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Kapitel 3: Donnerstag, 4. Juni

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Theo Kaufmann hatte sich von Niemann die relevanten Vorgänge als Kopie auf seinen Rechner transferieren lassen. Nun saß er vor dem Monitor, um sich die einzelnen Ermittlungsverfahren und Niemanns erste zusammenfassende Einschätzung durchzulesen. In den Eingangsberichten tauchte die Bezeichnung 'Fidibus' tatsächlich nie auf. Weil mancher Sachbearbeiter es bei Kleinfeuern aus Zeitgründen an der Genauigkeit mangeln ließ oder ihm der Begriff gerade nicht geläufig war, fand der 'Fidibus' auch im Ermittlungsbericht keine Erwähnung. Daher hatte Christa ihn auch nicht in Crime aufgenommen. Etwaige Zusammenhänge waren also nicht recherchierbar. Im Fall Gaußstraße war Niemann selbst Sachbearbeiter. In die Abbestraße hatte er Kalle Cybinski begleitet und sich an ein zusammengedrehtes und präpariertes Stück Papier erinnert. Im Bericht stand am Ende nur: 'Papier und Brandbeschleuniger. Leichtbenzin, wie es in Feuerzeugen enthalten ist'.

Entscheidend sind in allen Fällen die Fotodokumentationen, die jeweils sehr fachmännisch gefertigt waren. Niemann hatte durch nachträgliche Ausschnittvergrößerungen den Brandbereich hervorgehoben, wo so etwas wie ein Fidibus lag. Im Brandschutt, der oft sehr schwarz aussah und wo - zum Beispiel bei Müllcontainern - ohnehin mit Papierabfällen zu rechnen ist, war eine zweifelsfreie Einschätzung mitunter nicht einfach. Die Fotos waren aber sehr aussagekräftig

In den Fällen Gaußstraße und Nernstweg, in der Wohnung der alten Dame, konnten sie Überreste eines Fidibus sicherstellen. Ebenso einen nicht vollständig verbrannten vor dem Portal der Osterkirche. Sie würden sich alle genau anschauen müssen. Wenn sie Glück hatten, barg das Zeitungspapier, wenn es denn welches war, einen bestimmten Hinweis.

Nachdem das LKA 45 über einige Stunden wie verwaist schien, tauchten die Kollegen, rechtzeitig vor dem Feierabend, allmählich wieder auf. Zumeist waren sie im Zusammenhang mit zurückliegenden Fällen oder Ermittlungsersuchen anderer Bundesländer im Hamburger Stadtgebiet unterwegs gewesen.

So auch Bianca Jochens, mit der Theo Kaufmann sich das Büro teilte. Unter ihrer rotbraunen Mähne ein übermüdetes Gesicht, das zu erstrahlen begann, als ihr Theo von Niemanns Serie berichtete.

"Sag mal, habt ihr nichts Sinnvolleres zu tun, als Sachbeschädigungen zu bearbeiten?" Aber ihr Tonfall verriet ein verstecktes Interesse. "Was soll denn bloß das Motiv eures 'Serientäters' sein?"

"Das kannst du doch nicht so kurz nach der Übernahme eines Falles schon wissen." Kaufmann ging ein paar Augenblicke in sich, hatte aber wirklich keine Idee. "Niemann meint, der Täter will vielleicht auf etwas aufmerksam machen."

Durch die Verbindungstür betrat Sammy Saalfeld den Raum. Sein Büro lag gleich nebenan. Er bot an, den aktuellen Brandort im Nernstweg gleich heute noch aufzugreifen.

"Worauf aufmerksam machen?", hinterfragte Bianca. "Was kann mit der alten Dame sein und was mit der Kirche?"

"Warten wir's einfach ab", entschied Saalfeld. "Es sind keine Toten zu beklagen, also können wir die Sache relativ entspannt angehen."

