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Kapitel 5: Samstag, 6. Juni
ОглавлениеWieder war Samstag. Außer in den Wintermonaten immer der Gartentag, es sei denn, dass heftiger Regen fiel. Doch die Großwetterlage war weit davon entfernt, Regenwolken zu produzieren. Der Himmel zeigte sich in strahlendem Blau. Die Hitze war in den Straßenschluchten von Ottensen gefangen, die Menschen von einem Großteil ihrer Textilien befreit. Er mochte den Anblick von jungen Frauen und Mädchen, wenn bei einem Minimum an Kleidung viel braun gebrannte, nackte Haut frei lag. Er selbst trug beigefarbene Cargo-Shorts und ein blau-weiß kariertes Hemd, das eigentlich viel zu warm war, aber seine T-Shirts befanden sich alle im Beutel mit der Schmutzwäsche. Auf dem Rücken trug er einen grauen Rucksack.
Er lehnte sein Fahrrad, das er die ganze Zeit neben sich her schob, an einen Laternenpfahl und sicherte es mit einem dicken Ringschloss. Im Imbiss neben Aldi verzehrte er eine Currywurst mit einer doppelten Portion Pommes Frites. Um 13 Uhr sollte er bei seinen Eltern im Schrebergarten sein. Das hier war die letzte Stärkung vor der schweißtreibenden Gartenarbeit, die er abzuleisten hatte, ehe es auf der Terrasse des Gartenhäuschens Kaffee und Kuchen gab.
Die Kleingartenkolonie lag hinter der Autobahn am Rande des Volksparks. Er fuhr mit seinem Fahrrad Richtung Bahrenfelder Steindamm und bog an der großen Kreuzung links in die Bahrenfelder Chaussee ein. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er in entgegengesetzter Richtung exakt die Strecke fuhr, die Marc-Leon vor einiger Zeit gefahren war; ...das letzte Mal in seinem kurzen Leben gefahren war. Und ein paar hundert Meter weiter - ja, genau hier, Lutherhöhe, - müsste er, wenn er von zu Hause aus losgeradelt war, herunter gekommen sein. Er kannte sich in dieser Gegend genau aus. Seit vier Jahren kam er beinahe regelmäßig diese Straßen entlang. Aber mit der Umgebung vom Schrebergarten war er inzwischen schon seit zwanzig Jahren vertraut. So war ihm klar, dass er die Kleingartenkolonie auch über die Lutherhöhe erreichen könnte, aber das hieße, gnadenlos der Sonne ausgesetzt sein und sich zweihundert Meter mehr abzustrampeln, als wenn er hinter der Autobahnbrücke in die August-Kirch-Straße abbog.
Auf der Autobahnbrücke hielt er für einen Moment inne. Er war ziemlich ins Schwitzen geraten. Seine rotbraunen Haare waren klitschnass, und auch im Bart hatten sich Schweißtropfen gesammelt. Er nahm den Rucksack in die Hand und wühlte die Dose mit dem Iso-Drink heraus, die er sich kurz vor der Abfahrt im Supermarkt gekauft hatte. Er ließ das kühle Nass voller Befriedigung in seine Kehle rinnen, während seine Augen wehmütig dem Verkehr auf der Fernstraße folgten. Viele Wohnmobile und Wohnwagengespanne, die nach Norden und Süden unterwegs waren. Es roch nach Urlaub.
Er sah auf seine Uhr.
Eine Armbanduhr mit golden schimmerndem Gehäuse und schwarzem Kunstlederarmband. Ein Geschenk von Tante Gudrun. Mutter achtete immer darauf, dass er sie nie umzubinden vergaß.
Er schwang sich auf den Sattel. 12.50 Uhr. Zeit, weiter zu radeln.
*
Mutter war dabei, den Rasen zu sprengen. Sie schaute nur kurz auf, als er die quietschende Gartenpforte aufstieß und das Fahrrad hindurch bugsierte. Selbst er wusste, wie töricht es war, in der größten Mittagshitze Wasser auszubringen.
