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Kapitel 4
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Verden
Von den Steilwänden des weiten Talgrunds klangen in der Abenddämmerung das leise Blöken der Schafe und das gelegentliche Meckern der Ziegen zu Julian herüber. Julian stocherte die Glut in der Feuergrube auf und stellte den Kessel auf das eiserne Gestell, um das Wasser darin zum Kochen zu bringen.
Sein Blick wanderte zu den Bäumen, die sich dunkel auf den Kanten der Felshänge abzeichneten. Ihre Wipfel glühten orangen im Sonnenuntergang, während sich im Talgrund langsam die Dunkelheit ausbreitete. Gedankenverloren gab er die getrockneten Erbsen in den Kessel und schnitt einige Streifen Trockenfleisch dazu.
Im Talgrund breitete sich bereits die Dämmerung aus und nach einem arbeitsreichen Tag war Julian froh, seine müden Glieder ausstrecken zu können. Trina lag neben ihm, den Kopf auf ihre Vorderpfoten gelegt und schien zu schlafen, doch ihre aufgestellten Ohren zeigten, dass sie wachsam die Umgebung beobachtet. Die anderen Hunde, acht an der Zahl befanden sich bei der Herde und wachten darüber, dass kein Raubtier der Herde zu nahe kam.
Trina war die einzige Überlebende aus dem Wurf von Jana im vorigen Jahr. An ihr hing Julians ganzes Herz. Er hatte in den langen Wintertagen und Nächten sehr viel Zeit im Stall bei ihrer Mutter und dem kranken und unterernährten Welpen verbracht.
Julians Gedanken schweifte in seiner Erinnerung zu den vergangenen Tagen zurück, in denen er es durch seine Hartnäckigkeit schaffte, seine Mutter zu überreden die Herde den Sommer über zu bewachen. Mindestens vier Monate würde er hier draußen in der Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Berge verbringen. Abgesehen von den gelegentlichen Besuchen seines Vaters, der nach dem rechten sehen wollte, so wie er es ihm versprochen hatte, oder einem Pelzjäger, der sich hierher verirrte.
Am Morgen seines sechzehnten Geburtstags nahm sich Julian ganz fest vor, seinen Vater darum zu bitten den Sommer mit der Herde verbringen zu dürfen. Julian wusste, dass sich sein Vater noch nicht entschieden hatte, wen er damit beauftragen wollte und es blieb ihm nicht mehr viel Zeit jemanden zu bestimmen.
Die Zeit des Auftriebs rückte immer näher. Das Aussortieren der unruhiger werdenden Tiere hatte vor zwei Tagen begonnen. Wie jedes Jahr wurden die Schafe nach der Schur unruhig. Sie fühlten, die Zeit nahen in der sie das frische Gras und die saftigen Kräuter der Hochweide genießen konnten, das ihnen den Winter über fehlte. Julian wusste, dass es nur noch wenige Tage dauerte, bis der Auftrieb begann.
Lange vor Sonnenaufgang verließen sein Vater und er den Hof, um den ersten Markt nach dem Winter in Elveen zu besuchen.
Elveen die nächste Stadt lag zwei Fahrstunden von ihrer Farm, südwestlich gelegen. Die Stadt galt als ein bedeutendes Handelszentrum. Hier gingen, der allseits beliebte und geschätzte Käse, die Wolle und die anderen landwirtschaftlichen Erzeugnisse bis in die Residenzstadt Gaurien. Von dort aus, so hatte sein Vater behauptet, verschiffte man sogar die Waren und verkaufte sie auf Tulan, einer Insel, die fernab vom Festland lag. Ruhig und gleichmäßig traben Lisa und Berta, die Wagenpferde auf dem ausgefahrenen Fahrweg vorwärts und nur das Knirschen der Räder drang durch die nachlassende Dämmerung. Julian, der auf dem Bock neben seinem Vater saß, beobachtete ihn von der Seite, dabei wartete er auf einen günstigen Augenblick, in dem er ihm seine Bitte vortragen konnte.