"Noch nicht", wandte Kaufmann ein und blickte die anderen ungewohnt ernst an, "noch... sind keine Toten zu beklagen. Lasst die alte Dame letzte Nacht nur zu Hause gewesen sein. Atmet im Schlaf die Rauchgase ein, erlebt eine Rauchgasvergiftung, ja, und das wär's dann vielleicht gewesen. "

*

Eigentlich hatte Sammy Saalfeld heute keine Überstunden machen wollen, denn die Reihe war an ihn, seinen kleinen Sohn, Benji, zum Fußballtraining zu begleiten. Er versuchte Nina jedoch klar zu machen, dass sie diesen Job wirklich nur ausnahmsweise übernehmen müsste, womit sie sich schließlich nach einigen Zugeständnissen einverstanden erklärte. Mit seinem Angebot, sich um Niemanns Serie zu kümmern, hatte er auch ein Stück Verantwortung übernommen. Und die Neugier trieb ihn zusätzlich! Wenigstens einmal den aktuellen Brandort ansehen. Kaufmann konnte ihn nicht begleiten; er musste wegen eines Arzttermins pünktlich Feierabend machen.

So saß er gegen 17 Uhr allein vor dem PC und versuchte schon im Voraus an ein paar Informationen über die Geschädigte heranzukommen.

Was die Einwohnerdatei hergab: Ida Michelsen, 84 Jahre alt, verwitwet. Wohnt seit über 50 Jahren im Nernstweg 19!

Allein das ist schon unglaublich! Saalfeld überlegte, ob er es erstrebenswert finden würde, eine so lange Zeit sesshaft zu sein. Wäre fast so, als säße man im Gefängnis. Nein, für ihn musste das Leben aus Veränderungen bestehen.

Wenn Beständigkeit wenigstens die Ermittlungen vereinfachen würde, aber mit seinen ersten Recherchen in den Polizeiprogrammen und im Internet kam er zunächst nicht weiter.

Saalfeld fuhr zum PK 21, um sich die neuen Wohnungsschlüssel abzuholen. Weil die alte Dame nicht zu Hause war, musste für den Löscheinsatz die Wohnungstür aufgebrochen und danach ein neues Schloss eingesetzt werden.

Er hatte das Glück, dass ein Praktikant von der Landespolizeischule frei war und ihn in die Wohnung begleiten konnte. Besser war es, sich selbst ein Bild vom Brandort und den Lebensumständen der Geschädigten zu machen, vor allem, wenn der Seriengedanke auf sie abzielte.

Ottensen ist ein Stadtteil, wo noch viele Gebäude aus der Gründerzeit standen. Stattliche, fünfgeschossige Wohnhäuser, entlang einiger Straßenzüge auch zwei- oder dreigeschossig. Die Straßen schmal und verwinkelt, ein hoher Ausländeranteil und ein noch höherer Anteil an Autos am Fahrbahnrand, dazu viele Neureiche, viele modern eingestellte Menschen und innovative Gewerbebetriebe. Entsprechend buntes Treiben empfing Saalfeld, als er mit dem jungen Polizisten in den Nernstweg fuhr.

"Wenn die Inhaberin nicht zugegen ist, sollte man stets zu zweit in die Wohnung", erklärte Saalfeld. Der Praktikant sah ihn mit aufnahmebereitem Blick an. Er war bestimmt nicht älter als siebzehn. Feine, helle Gesichtshaut, kaum erkennbarer Bartflaum, eine dunkle Uniformhose mit messerscharfer Bügelfalte und die Lederjacke noch gänzlich steif und ohne jede Gebrauchsspur.

Saalfeld zwängte den Dienstwagen in den abgesperrten Bereich einer Straßenbaustelle, die allerdings schon verwaist war. Keine fünfzig Meter vom Objekt entfernt.

Die schwere Eichentür von Nr. 19 verfügte über die übliche Haustürsicherung. Fiel sie ins Schloss, ließ sie sich nur durch Knopfdruck von der Wohnung aus öffnen. Er stellte jedoch fest, dass die Sperre defekt war und mit Kraft überwunden werden konnte. Entweder wusste der Täter das, oder er hatte einfach Glück.