"Hallo, Ulfilein", sagte sie zum Rasen, "Vati ist im Werkzeugschuppen." Ihr viel zu enges geblümtes Sommerkleid war im Achselbereich großflächig durchgeschwitzt.
Er stand ein paar Sekunden da, schaute sich um und atmete durch. Vaters Parzelle hatte ihn wieder! Dass er vor wenigen Minuten noch die vielen sonnenhungrigen Menschen mit Spielgerät, Bastmatten und Provianttaschen in den Volkspark strömen sah, schien einer grauen Vorzeit anzugehören. Diese Leute hatten immerhin die Wahl, sich einen Platz auf der Liegewiese oder zwischen hohen, Schatten spendenden Bäumen unweit des Imbisshäuschens zu suchen. Dahingegen war die Vegetation in der Kleingartenkolonie eher niedrig. Gerade so, wie Obstbäume zu wachsen vermögen. Schatten spendeten zumeist bunte Sonnenschirme oder kleine, offene Pavillons mit weißem Stoffdach.
Die Parzelle seiner Eltern lag an der Seite vom Schulgartenweg, der rechts von der August-Kirch-Straße abging. Das hellbraune Gartenhaus mit dem kleinen Schlafraum unter der Dachschräge kuschelte sich an eine übermannshohe Hecke. Auf der gegenüberliegenden Seite des Weges befand sich zwar schon der Waldrand, doch die hohen Bäume kamen ihnen nicht zugute; sie standen im Norden.
Ulf schob sein Fahrrad über den Gartenweg am Rosenbeet und dem üppig gewachsenen Zierstrauch vorbei. Auf der Rasenfläche, wo Mutter wässerte, stand früher ein alter Apfelbaum. Er hatte sein Fahrrad immer an den Stamm lehnen können. Im vergangenen Jahr hatten sie ihn gefällt, zersägt und das Wurzelwerk aus dem Erdreich entfernt.
"Kriegt Mama nicht einen kleinen Süßen?"
Ulf stockte. Adrenalin wurde ausgeschüttet. Automatisch schob er weiter und lehnte das Rad an die Hecke vor der Regentonne. Er spürte, wie die Umweltgeräusche leiser wurden, als die Worte seiner Mutter in ihm nachklangen. Sie hatte vorher noch nie 'Mama' gesagt, immer nur 'deine Mutter'. Irgendetwas war anders! Schon sonst wollte ihm nie recht klar werden, ob sie es ernst meinte, so wie sie es immer wieder sagte.
Aber 'Mama'!? Als versuchte sie, die Zeit zurückzudrehen und ihn wieder in ihr kleines Ulfilein zu verwandeln.
Wie lächerlich das war!
Trotzdem ging er zu ihr und hauchte ihr auf jede Wange einen flüchtigen Kuss. Ihr blondiertes Haar roch nach Bratfisch und hing strähnig auf die Schultern. Die Mundwinkel zeigten abwärts, weil seine Begrüßung nicht innig genug ausgefallen war.
"Richte dich auf was ein. Vati will die Hecke ausbuddeln."
"Wo mein Rad gegenlehnt?"
Als Mutter nickte, gerieten die Wellen ihres Doppelkinns in eine gegenläufige Bewegung.
Im Schuppenanbau rumpelte es. Ulf sah im Schatten der orangefarbenen Markise Tisch und Stühle aufgebaut. Eine dünne Vase stand in der Mitte, aus der eine langstielige Rose ragte.
"Warum soll die Hecke weg?"
Sein Vater trat heraus ins Tageslicht und stand ihm in grauen Shorts und einem weißen Feinripp-Unterhemd gegenüber. Im Vergleich zu seiner Mutter war er nur eine halbe Portion. Dünne weiße Beine mit schwarzer Behaarung, an denen die Kniegelenke wie große Knoten herausgebildet waren. Sein schmallippiger Mund bog sich nur ganz schwach zu einem Lächeln. Die Augen mit den buschigen Brauen blieben ernst. In den Händen hielt er ein Spatenblatt und einen Stiel aus hellem Holz, an dem noch der Strichcode klebte.
"Der alte Stiel ist abgebrochen", erklärte ihm sein Vater.
"Warum soll die Hecke denn weg?"