Dieser schien Julians Blicke zu fühlen, denn er wandte Julian sein Gesicht zu und fragte ihn. »Was hast du auf dem Herzen mein Junge?«
Die Frage seines Vaters kam überraschend für Julian. Er schüttelte verlegen den Kopf und starrte seine Zehenspitzen an, die er gegen den Wagenbock gestemmt hatte. Sein Vater ließ aber nicht locker. »Junge ich sehe es dir doch an der Nasenspitze an. »Was hast du auf dem Herzen mein Junge?« Sein Vater kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und musterte Julian aufmerksam.
Julian gab sich innerlich einen Ruck. Wenn er jetzt die Gelegenheit nicht beim Schopf packte, blieb ihm sein großer Traum versagt. »Ich will diesen Sommer die Herde auf die Sommerweide begleiten und bei ihr bleiben, bis sie wieder abgetrieben wird,« platzte es aus Julian heraus.
Ein verlegenes Lächeln huscht über sein Gesicht, als er beobachtete, wie es in den Augen seines Vaters zufrieden aufblitzte. »Darüber hab ich auch schon nachgedacht mein Junge,« sagte sein Vater und ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen, ehe er weiter sprach.
»Ich hatte denselben Gedanken, denn Will wird dieses Jahr auf der Farm gebraucht. Ich will in einigen Wochen mit einem größeren Teil der Herde nach Stelveen, wo ich einen besseren Preis für die Tiere bekomme. Hier in Elveen muss ich nehmen was mir die Händler geben, aber in Stelveen bestimme ich den Preis. Will ist ein erfahrener Helfer und mir wäre es lieber, wenn er mich begleiten würde. Mal sehen, wie du dich bis dahin auf der Sommerweide anstellst. Ich komme nachsehen, sobald ich zurück bin und wenn ich alles zu meiner Zufriedenheit vorfinde, kannst du den Sommer über bleiben. Was hältst du von dem Vorschlag Julian?«
Julians Augen fingen an zu glänzen und er rutschte aufgeregt auf dem Bock umher. Nie im Leben hätte er gedacht, dass sein Vater zustimmen würde, obwohl er sicher noch nicht mit Mutter darüber gesprochen hatte. Sofort legte sich ein Schatten über Julians Miene.
»Was wird Mutter dazu sagen, sicher ist sie dagegen. Vater kannst du dich noch erinnern, wie Mutter voriges Jahr sich dagegen sträubte, als ich mit Will den Sommer bei der Herde verbringen wollte.«
Sein Vater blickte versonnen auf seine Hände, die die Zügel hielten, als er antwortet. »Ja ich erinnere mich, Sie war der Ansicht, dass du noch zu jung für die Hochweide bist. Ich werde aber trotzdem mit ihr reden, vielleicht kann ich sie überzeugen.«
Den Rest der Fahrt nach Elveen saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander auf dem Bock des Wagens. Julian sah schon von Weitem die Türme der Stadt die wie spitze Finger in den Himmel ragten. Er sah die mächtige Stadtmauer mit ihren Zinnen und den Wehrtürmen, welche mit bunten Fahnen besetzt waren und anzeigten, dass heute der große Markt stattfand.
Durch das nördliche Stadttor, vorbei an den Wachen, steuerte sein Vater den Wagen durch die engen Gassen auf die Stadtmitte zu. Hier auf dem freien Platz gleich gegenüber dem Rathaus fand wie alle Jahre der Frühjahrsmarkt statt. Schon weit vor dem Marktplatz verstopften die Karren der Händler und Bauern die Straße und sie kamen nur langsam voran. Als sie sich beim Dorfbüttel meldeten und die Standgebühr bezahlten, wies ihnen eine der Stadtwachen einen freien Platz zu. Eilig luden Julian und sein Vater den Wagen ab, errichteten ihren Stand, der aus einfachen Brettern bestand die über zwei leere Fässer gelegt waren.
Julian fiel der hochgewachsene Mann auf, der neben ihrem Stand zwei schwere Arbeitspferde und ein schlankes Pony an den dafür vorgesehenen Eisenringen anband und seinem Vater und ihm grüßend zunickte.