Im Haus klang es recht lebendig, zumindest in den Etagen, wo Kinder wohnten und mit ihren hellen Stimmen zu hören waren. Geschirrklappern ertönte, als irgendwo Essensvorbereitungen getroffen wurden, woanders lief ein Fernsehprogramm, wieder woanders leise Schlagermusik. Ein Treppenraum, in dem viel Holz verbaut wurde; entsprechend dramatisch könnten natürlich die Auswirkungen eines Feuers sein.

Saalfeld schnupperte. Es roch ganz schwach nach griechischem Restaurant, aber es roch auch eindeutig verbrannt. Saalfeld hatte eine empfindliche Nase.

Die Wohnungstüren waren alle mit drei schmalen Profilglasfenstern versehen. Die von Frau Michelsen zeigten sich rußgeschwärzt. Die Fußmatte angekokelt, so als wären bei der Brandlegung brennende Teilchen heruntergefallen. Und durch die Türritzen war Rauch ausgetreten.

Saalfeld öffnete die Wohnung. An der Tür war für die alte Dame ein polizeilicher Hinweis angebracht. Da sich Frau Michelsen bisher nicht gemeldet hat, ist sie vermutlich im Urlaub oder gar im Krankenhaus.

Der Fidibus hatte im Korridor einen überschaubaren Schaden angerichtet. Im dünnen Teppichläufer war ein Loch von etwa 60 cm Durchmesser eingebrannt. Die Flammen könnten anfangs an der Tür emporgeschlagen sein und den Vorhang erreicht haben. Weiter hätten sich die Flammen vermutlich nicht ausbreiten können. Dafür waren die Rauchgase in alle Zimmer gezogen. Sämtliche Türen standen offen. Ob die Rauchgase intensiv genug waren, eine alte Dame im Schlaf zu überraschen und ins Jenseits zu befördern? Schwer zu sagen.

"Wer tut einer alten Dame so etwas an?", fragte Saalfeld, ohne eine Antwort zu erwarten. Er erhielt auch keine.

Saalfeld und der Praktikant traten ihren Rundgang an. Sie fanden sich in einer Wohnung wieder, die wie eine Zeitmaschine zu funktionieren schien. Sie sahen sich ein halbes Jahrhundert weit in die Vergangenheit gebeamt. Schwere, dunkle Möbel, die jeden Transporteur zur Verzweiflung bringen würden und Brokattapeten, alt und farblos, die vermutlich schon eine Symbiose mit den Wänden eingegangen waren. In der einen Ecke des Wohnzimmers eine große Standuhr, deren träges Klack-Klack deutlich machte, dass man sich unaufhörlich dem Tode näherte.

Saalfeld durchstöberte die Zimmer nach einem persönlichen Adressbuch oder irgendeinem Hinweis darauf, wo die Bewohnerin sich aufhalten könnte. An der Flurgarderobe hing ein Mantel für kältere Tage. Die Taschen waren bis auf einen Einkaufszettel und einen grünen Regenhut leer. In einer Kommode fand er Schal, Handschuhe, allerhand Kleinkram, alte, braunstichige Fotografien und - ein kleines Buch, in das in Deutscher Schrift Namen, Telefonnummern und einige Anschriften notiert sind. Na bitte!

Er stand da und blätterte unter dem achtsamen Blick des Praktikanten das Büchlein durch. Manche Namen waren schon durchgestrichen, womöglich die Namen von Verstorbenen. Leider hatte die alte Dame zumeist nur Vornamen eingetragen, sodass es zum Lotteriespiel wurde, jemanden zu finden, der Auskunft geben könnte. Selbst Dr. Gunkel würden sie nicht fragen können, weil sich vor allem die Sprechstundenhilfen gern hinter der ärztlichen Schweigepflicht verschanzten. Einen Versuch machte er mit Louise, die eine Hamburger Telefonnummer hat, es nahm jedoch niemand den Anruf entgegen. Also würde er das Adressbuch morgen, im Büro, in Ruhe auswerten.

Saalfeld wollte sich gerade zum Gehen wenden, als er doch noch an einer halb geöffneten Tür innehielt. Er drückte sie ganz auf. Das Schlafzimmer. Beherrscht von einem großen Doppelbett mit einer hellgrün glänzenden, gesteppten Tagesdecke überzogen. Alles ziemlich aufgeräumt. Und doch passte irgendetwas nicht.