"Sieht doch spiddelig aus. Nicht gut gewachsen."
"War früher immer mein Versteck, wenn wir gespielt haben."
In einer ruckartigen Bewegung zuckte er mit den Schultern und fuhr fort, den neuen Stiel zu befestigen. Jetzt konnten sie mit zwei Spaten arbeiten.
Eine mühselige Aufgabe! Nah am Gartenhaus war der Boden hart und von Kies durchzogen, so dass sie beim Graben hier kaum in die Tiefe gelangten. Deswegen gingen sie das Gestrüpp vom anderen Ende an und höhlten das Erdreich bis unter das Wurzelgeflecht aus. Erster Kaffeeduft, der über die kleine Veranda zog, spornte Ulf zusätzlich an.
Er arbeitete mit freiem Oberkörper. Seinen Rücken überzog dichter, rotbrauner Haarwuchs. Trotzdem war zu sehen, wie sich auf der Haut ein glänzender Schweißfilm gebildet hatte.
Am Ende standen drei Stunden Plackerei, die ihm das Gefühl von Verbundenheit vermittelten. Aber auch, in denen sie meist schweigend gearbeitet hatten, so als stünde etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen. Ulf war es nicht gewohnt und hatte auch nie gelernt, nach elterlichen Gefühlen zu fragen oder dunkle Wolken wegzuwischen, die durch ängstliche und lethargische Schweigsamkeit entstanden waren.
Das Loch, das die Hecke hinterlassen hatte, war schon wieder mit lockerer dunkler Erde aufgefüllt. Ulf stach mit Schwung den Spaten hinein und trat einen Schritt zurück.
"Die Hecke muss noch zerkleinert werden." Vater klopfte mit einer Schaufel den Boden fest, richtete sich auf und stützte sich auf den Stiel. "Nach dem Kaffeetrinken?" Seine Augen alt und hoffnungsvoll.
Aber in Ulf kochte es hoch! Einer Explosion gleich das Bild, wie er den Spaten auf Vaters Schädel herab sausen ließ! Er konnte diesen plötzlichen Aggressionsschub nicht verhindern. Völlig unnötig war er, zumal er später ohnehin 'Ja' sagen würde. Dabei wäre ein einfaches 'Ich habe heute Abend noch etwas vor' viel aussagekräftiger gewesen.
Hätte ihm seine Mutter aber sicher nicht abgenommen. Als könnte sie seine Gedanken lesen, trat sie heran und steckte ihre Arme in die Taille. "Unser Ulfilein hat doch bestimmt nichts vor. Er wird dir gewiss noch zur Hand gehen."
Warum nur kam er in so kurzen Zeitabständen immer wieder zu ihnen in den Schrebergarten? Gartenarbeit war ihm ein Gräuel! Schon als er sieben oder acht war! Gab es überhaupt einen Tropfen Herzblut, der sein Hiersein begründete? Wie kam er dazu, ergeben zu nicken, anstatt seiner Mutter ins Gesicht zusagen: 'Was erdreistest du dich, die Zeit deines 28jährigen Sohnes zu verplanen?!' In anderen Familien herrschte zwischen den Alten und Jungen doch eine ganz andere Verbundenheit. Er kam einfach nicht dahinter, was ihr Verhältnis zueinander belastete.
Doch alle dunklen Wolken schienen verflogen, als sie gemeinsam am Kaffeetisch saßen. Es galt, einen Stachelbeer-Streuselkuchen und eine gute Portion Schlagsahne zu verzehren. Vier Stücke mussten für morgen übrig bleiben.
Ulf sah, dass auch einige Nachbarn beim Kaffeeklatsch waren, sah an zwei Stellen, wo der Gartengrill vorbereitet wurde, Rauchsäulen aufsteigen. Und: Wie Mutter ihn heimlich beobachtete. Als beurteilte sie seine Tischmanieren. Er ließ sich aber nichts anmerken.
"Schmeckt lecker", sagte er, wie sonst auch.
Mutter nickte befriedigt, und die Kinnwülste schwangen mit. "Genau so, wie wir auch früher zusammengesessen haben, weißt du noch?"
