Behörden zur Last fällst. Du hast doch einen Schulabschluss. Ich verstehe nicht, warum du bis jetzt in keine Lehre gegangen bist."
"Können wir uns darüber ein andermal unterhalten. Ich muss aufs Klo."
"Ja, dann geh man, Ulfilein. Es bleibt also bei Samstag?"
"Vielleicht."
Er legte auf. Sein Blick wanderte über die Stapel an Tageszeitungen. Gott, was er da schon an Geld hinein gesteckt hatte! Und alle durchgelesen! Darauf war er am meisten stolz.
Gleich neben dem Bett, halb aufgeschlagen, die Bild-Zeitung vom vergangenen Samstag. Er hatte einen Bericht über Killerspiele eingerahmt. Wie abscheulich er es fand, dass so viel waffenstrotzende Computerspiele auf dem Markt waren! An wie vielen Orten gab es Krieg und Terrorismus, und in den Geschäften blühte der Handel mit diesen Ballerspielen! Am liebsten wäre er schon gleich am selben Tag zum Media-Markt gegangen. Er dachte daran, die Kunststoffhüllen dieser Spiele anzusengen. Oder irgendwas anderes zu machen, wobei man nicht so leicht erkannt werden würde. Vielleicht ja heute Nacht. Hin zum Game-Shop in der Bahrenfelder Straße, schräg gegenüber von der Buchhandlung. Im Ladeneingang ein paar Zeitungen verbrennen und insgeheim hoffen, dass die Schaufensterscheibe zerspringt und die Flammen nach den Spielen greifen!
Sowieso musste er wieder daran gehen und ein paar ganz alte Exemplare in den Papiercontainer werfen. Er stieg über ein paar Zeitungsstapel, angelte nach seinen Hausschuhen, die im Flur vor dem Schlafzimmer standen und schlurfte Richtung Badezimmer an der Küche vorbei. Dort blieb er abrupt stehen und nahm die paar Quadratmeter in Augenschein. Obwohl er auch so schon wusste, was für ein Anblick sich ihm bieten würde.
Auf der Spüle türmte sich das schmutzige Geschirr. Manche Essensreste waren bereits von einem Schimmelpelz überzogen. Weil kein sauberes Geschirr mehr vorhanden war, hatte er sich provisorisch mit Papptellern und Plastikbesteck versorgt. Auch dies lag dazwischen verstreut, denn die blaue Mülltüte war längst voll. Die offene Kühlschranktür gab den Blick in einen düsteren Innenraum frei, wo er Sachen aufbewahrte, die keiner Kühlung bedurften. Lange schon war das Gerät defekt. Er wüsste überhaupt nicht, wie er es austauschen sollte. Diese Operation würde sicher kein Lieferant mitmachen.
Er hasste sich selbst. Zum wiederholten Male. Warum, um Himmels Willen, finde ich bloß keinen Anfang, die Küche aufzuräumen?! Die roten Gummihandschuhe, die er sich letzte Woche gekauft hatte, lagen noch in ihrer Verpackung auf dem Küchentisch, kaum noch zu sehen unter dem Pizzakarton und den Styropor-Verpackungen vom China-Restaurant.
Ob er vielleicht heute dazu kommen würde, abzuwaschen und sauber zu machen?
Er ging ins Bad.
Er musste plötzlich an Falko denken. An das alles, was er in seiner Kindheit mit ihm erlebt hatte.
*
Den Alma-Wartenberg-Platz, neben dem Spritzenplatz eines von zwei Herzen dieses Stadtteils, machte eine Gruppe Punks weniger durch ihr Auftreten als durch ihr Aussehen unsicher. Mit freiem Oberkörper hatten sie sich auf den Bänken ausgebreitet und waren in theatralische Gespräche vertieft. Zwei Schäferhunde, einer mit Sonnenbrille, lagen zwischen ihnen und wirkten schläfrig. Ein Punk mit einer ganzen Anzahl von Ringen in der Ohrmuschel kreuzte wie zufällig Kaufmanns Weg und fragte ihn nach einem Euro.
Das hatte gerade noch gefehlt! "Ich hab' leider nur zehn Cent", erwiderte er grinsend und fingerte umständlich die Münze aus seiner Hosentasche.
Der Punk grinste zurück. "Na ja....., fürs erste wird's reichen."
"Aber überleg mal: Wenn jeder Bewohner aus Ottensen zehn Cent beitragen würde, wärt ihr fein raus. Wie viel Menschen wohnen hier?" Kaufmann kratzte sich hinter dem Ohr. "Na, ich schätze mal 25000. So, und nun rechne mal aus!"