"Wonach riecht es hier?", fragte Saalfeld seinen uniformierten Begleiter.

"Nach Zigarettenrauch?" Der Praktikant ließ die Muskeln seiner Nasenflügel spielen.

"Nein.....!" Saalfeld durchschritt das Zimmer und sah eine hellbraune Lederjacke am alten, hellbraunen Kleiderschrank hängen. Sie sah männlich aus und roch auch so. Ob sie Frau Michelsen an ihren verstorbenen Gatten erinnern sollte? "In der Wohnung einer alten Frau riecht es meistens auch nach 'alter Frau'. Aber hier ist es irgendwie anders."

"Es riecht doch verbrannt", erinnerte ihn der junge Polizist.

Saalfeld hob die rechte Hand und machte eine vage Bewegung. "Da ist noch was anderes."

Ein Blick ins Badezimmer brachte keine gesicherten Erkenntnisse. Das Kölnisch Wasser benutzte sicher die alte Dame. Und das Old Spice? Auch ein Relikt vom Verstorbenen? Saalfeld ließ es zunächst damit bewenden.

Ein letzter Blick auf den Brandherd erinnerte ihn daran, dass er nur das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung abwarten musste, ehe er die Überreste des Fidibus begutachten konnte.

*

Die Nachbarn kamen aus Griechenland, sprachen aber gut Deutsch. Die Frau war vom Aussehen her das Klischee einer Griechin: Schwarzes, welliges Haar, Höckernase und bogenförmig gewölbte Augenbrauen; und natürlich braune Augen. Sie strahlte überschäumende Herzlichkeit aus, erwies sich jedoch als schlechte Zeugin. Ihr Mann war es, der den Brandgeruch wahrgenommen und sofort die Feuerwehr verständigt hatte. Davor hätten sie aber alle nichts Verdächtiges gehört. Keine Schritte auf den hölzernen Bodenbrettern, keine Geräusche an der Tür von Frau Michelsen. Sie sei der Meinung, dass ihre Nachbarin eine Urlaubsreise oder einen Verwandtenbesuch macht. Seit ungefähr einer Woche habe sie sie nicht mehr gesehen. Über die Dauer ihrer Abwesenheit herrschte bei den Eheleuten aber schon Uneinigkeit. Ihr Mann meinte, sie sei schon über drei Wochen fort.

Saalfeld wies darauf hin, dass die Brandlegung nach einer Beziehungstat aussieht, ob sie eine Ahnung hätten, wer der alten Dame etwas Böses will. Dass sich die Tat speziell gegen ihre Nachbarin richten sollte, konnten sie sich allerdings überhaupt nicht vorstellen.

Von den älteren Leuten im Hause war ebenfalls nichts herauszubekommen. Niemand hatte vor dem Feuer auffällige Geräusche gehört oder verdächtige Beobachtungen gemacht. Die alte Dame habe nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren sehr zurückgezogen gelebt und zu keinem der Bewohner näheren Kontakt gehabt. Ein alter Mann mit kahlem Schädel vermutete, sie lebte inzwischen in einem Pflegeheim, eine andere Bewohnerin, sie wäre im Krankenhaus, wie schon vor ein paar Monaten einmal. Eine ältere Dame aus der Wohnung direkt unter Frau Michelsen habe einmal gehört, wie die betreffende Tür aufgeschlossen und ein, zwei Stunden später wieder ins Schloss gezogen wurde. Fast so, als hätte jemand nach dem Rechten gesehen.

Zwei Mietparteien trafen sie nicht an. Für solche Fälle war sein Alu-Koffer gut. Sein Einsatzkoffer. Alles war verfügbar. Saalfeld schrieb einen kleinen Aufruf, riss die Seite vom Block ab und pinnte sie im Parterre an die Korktafel. Sollte jemand über das Feuer oder Frau Michelsen etwas sagen können, möge er sich umgehend mit dem LKA 45 in Verbindung setzen.

Verbrennungen

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