Gekleidet war der Mann in eine alte speckige Wildlederhose, die von Stiefeln die bis ans Knie reichten umschlossen waren und einem einfarbigen beigefarbenen Baumwollhemd, dessen Ärmel er hochgestrickt hatte. Sein braunes Haar wuchs dicht und lag auf den Schultern auf. Am meisten fielen Julian die wasserblauen Augen auf, die jeden auf dem Marktplatz zu beobachten schienen. Der schmallippige Mud verzog sich bei der Begrüßung zu einem Lächeln und zeigte zwei Reihen schneeweißer Zähne.
»Wer ist der Mann,« fragte Julian seinen Vater, der gerade einen Sack Trockenfleisch vom Wagen hob. Sein Vater sah zu dem Mann hinüber und meinte.
»Das ist Gandulf. Ihm gehört die Farm weiter östlich nahe bei den Hügeln. Mich wundert, dass er heute überhaupt hier ist, es ist das erste Mal, dass ich ihn auf dem Frühjahrsmarkt sehe. Er gilt als menschenscheu und Sonderling, aber er züchtet hervorragende Pferde.« Julian sah noch einmal hinüber zu dem Mann, dann lenkte seine Neugier ein Fallensteller ab, der sich mit Trockenfleisch und Käse eindecken wollte. Julian wollte das Geschäft seinen Vater abwickeln lassen, als dieser ihm aufmunternd zuredete. »Nun mach schon mein Junge, einmal musst du ja damit anfangen die Waren zu verkaufen, also warum nicht jetzt? Ich gehe inzwischen zum Schmied und lasse die Pferde beschlagen. Mach mir keine Schande und verlange nicht zu wenig.«
Mit diesen Worten führte sein Vater die Pferde am Zügel vom Marktplatz, an dessen Rande die Schmiede von Roland stand.
Julian, der nicht das erste Mal seinen Vater auf den Markt begleitete, hatte von ihm viel gelernt und kannte sich im Handeln und Feilschen aus. Nur heute musste Julian seine Nervosität besiegen, denn er verkaufte zum ersten Mal ganz alleine. Nach langem Feilschen schloss er das Geschäft mit dem Fallensteller zu seiner Zufriedenheit ab und wie er glaubte auch zu der seines Vaters.
Mehr und mehr Käufer strömten auf den Markt. Die Luft war erfüllt von den Rufen der Händler, die ihre Waren anpriesen und von den Käufern, die lauthals um den Preis feilschten. Sein Vater war nun schon seit Stunden beim Schmied. Julian fragte sich, ob es nicht Absicht von seinem Vater war, damit er beweisen konnte, den Aufgaben gewachsen zu sein, die man ihm stellte.
Endlich, als Julian fast den gesamten Bestand verkauft hatte, sah er seinen Vater mit den Pferden am Zügel zurückkommen. In der anderen Hand hielt er einen länglichen Gegenstand in einen Lumpen eingewickelt.
Stolz erfüllte das Gesicht seines Vaters, als er die fast leere Ladefläche des Wagens und den prall gefüllten Beutel mit Münzen sah. Mit einer geübten Bewegung befestigte sein Vater die Zügel am Wagen. »Ich bin stolz auf dich mein Junge, das hast du gut gemacht. Hier habe ich etwas für dich mitgebracht,« sagte sein Vater geheimnisvoll und hielt Julian den eingewickelten Gegenstand hin.
Julian strahlte über das ganze Gesicht, denn das Lob seines Vaters erfüllte ihn mit Stolz. »Danke Vater,« sagte er aufgeregt und wickelte den Gegenstand aus dem Stoff. Mit großen Augen betrachtete er das Jagdmesser, das sich darin befand. »Gehört das mir?,« fragte er ungläubig.
Das Messer hatte eine lange blank polierte Klinge mit einem Handschutz. Er sollte das Abgleiten in die Klinge verhinderte. Der Griff war aus feinstem dunkelrotem Kirschholz gefertigt. Sein Vater nickte lachend. »Aber sicher mein Junge, du bist jetzt ein Mann und als solcher darfst du ein Messer tragen.«
Julian strich mit den Fingern über die breite glänzende Klinge und hielt plötzlich mitten in der Bewegung an.
Was würde Mutter dazu sagen? Sie war jeder Art von Waffen abgeneigt und das Messer mit der langen Klinge würde sie bestimmt nicht als Jagdmesser bezeichnen, sondern als Waffe.