Der Junge sagte noch etwas, was er nicht verstand. Seine Freunde lachten.
Ein Gelenkbus quälte sich um die engen Kurven, während Kaufmann auf die Nöltingstraße zuhielt, wo der Piependreiherweg abzweigte. Eine Sackgasse. Vielleicht sinnbildlich für die Ermittlungen, die sie sich aufgehalst haben.
Er gelangte in eine Neubausiedlung, mitten im alten Ottensen. Gelb geklinkerte Gebäude, vornean Parkhaus und Postamt, dahinter ein Fußweg, der zur Ottenser Hauptstraße führte. Akgün Karakush, der Halter des Maserati, wohnte im Haus Nummer zwei. Das Auto war nicht zu sehen.
Niemand öffnete auf sein Klingeln hin. Dafür war beinahe lautlos eine alte Dame hinter ihn getreten, die sich an einem Rollator mit prall gefülltem Einkaufsnetz festhielt. Sie war klein, hatte weißes, schütteres Haar und einen runden Rücken und es bedeutete für sie eine Anstrengung, zu ihm hoch zu blicken.
"Zu wem wollten Sie denn?"
Kaufmann lächelte resigniert. Er konnte nie recht beurteilen, ob diese Frage Neugier oder Hilfsbereitschaft signalisierte.
"Zu Herrn Karakush."
"Herr Karakush wohnt ganz oben", sagte sie mit fester Stimme.
"Er ist offenbar nicht zu Hause." Kaufmann sah pro forma an der Hausfassade empor.
"Wenn Sie mich fragen, wird er wahrscheinlich wieder mit seinem Sportwagen unterwegs sein." Sie lachte lausbübisch. "Man hört immer schon von weitem, wenn er kommt. Er gibt ordentlich Gas und lässt sich dann von allen Leuten bewundern."
"So ein Mensch ist er?"
"Ich könnte einiges erzählen, aber ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind."
"Ich bin Kriminalbeamter", erklärte Kaufmann und zeigte ihr seinen Dienstausweis. "Jemand wollte den tollen Sportwagen vom Herrn Karakush in Brand setzen und ich möchte herausbekommen, wer das war."
"Na, das wird bestimmt schwierig sein. Da kann ich Ihnen leider doch nicht weiterhelfen." Sie wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sich, mit einem zusammengerollten Spiegel in der Hand, ein weiterer Hausbewohner näherte. Sein kleinkariertes Oberhemd war durchgeschwitzt, und in seinem Mund steckte mittig ein Zigarrenstummel. Der Mann war vielleicht zwanzig Jahre jünger als sie, also etwa siebzig, aber beide noch gut zuwege. Die alte Dame setzte ihn ins Bild, weswegen die Kripo ermittelte.
Der Mann nickte und nahm die Zigarre zwischen die Finger. "Ich habe nichts gegen Türken", sagte er, "dass Sie mich nicht falsch verstehen, aber dieser Junge tut einfach alles, um die Mitmenschen gegen sich aufzubringen."
Kaufmann sah ihn interessiert an. "Wieso das?"
"Mit seinem Maserati. Dreht jeden Tag mehrere Runden durch Ottensen, mit dröhnendem Motor, fährt die kürzesten Wege. Nennen Sie das umweltbewusst?"
"Gewiss nicht."
"Seine Freundin wohnt im Nernstweg - hat mir Frau Bischoff erzählt -"
"Wer ist Frau Bischoff?"
"Seine Untermieterin. Und jeder vernünftige Mensch geht die paar hundert Meter zu Fuß. Er aber mit seiner Sportkarre anderthalb Kilometer durch die Einbahnstraßen."
Kaufmann steckte eine Hand in die Tasche, weil es sich mit den beiden so gut plaudern ließ, "Natürlich fragen wir uns auch: wie kann sich Herr Karakush nur einen Maserati leisten. Und ihn dann außerdem so provokativ spazieren fahren."
"Sein alter Herr hat ein großes türkisches Reisebüro."
"Ah! Und er selbst ist Sohn von Beruf. Oder verdient er Geld hinzu?"
Der Alte druckste herum. Schließlich sagte er: "Man erzählt sich ja so einiges, aber dazu sage ich lieber nichts. Ich will nicht -" Er unterbrach sich. "Da! Hör'n Sie!" Er lauschte und hob die Hand, in der die Zigarre steckte. "Er kommt zurück!"
Kaufmann hörte, wie sich aus dem Hintergrundrauschen des Straßenlärms ein satter Motorenklang hervorhob. Es war, als hielt der Fahrer die Maschine mit ständigem Zwischengas ordentlich bei Laune. Dann plötzlich erstarb das Geräusch.