Ulf nickte kauend. Irgendwo bellte ein Hund.
"Da hat Oma immer den Kuchen gebacken."
Die Obstfüllung bestand aus eingemachten oder frisch aufgekochten Früchten. Stachelbeeren, Rhabarber oder Pflaumen. Manchmal auch Äpfel.
"Oma hat hier bei uns am Tisch gesessen und du konntest es nicht abwarten rumzustromern." Sie kicherte.
"Ist schon sehr lange her", wandte Ulf ein und wunderte sich, dass Mutter nicht über ihre Arbeit sprach und welche Sonderaktionen bei Aldi zu erwarten sind.
"Manchmal kommt es mir so vor, als wär's erst gestern gewesen. Nicht wahr, Hänschen?" Sie tätschelte die grauen Wangen ihres Mannes, der nur kurz aufsah und zu kauen fortfuhr. "Früher waren hier auch viel mehr Kinder in der Kolonie, mit denen du spielen konntest. Und heute?" Mutter sah sich ziellos um. "Nur noch die Alten."
Irgendwo fing jemand an, Rasen zu mähen. Woanders, schon länger zu hören, das Schnipp-Schnipp, wie wenn eine Hecke geschnitten wird.
Ulf sah den Nachbarn mit brauner Cordhose, gestreiftem Hemd und grauem Stoppelhaar um sein Gartenhaus herum schlurfen und eine grüne Plastikgießkanne aus seinem Schuppen holen.
"Kennst du eigentlich noch den Jungen, mit dem du dich immer am liebsten getroffen hast?"
"Meinst du Falko?"
"Genau. Und später kam auch noch dieses rothaarige Mädchen dazu. Mona hieß sie, glaube ich. So ein süßes Ding! Erinnerst du dich nicht?"
Ja, natürlich erinnerte er sich! Wenn das nicht überhaupt der Grund war, weswegen er immer und immer wieder hierher kam! Er hoffte sie durch Zufall wenigstens auf Entfernung sehen zu können. Im Laufe der Wochen und Monate hatte er den Wunsch nur vergessen. Außerdem konnte er nicht in Erfüllung gehen, weil er hier immer am Malochen war. Und jetzt rief ausgerechnet Mutter ihn wieder in Erinnerung! Sie hatte sich über ihn amüsiert, als er ihr vor Jahren eröffnete, wie sehr er Mona mochte! Deswegen ging er nicht weiter auf Mona ein.
"Wieso fragst du gerade jetzt nach Falko?"
"Ihr beiden ward doch ein Herz und eine Seele." Mutter lächelte süffisant. Und als er ihren Blick bemerkte, hatte er das Empfinden, als wäre Mutter im Begriff, eine bestimmte Tür zu öffnen. Die Tür in einen dunklen Raum. In etwas Düsteres, das vielleicht sogar seine Kinder- und Jugendfreundschaft mit Falko belastete.
Als er aufsah, war sie am Kauen. Vater stierte auf seinen Teller.
"Wir waren befreundet", sagte er, "wie man eben als Kind so befreundet ist."
"Ich habe gestern Abend nämlich Frau Brodersen getroffen." Falkos Mutter. "Sie hat sich ja so verändert, seit ich ihr das letzte Mal begegnet bin. Sie war ja auch eine ganze Zeit krank...." Sie erzählte Dinge, die Ulf nicht interessierten. Nebenher nahm er sein zweites Stück Kuchen in Angriff und verschwendete keinen Gedanken mehr daran, dass sich Mutter über ihn lustig machen wollte. "Falko war ja beruflich mehrere Jahre in Neuseeland."
"So?" Ulf hielt zu kauen inne. "Das hätte ich ja gar nicht gedacht!"
"Ja, Ulfilein, er hat einen richtig guten Beruf. Arbeitet für eine Reisegesellschaft, muss sich um die Urlauber kümmern, die in ihre Hotels wollen und so."
"Ob das nun ein guter Beruf ist?"
"Aber in Neuseeland. Demnächst vielleicht in einem anderen fernen Land." Seine Mutter nahm noch einmal Sahne nach, einen großen Löffel voll für ein viertel Stück. "Von so einem Job träumst du, Ulfilein, was?"