»Hier hab ich noch etwas für dich,« fuhr sein Vater fort und kramte in seinen Hosentaschen. Nach einiger Zeit brachte er eine silbern glänzende Münze zum Vorschein, die an einem Lederband befestigt war.
»Das wird dein Glücksbringer sein, wenn du in diesem Sommer alleine auf die Herde aufpassen wirst. Mein Vater schenkte mir zu meinem ersten Auftrieb ein neues Paar Stiefel.« Julians Herz hüpfte fast aus seiner Brust bei diesen Worten.
Wie oft hatte er seinen Vater in den vergangenen Jahren gebettelt, alleine auf der Weide bleiben zu dürfen. Er wurde aber jedes Mal auf ein andermal vertröstet und nach Hause geschickt. Julian konnte sein Glück nicht fassen, zumal sein Vater es ernst zu meinen schien.
»Lass uns nach Hause fahren,« schlug sein Vater vor, nachdem er sich auf dem Marktplatz umgesehen hatte. Nur noch wenige mögliche Kunden streiften umher auf der Suche nach billiger Ware. Der Pferdehändler von nebenan war schon lange verschwunden, wie Julian feststellte und so machten auch sie sich auf den Weg nach Hause.
Auf dem Heimweg sprachen sie lange über das Vorhaben, und als Julian meinte, »ich glaube nicht, dass Mutter zustimmen wird,« entgegnete sein Vater ruhig.
»Sie wird einverstanden sein mein Junge. Wir werden darüber mit deiner Mutter reden und ich glaube ich kann sie am Ende überzeugen.«
Nach fast zwei Stunden Fahrt tauchte der Hof hinter einer Bodenwelle vor ihnen auf. Julian konnte es gar nicht erwarten, seinen Geschwistern die Neuigkeit zu erzählen. Als sie auf dem Hof einfuhren, liefen ihm schon sein drei Jahre jüngerer Bruder Arthur und seine jüngere Schwester Inga aufgeregt entgegen. Marian hielt sich wahrscheinlich bei Mutter in der Küche auf, da sie erst zwei Jahre alt war. Julian vertröstete seine Geschwister auf später, wo er die Fragen beantworten wollte, die sie ihm stellten. »Später nach dem Abendessen könnt ihr mich fragen so viel ihr wollt, aber zuerst muss ich Vater helfen,« vertröstete er sie auf später.
Julian spannte vor dem Stall die Pferde aus und schob gemeinsam mit seinem Vater den Wagen in die Remise. Anschließend brachte er noch die Pferde in den Stall, danach ging er mit seinen Geschwistern ins Haus. Julians Mutter hatte für sie schon das Abendessen auf den Tisch gestellt. Die Familie machte sich nach einem langen Tag hungrig und mit großem Appetit darüber her. Nach dem Abendessen schickten seine Eltern die jüngeren Geschwister ins Bett, um über Julians Aufgabe in diesem Sommer zu reden.
Julians Mutter, die seine aufgekratzte Stimmung bemerkte, schien, noch bevor sein Vater zu sprechen anfing zu wissen, worum es ging.
»Ich hab mich entschieden,« fing Vater bedächtig zu sprechen an, »Julian wird anstatt Will auf die Hochweide gehen, ich hab´s ihm versprochen.«
»Das kann nicht dein Ernst sein, der Junge ist gerade sechzehn geworden und du behandelst ihn wie einen Erwachsenen. Er ist den Strapazen, die ein Sommer auf der Weide mit sich bringt, noch nicht gewachsen. Weshalb hast du es ihm versprochen? ...,« brauste seine Mutter, wie von Julian befürchtet auf.