"Er kommt doch nicht", stellte der Mann lakonisch fest. "Wahrscheinlich hat er beim türkischen Imbiss angehalten."
"Nicht doch, Herr Schuffert!" Die alte Dame lächelte. "Jetzt erzählen Sie aber Unsinn!" Sie setzte sich kopfschüttelnd in Bewegung. "Ich geh' lieber. Ich muss langsam meine Einkäufe nach oben bringen."
"Lassen Sie mich Ihnen helfen!" Er drückte die Glut seiner Zigarre an der Hauswand aus und steckte den Stummel in seine Hosentasche.
"Haben Sie eine Vorstellung davon, wer den Maserati brennen sehen wollte?", beeilte sich Kaufmann zu fragen.
"Viele", war seine prompte Einschätzung, ohne sie näher zu erläutern. Das Ereignis hatte sich in Ottensen offenbar herumgesprochen.
Was in Kaufmanns Erinnerung nachhallte: Die Freundin von Karakush sollte im Nernstweg wohnen. Nernstweg, Nernstweg, alles zentrierte sich zum Nernstweg. Ein Zufall?
Er hatte sich wieder auf den Rückweg gemacht und spürte, dass in den Straßen beinahe unmerklich eine Veränderung vor sich gegangen war.
Schatten bewegten sich langsam durch die Bahrenfelder Straße und über die Häuserfassaden. Kaufmann blickte in den Himmel.
Wolken! Sie waren schon wie aus der Erinnerung getilgt und nun boten sie Aussicht auf eine Atempause. Endlich nicht länger der Sonne, der Hitze ausgesetzt sein müssen. Dabei aber auch eine bedrückende Veränderung. Ausläufer von Haufenwolken, deren Konturen verschwommen und von blaugrauer Färbung überzogen waren. Ein Gewitter braute sich zusammen!
Sein Dienstwagen stand in der Barnerstraße auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Während er Carlo's Coffee passierte, machte er sich Gedanken, ob er gleich hier, in Ottensen, zu Mittag essen sollte. Möglichkeiten dazu gab es viele!
In dem Moment aber fiel ihm der Maserati auf. Er stand vor einem türkischen Imbiss, halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Gehweg. Die Passanten mussten um den Wagen herum einen Bogen machen, konnten ihn bei der Gelegenheit jedoch gebührend bestaunen. Kaufmann war Karakush schon jetzt hochgradig unsympathisch.
Er wechselte die Straßenseite. Jetzt konnte er beobachten, wie ein Linienbus und ein Transporter vom UPS nicht aneinander vorbeikamen; der Maserati und ein, zwei andere Autos standen im Absoluten Halteverbot. Ein Hupkonzert setzte ein, die Fahrer gestikulierten, keiner konnte zurücksetzen. Das ging, bis ein paar Minuten später auf der anderen Straßenseite zwei Wagen davonfuhren.
Durch das Schaufenster des Imbissbetriebes sah Kaufmann zwei Schüler mit Dönertüten in der Hand und drei erwachsene Türken, die um einen Tisch herum saßen, Tee tranken und miteinander plauderten. Von Karakush keine Spur! Dennoch musste Kaufmann neidlos anerkennen, wie brillant Gehör und Orientierungssinn des alten Schuffert ausgeprägt waren.
Gerade entschied er sich, die Befragung zu vertagen und in das asiatische SB-Restaurant einzukehren, als er durch Hupen auf einen jungen Türken aufmerksam wurde. Er überquerte mit seiner wasserstoffblonden Begleiterin die Straße und brachte den Verkehr erneut ins Stocken. Das Mädchen war eine Handbreit größer als er und mit dem puppenhaften Gesicht das Klischee einer Friseuse. Kaufmann wusste: hier kam Akgün Karakush! Seine geringe Körperhöhe hatte er durch konsequentes Muskelaufbautraining ausgeglichen. Er schien gar nicht zu wissen, wo er mit all seiner Kraft hinsollte. Und die beiden steuerten tatsächlich auf den Maserati zu. Die Sekunden, die Akgün benötigte, um in vollendeter Form einzusteigen, nutzte Kaufmann zur Kontaktaufnahme.
"Ich wollte Sie kurz sprechen, Herr Karakush." Er trat neben ihn und zeigte seinen Dienstausweis. Merkwürdig, dachte Kaufmann, dass ein junger Türke mit Mienenspiel und Gestik immer provokativ auf ihn wirkte! Auch Karakush mit seinem glatt rasierten Kopf, auf dem nur ein schmales Oval an kurzem Deckhaar geblieben war. Seine Augen blitzten belustigt auf.
"Nicht, dass Sie mich aufschreiben wollen, weil ich hier etwas ungünstig steh'."