"Nein, tu ich nicht."
"Möchtest du nicht mal aus Deutschland raus?"
"Und ihr?"
"Wir haben hier unsere grüne Oase. Das genügt uns, was, Hänschen?"
Hänschen nickte ruckartig und verzog beim nächsten Atemzug das Gesicht. "Ich brauch was zum Verteilen." Er stand auf. "Kuchen zu süß, Sahne zu fett...."
Als ihr Mann im Gartenhaus verschwunden war, setzte Mutter einen Blick auf, als wollte sie ihn bemitleiden. Nachdem er alkoholbedingt mit dem Busfahren aufgehört hatte und in Frührente gegangen war, hatte er jeden Halt verloren. Keine Freunde, keine Interessen außer dem Garten, seinen Briefmarken und im Fernsehen dem Gute-Laune-Kanal. Glücklich konnte ihn das eigentlich nicht machen! Aber vielleicht ist er durch den Alkohol längst genügsam geworden.
Und er? Ulf? Wo waren seine Freunde? Bekannte? Mädchen? Er hatte sich in seinem Leben so sehr zurückgezogen, dass sein Herz zu rasen begann, wenn er nur an Falko und Mona dachte. Über zwölf Jahre war es her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten! Wie haben sie sich verändert? Was haben sie aus ihrem Leben gemacht. Sie waren bestimmt weiter als er! An einem ganz bestimmten Punkt war er nämlich stehen geblieben und er fand einfach nicht heraus, welcher Punkt das war. Das deprimierte ihn.
"Du hörst mir ja gar nicht zu, mein Ulfilein!"
"Entschuldige. Was hast du gesagt?"
"Wie lange es her ist, dass ihr euch das letzte Mal gesehen habt?"
"Weiß nicht. Zwölf Jahre?"
"Zwölf Jahre! Was für eine lange Zeit!" Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihren Mund. "Frau Brodersen hat mir Fotos von Falko gezeigt. Ich kann gar nicht glauben, wie der Junge sich rausgemacht hat! Wie ein junger Schauspieler sieht er heute aus. Aber auch früher war er ja schon ein Bild von einem Jungen. Hellblondes Haar und große dunkle Augen."
"So hör doch endlich auf!", fuhr Ulf seine Mutter an. Was interessierte sie sich mit einem Mal für seinen Kindheitsfreund!
Haufenweise Erinnerungen lagen plötzlich vor ihm, wie ein aufgelöster Knäuel Wollfaden. Er sah einzelne Bilder aber keine Zusammenhänge. "Warum?", fragte er in ihr erstauntes Gesicht hinein, "warum schwärmst du mir jetzt von Falko vor?"
"Herrjeh, Ulfilein. Ich mein' ja bloß." Ihr Blick richtete sich nach innen und schien nach etwas Bestimmtem zu suchen. "Ich hab' daran denken müssen, was ihr damals so alles angestellt habt, wie dicke ihr befreundet ward und plötzlich war's doch mal aus mit euch beiden."
Er fragte sich, weswegen er so übersteigert reagierte. Er kam aus diesem Teufelskreis aber nicht heraus. Sein Adrenalinspiegel musste astronomische Werte angenommen haben!
"Ich weiß nicht, Mutter, warum du so auf der Vergangenheit herumreitest?"
"Weil ihr über ein Jahr lang nicht mehr zusammen gespielt habt. Da muss doch irgendwas zwischen euch gestanden haben. Denk doch mal nach."
"Können wir über etwas anderes reden?" Ulf war es nicht klar, ob Mutter ihn provozieren wollte oder ob es ihr einfach Spaß machte, die alten Geschichten aufzuwärmen, so wie man ab und zu alte Fotoalben durchblätterte.
"Weißt du, Ulfilein", - der Kuchen war verzehrt und ihr Blick ließ befürchten, dass Mutter eine düstere Strategie vorbereitete - , "ich habe nach meiner Unterhaltung mit Frau Brodersen lange überlegt, und dann ist es mir tatsächlich wieder eingefallen....!"