Er hörte die raue Stimme seines Vaters, die seiner Frau antwortete. »Ich war vierzehn, als mich mein Vater das erste Mal auf die Sommerweide schickte und ich bin gut zurechtgekommen. Julian wird es auch schaffen, verlass dich drauf, oder willst du, dass er auf den Viehtrieb nach Stelen dabei ist. Das ist auch nicht ganz ungefährlich. Denk nur an den Strom, den wir überqueren müssen. Auf der Weide ist es sicherer für Julian, als bei einem Viehtrieb der über Wochen hinweggeht. Die Strapazen, die auf Julian zukämen, sind wesentlich größer als in den Hügeln bei der Herde. Er kann hervorragend mit dem Bogen umgehen und er hat seine Hunde dabei, die keinen Bären oder Wolf in die Nähe der Herde lassen. Warum willst du ihn nicht gehen lassen? Er ist erwachsen genug, um zurechtzukommen.«
Der sorgenvolle Gesichtsausdruck seiner Mutter, dämpfte Julians Stimmung, aber als sie schließlich doch zustimmte, überschlug er sich fast vor Freude. Doch vorher nahm sie seinem Vater das Versprechen ab, sobald er von seiner Reise heimkehrte sofort in die Hügel zu gehen, um nach Julian zu sehen.
»Und du mein Junge versprichst mir besonders auf dich aufzupassen, und keine unnötigen Risiken einzugehen. Versprich es mir,« forderte sie ernst von Julian.
»Bitte Mutter, wenn es dich beruhigt. Ich verspreche, mich genau an die Anweisungen von Vater zu halten. Ich werde kein unnötiges Risiko einzugehen …… versprochen,« beteuerte er, dabei legte Julian seine rechte Hand auf die Herzseite seiner Brust, was einem Schwur gleichkam.
Die kommenden Tage waren angefüllt mit den Vorbereitungen, die für den Auftrieb zur Sommerweide getroffen werden mussten. Die jungen Schafe und Ziegen, die den Sommer auf der höher gelegenen Weide verbringen sollten, mussten aussortiert und gezählt werden. Julian kroch des Abends erschöpft und hundemüde von der kräfteraubenden Tätigkeit in sein Bett, wo er augenblicklich tief und traumlos schlief.
Der Tag auf den Julian fieberhaft gewartet hatte brach endlich an. Der Pferch mit den Tieren lag noch im Dunst des Morgennebels, der sich aber sicher im Laufe des Morgens auflösen würde. Julian fand nach kurzem Suchen den Leithammel, den er an einem Strick um den Hals aus dem Gatter führte. Erwartungsvoll folgte ihm seine Herde. Die meisten der älteren Tiere kannten die Sommerweide, nur die jüngeren zögerten noch, sich ihm anzuschließen. Endlich war es so weit und noch vor Sonnenaufgang brachen sein Vater, Arthur und der Knecht Will mit der Herde zu den Hochweiden auf.
Begleitet wurde Julian von Trina der jungen Hirtenhündin. Die anderen Hunde, die Julian in den kommenden Monaten halfen, würden Bären und Wölfe von der Herde fern halten. Sie liefen in freudiger Erwartung um die Herde und trieben sie gemächlich auf die Hügel zu. Auch sie waren froh endlich wieder die Bewegung zu genießen, die sie in den langen Wintermonaten vermissten.
Diese Hunde wurden eigens zu diesem Zweck gezüchtet und waren genauso wertvoll wie jedes andere Tier der Herde. Schon als Welpen wuchsen sie bei den Schafen auf und betrachteten sie naturgemäß als ihr Rudel, das sie gegen jeden Feind verteidigten. Egal ob Wolf oder Bär, die Hunde kämpften, gegen jeden der versuchte, ein Tier zu reißen. Sie waren wachsam und so hielten sich die Verluste das ganze Jahr über in Grenzen. Selbst wenn die Wölfe in besonders strengen Wintern bis ins Tal und vor ihren Hof kamen.
Trina die junge Hündin nahm eine besondere Stelle in Julians Herzen ein. Den ganzen Winter über galt es als nicht sicher, dass sie überleben würde. So hatte sich das Band zwischen Trina und Julian, der sie mit der Flasche aufzog, besonders eng gezogen. Julian nahm sich vor, Trina zu einer ebenso guten Hüterin auszubilden wie es die acht anderen Hunde waren, die ihn begleiteten.
Julian schätzte sich glücklich, den Sommer alleine mit der Herde verbringen zu dürfen, aber es mischte sich auch ein wenig Besorgnis in seine Gedanken.