"Sie stehen hier absolut scheiße", stellte Kaufmann klar.
Karakush brauste auf. "Nicht nur ich, Mann! Die steh'n doch alle hier wie dumm!" Sein Blick zuckte herum zu seiner Freundin, die am Kotflügel lehnte. "Mädchen, ich schwör', ich bring dich um, wenn ich da ein' Kratzer seh'! Setz' dich einfach schon rein."
Sie gehorchte.
"Wie sind Sie an das Auto gekommen?", fragte Kaufmann interessehalber.
Karakush grinste ihn an. "Darauf muss ich nicht antworten."
"Na ja, Akgün, das ewige Misstrauen eines Polizeibeamten. Sie sind gerade 18 geworden. Einen Maserati darf man eigentlich erst ab 21 oder in Begleitung eines Erwachsenen fahren."
Der Türke tänzelte von einem Bein aufs andere. "Sie sind komisch drauf, Mann. Wie Sie mich provozieren! Was wollen Sie von mir?" Und mit scharfem Ton fügte er hinzu: "Außerdem wissen Sie genau, dass ich 25 bin."
"Sie provozieren genauso", stellte Kaufmann grinsend fest. "Tag für Tag, wenn Sie hier durch Ottensen dröhnen. Hab mit Leuten gesprochen, die erzählten, sie würden manchmal nur zum Brötchen- oder Zigarettenholen fahren. Oder zum Musikhören." Kaufmann bereitete es Vergnügen, Karakush hochzunehmen und auf Zinne zu bringen.
"Oh, Mann, ich schwör', ich bring' den um, der solche Lügen erzählt!"
"Weswegen, glauben Sie denn, ist jemand an Ihren Wagen gegangen und hat ihn anzünden wollen? Irgendein Ottenser Bürger ist Ihr Verhalten ein Dorn im Auge."
"Nur deswegen? Ein Auto anzünden?"
"Sagen Sie mir einen anderen Grund."
"Keine Ahnung, Mann!"
"Was sind Sie von Beruf?"
"Als ob Sie das nicht wüssten!"
"Ich bin von der Brandermittlung, Akgün. Wenn Sie in Ihrem Leben noch nie ein Feuer gelegt haben, wie sollte ich da mit Ihrer Lebensgeschichte vertraut sein?" Kaufmann schilderte in wenigen Worten, weswegen ihn die versuchte Brandstiftung an seinem Maserati interessierte. "Ich muss das Tatmotiv herausfinden - wer also ein Interesse hat, Sie zu schädigen."
"Ich habe eine Zimmervermietung."
"Und all Ihre Mieter sind mit Ihnen zufrieden?"
"Mieterinnen."
"Ah.....!"
"Null Probleme."
"Es muss jemanden geben, der sauer auf Sie ist." Oder einen völlig unbekannten, zufälligen Passanten, der seinem Neid Luft machen wollte, dachte Kaufmann. "Kein Mensch geht aus einer spontanen Laune heraus so ein hohes Risiko ein. Die Brandstiftung ist immerhin ein Verbrechen. Wissen viele nicht."
Karakush nickte gedankenversunken. "Nein. Keinen blassen Schimmer. Ich habe keine Feinde."
Kaufmann lag es auf der Zunge zu sagen: 'Jeder Türke hat seine Feinde', ließ es aber lieber bleiben. "Hat sich jemand beschwert, wenn Sie mit dem Wagen durch Ottensen brausen?"
"Hat sich niemand, ich schwör'."
"Im Nernstweg zum Beispiel, wo Ihre Freundin wohnt?"
"Oha! Sowas wissen Sie?"
Kaufmann überhörte die Bemerkung. "Ich stelle mir vor, dass Sie die Menschen beim Ein- und Aussteigen beobachten."
"Hä?"
"Um zu sehen, ob Sie gesehen werden."
"Ich versteh' jetzt überhaupt nichts."
"Dass zum Beispiel im Nernstweg - oder, mein Gott, vielleicht auch in einer anderen Straße! - Passanten anhalten oder Bewohner aus dem Fenster gucken, um Ihren Auftritt zu verfolgen. Aus Bewunderung, aus Neid - oder mit Wut im Bauch, weil sie vom Motorenlärm oder Ihrem provokanten Auftreten genervt sind."
Kaufmann sah, dass Karakush solche Nuancen fremd waren und es ihm vermutlich nur um die Zahl der Zuschauer ging.
"Kann ich nicht sagen", antwortete Karakush. Wenigstens sah er nachdenklich aus, so als ließe er alle Fahrten durch den Nernstweg tatsächlich noch einmal Revue passieren.