"Warum bist du so, Mutter?" Ulf beschlich eine Ahnung, worauf sie hinaus wollte, obwohl er eigentlich nicht sicher war, ob seine Erinnerungen ihn trogen. Ob nicht vielleicht ein irregeleitetes Wunschdenken damit zu tun hat. "Grab doch nicht die alten Geschichten wieder aus. Du erinnerst dich, mich interessiert's nicht und dabei belassen wir's!"
"Man kann doch heute ganz offen darüber reden. Wie erwachsene Menschen."
Jetzt wusste er es: Sie schien einen abgöttischen Spaß dabei zu empfinden, ihn in die Enge zu treiben!
"Vielleicht sehe ich keinen Sinn darin."
"Andererseits - irgendwie war's 'ne lustige Geschichte."
Also doch Wirklichkeit?
"Lustige Geschichte? Und danach ein Jahr nicht miteinander gespielt?"
"Du weißt, wovon ich spreche?"
"Vielleicht willst du mir ja irgendwas einreden."
"Du scheinst manche Dinge, die dir unangenehm sind, gern zu verdrängen."
"Was für ein Unsinn!"
"Doch! Du verdrängst gerne, Ulfilein. Tust so, als wäre nichts gewesen und glaubst, nur geträumt zu haben."
"Gleich fahre ich wieder nach Hause!"
"Der kleine Junge aus der Griegstraße." Ein triumphales Leuchten in Mutters Augen.
Sein Herz schlug schneller und ein diffuses Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Gleichzeitig aber auch Wut. Sie bewirkte, dass ihm die Worte ausblieben. Mit Worten würde er sich nicht mehr verteidigen können!
"So ein süßer, braver Knirps. Gerade acht geworden."
Er sah ihn vor sich: Dunkelbraunes, volles Haar, karamellfarbene Haut und dunkle, traurige Augen.
"....und du warst neuneinhalb...."
Mutter hatte den Nachbarjungen eingeladen, mit in den Garten zu kommen, während Falko mit seinen Eltern verreist war.
"Doktorspiele oder was das gewesen sein soll!" Mutters Lachen kam wie aus einer anderen Welt. "Ich hör' ihn heute noch rufen: 'Deiner ist ja viel größer als meiner!'."
Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Traumbilder blähten sich auf dem Klang von Mutters Stimme auf. Nein! Die reale Vergangenheit durfte das nicht sein! Lucien und er, oben, im kleinen Schlafraum. Sie hatten gegenseitig Schultermassagen durchgeführt und ihre Körper erkundet.
Dann hatte Mutter den Kopf durch die Luke gesteckt! Sie waren so entrückt, dass sie sie nicht die Leiter hochkommen hörten. Und sie beide standen da mit nacktem Unterkörper
*
Sie hatte nicht geschimpft, war nicht entsetzt. Sie hatte auch damals, wie heute, gelacht. Sich über ihn lustig gemacht und Lucien tröstend in den Arm genommen.
Später musste sie es Falkos Mutter erzählt haben, weil sein Freund danach irgendwie anders war.
'Du bist nicht meine Mutter!', hatte er sie damals angeschrien. "Du kannst nicht meine Mutter sein!", hatte er heute aufgejault. Dann war er so abrupt vom Tisch aufgesprungen, dass ein Trinkbecher herunterfiel und ein Rest kalter Kaffee ins Erdreich floss. Er hatte seinen Rucksack an sich gerissen, der auf der Terrasse lag, sein Fahrrad ergriffen und die Parzelle verlassen, ohne sich noch einmal umzuwenden. Mutters Stimme, die irgendwas jammerte, hatte er kaum noch wahrgenommen.
Irgendeine Kraft brachte ihn dazu, in Richtung Parkplatz Schulgartenweg zu fahren. Er kam gegenüber der Zufahrt zur Schießanlage heraus und radelte weiter zum Ende der Sackgasse. Nach links ging es, zwischen Autobahn und Forst, in einen anderen Abschnitt der Kleingartenkolonie. Dort haben Monas Eltern ihre Parzelle, direkt am Waldrand. Aber er fuhr daran vorbei, war zu durcheinander, um hinzusehen. Ließ die Gärten hinter sich, fuhr in den Wald hinein bis zu der Bank, auf der er mit Mona früher ab und zu gesessen hatte. Am Rande eines Steilhangs, wo, gar nicht weit weg, das graue Band der Autobahn und die verschlungene Anschlussstelle Volkspark zu sehen war.