*War er alleine auf sich gestellt den Widrigkeiten der Natur, und der Verantwortung die auf ihm lastete gewachsen? Sein Vater schien ihm zu vertrauen und er nahm sich vor, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen.*
Langsam näherte sich die Herde dem engen Eingang zu den Hügeln. Der Weg führte vorbei an steilen Hängen und wurde zunehmend schmaler, sodass sich die Herde auseinanderzog. Dies war der gefährlichste Abschnitt auf ihrem Weg.
Die Hunde konnten die Schafe und Ziegen nicht richtig zusammenzuhalten. Sie versuchten ständig auf die steilen Hänge auszuweichen, was für die Hunde anstrengende Arbeit bedeutete, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
Auf diesem Teilabschnitt kam es öfter vor, dass im dichten Unterholz Wölfe und andere Raubtiere im Hinterhalt lagen, die einem unvorsichtigen Schaf oder einer Ziege auflauerten. Julian suchte besonders sorgfältig das Gelände nach solchen Räubern ab.
Er atmete erleichtert auf, als sich der enge Weg zu einem Tal erweiterte und ihnen ein Gatter den Weg versperrte. Sie waren am Ziel. Hier erstreckte sich eine weitläufige Einsenkung, zu der nur dieser Weg führte. Es gab keinen anderen Ausgang. Zu beiden Seiten erhoben sich steile dicht bewaldete Hänge, die sogar von den Schafen gemieden wurden und auf denen sich nur die Ziegen wohlfühlten. Es gab jedoch im Talboden genügend saftiges Gras, sodass sie es nicht für nötig fanden, Klettertouren zu unternehmen.
Der kleine Bach, der quer durch das Tal floss, lieferte ausreichend Wasser. Selbst an den heißesten Tagen gab er genügen Wasser ab, das von den Hügeln herabkam. Ein idealer Flecken Erde um den Sommer über die Tiere hier zu halten. Julian, der mit dem Leithammel vorne ging, öffnete das Gatter und ließ ihn frei. Sofort folgte blökend die restliche Herde und verteilte sich auf dem von einzelnen Ahornbäumen bestandenen Talgrund.
Julian wartete auf seinen Vater und seinen Bruder, der mit Will dem Knecht die Ziegen durch das Gatter trieb, und verschloss dasselbe sorgfältig. So wie er es die Jahre zuvor von seinem Vater gelernt hatte.
Unter einer Ansammlung von Ahornbäumen, die etwas seitlich standen, duckte sich eine Hütte aus roh bearbeiteten Bohlen. In ihr fand Julian den Sommer über Schutz vor den Unbilden der Natur und war mit allem ausgestattet, was man hier draußen benötigte. Ein Bett, ein kleiner Ofen und einen in die Erde eingelassenen Lagerraum, in dem er die Vorräte unterbringen konnte.
Den Rest des Tages verbrachten sein Vater, Arthur und Will damit Julian zu helfen sich einzurichten. Arthur lief ein wenig bedrückt und traurig herum und als ihn Julian fragte was er denn habe, gestand ihm sein Bruder.
»Ich möchte bei dir bleiben. Kannst du nicht mit Vater reden, ob wir zwei nicht auf die Herde aufpassen können. Ich kann dir helfen, ich habe viel gelernt.«
»Daraus wird nichts Arthur,« vernahmen sie die Stimme ihres Vaters, der die Frage gehört hatte, »ich brauche dich auf dem Hof. Vielleicht ist es im nächsten Jahr so weit, dass du Julian begleiten kannst.«
Nach einem bescheidenen Abendessen legten sich alle zur Ruhe und schliefen, und früh am nächsten Morgen brach sein Vater mit Artur und Will wieder auf. Julian winkte ihnen noch lange nach, bis sie hinter dem Gatter aus seinem Sichtfeld verschwanden. Nun war er ganz auf sich alleine gestellt. Sogleich machte er sich an die Arbeit und versuchte das komische Gefühl der Einsamkeit, das sich auf einmal breitmachte, zu ignorieren.