Er ließ sein Fahrrad ins Gras kippen und sackte auf der Bank zusammen. Die Bilder des Streits wie in einer Endlosschleife; Mutters Stimme, das, was sie sagte. Insbesondere das Warum nagte an seinem Gehirn. Mit ihrer Rückschau hatte sie ihn bis auf die Haut entblößt! Und sie hatte ihr Vergnügen bereitet. Dahineilende Gedanken, die ihm sagten, dass sie Macht über ihn ausübte. Wie schon immer, nur dass er bisher noch nicht hinter den Beweggrund gekommen war. Und das beunruhigte ihn.
Mit dem weiten Blick, der sich ihm auf die Wiese dort drunten und auf die fernen Häuser von Stellingen bot, setzte noch lange keine Entspannung ein. Die Wut war übermächtig. Sie schien sogar das Tageslicht zu vertreiben und die Dunkelheit magisch anzuziehen. Als die Nacht hereingebrochen war, fehlte ihm jede Erinnerung an das, woran er gedacht hat. Als wären seine Gedanken mit den Autos nach Norden und Süden geflogen, bis hin zu fernen Grenzen und darüber hinaus.
Ein letzter Blick auf das Lichtermeer, dann wandte er sich der Schwärze des Waldes zu. Er radelte hinein in die Dunkelheit, erreichte wieder die Kleingartenkolonie. Nur wenige Lauben waren erleuchtet, hier und dort Stimmen, wo ein gemütliches Beisammensein ausklang. In dem diffusen Licht musste er Obacht geben, dass er auf dem Weg blieb.
Jetzt zurück zur Laube seiner Eltern! Er hätte nicht übel Lust, sie einfach niederzubrennen! Das Holzhaus in Schutt und Asche legen, wo das mit Lucien passiert sein sollte. Den Ort der Schande aus Mutters Erinnerungen tilgen. Ihr jede Grundlage für weiteren Psychoterror entziehen! Doch würde er stattdessen nicht am nächsten Samstag wiederkommen? Mit anpacken oder einfach nur in der Sonne liegen?
Aber warum, um Himmels Willen, würde er das?
Konnte es vielleicht sein, dass er ohne Rückgrat auf die Welt gekommen war?
Warum war es ihm bisher nicht gelungen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, es selbst zu gestalten? Dann hätte es nie zu dieser peinlichen Situation kommen können.
Oh, wie wuchs in ihm plötzlich das Verlangen, den ganzen Unrat der Vergangenheit zu vernichten, sich von allem Negativen zu reinigen und gleich dabei das Dunkel seiner Zukunft zu erhellen! In seinem Rucksack führte er ja immer die notwendigen Utensilien dazu bei sich.
Dann tat er es wirklich!
Die Abfalltüten, die vor dem Vereinshaus im Schulgartenweg standen, setzte er als erstes in Brand.
Sie schwelten nur und qualmten. Schwarz in das Dunkel des Nachthimmels hinauf. Manchmal verschwand das Licht der Straßenbeleuchtung.
Er fuhr durch einen schmalen befestigten Verbindungsweg, der die Kolonie durchschnitt und gelangte in die Lutherhöhe. In der Nähe der Autobahnbrücke standen Altpapier-, Wertstoff- und Glascontainer. Nachdem ein Auto vorübergefahren und bis auf die Fahrgeräusche eine Etage tiefer alles ruhig war, entzündete er den Inhalt des Papiercontainers. Es ging ganz einfach. Und dieses Mal loderten die Flammen so hoch, wie er es haben wollte. Aus sicherer Entfernung konnte er zusehen, derweil das Feuer auf den Nachbarcontainer übergriff. Helle, bullernde Flammen und schwarzer Rauch aus verbrennendem Kunststoff.
Meterhoch.
Wie befreiend das war!