Die ersten Tage verbrachte Julian damit, die Herde aufzuteilen. Er sonderte die Jungtiere aus und trieb sie in einen eigens dafür aufgestellten Wanderpferch. So hatten die Jungtiere ihre Ruhe vor den Reibereien unter den Alttieren, die zur Schafbrunft üblich waren. Nebenbei kümmerte er sich um die Erziehung von Trina, die ihm nicht von der Seite wich. Selbst Viktor der Leithund brachte sie nicht dazu, sich dem Rudel anzuschließen, obwohl er sie mehrmals energisch dazu aufforderte.
Julian musste grinsen, als Trina so vor ihm lag und ihn aus ihren klugen Augen fixierte. »Was ist Trina, kommst du mit, die aufgestellten Fallen kontrollieren,« fragte er scherzhaft.
Schwanzwedelnd erhob sich Trina und folgte Julian auf den Talboden hinaus. Er hatte tags zuvor Kaninchenbaue in den Hängen entdeckt und kunstvoll Schlingen ausgelegt, so wie er es von seinem Vater gelernt hatte. Diese Schlingen wollte Julian bevor die Dämmerung herein brach kontrollieren. Wenn sich heute in einer der Fallen ein Kaninchen befand, gab es am Abend einen saftigen Braten.
Es begann schon zu dunkeln, als Julian enttäuscht von seiner Besichtigung der Fallen an die Hütte zurückkam. In einer kleinen Grube entfachte er ein bescheidenes Kochfeuer. Er holte den Kessel aus der Hütte, schüttete Wasser auf und warf ein wenig Gemüse und einige Streifen Trockenfleisch hinein. Während er wartete, dass das Gemüse und das Fleisch weich wurden, schnitt er sich eine Scheibe Brot ab und kaute verdrossen darauf herum.
Das warnenden Knurren Trinas riss Julian aus seinen Gedanken. »Was ist Trina,« fragte Julian und richtete sich dabei etwas auf, um den Talgrund besser übersehen zu können, aber es gab nichts, was ihn beunruhigte. Trina stieß ein erneutes Knurren aus.
»Was ist, hast du Wölfe gerochen?« Julian konnte sich das Verhalten Trinas nicht erklären, zumal die anderen Hunde keinen Laut von sich gaben, der auf eine Gefahr hinwies. Vorsichtshalber ging Julian in die Hütte und holte seinen Bogen mit dem Köcher, um für eine eventuelle Gefahr gerüstet zu sein.
In der Zwischenzeit erhob sich Trina und starrte angespannt in die hereinbrechende Dunkelheit. Zurück bei der Hündin, konnte Julian nun auch das hohe feine Sirren das die Luft erfüllte hören und beunruhigt starrte er ebenfalls in die hereinbrechende Nacht.
Vor Julian, etwa zwanzig Schritte entfernt, geriet die Dunkelheit in Bewegung. Sie schien sich schnell im Kreis zu drehen, zur Mitte hin heller zu werden und anzuwachsen. Nun ertönte vom Talgrund das beunruhigte Jaulen der Hunde herüber, in das sich das verstörte Blöken der Schafe mischte. Ohne es zu bemerken, legte Julian einen Pfeil auf die Sehne des Bogens und spannte sie leicht an.
Plötzlich erschien über dem Gras ein gleißendes Licht, das seinen Durchmesser rasant vergrößerte. Das leise Sirren veränderte sich zu einem tiefen Brummen, während grelle Blitze in einem Strahlenkranz nach allen Seiten zuckten, die die Dunkelheit erhellten.
*Ein Kugelblitz,* schoss es Julian im ersten Augenblick mit Schrecken durch den Sinn. Er kannte die Urgewalt dieser Naturerscheinung. Er hatte einmal zugesehen, wie einer dieser Blitze einen Heuschober in unmittelbarer Nähe ihres Hofes dem Erdboden gleichmachte.
Zudem erzählten sich die Leute die schauerlichsten Geschichten über dieses bösartige und unberechenbare Phänomen, doch das hier sah nicht danach aus. Was war es dann?
Wie gebannt stand er da und starrte bewegungslos auf die Erscheinung. Sie faszinierte ihn irgendwie, aber gleichzeitig fürchtete er sich auch vor ihr. Rasch wuchs die Erscheinung weiter, bis sie ihre volle Größe erreicht zu haben schien, und drehte sich nun gemächlich langsamer weiter.
Plötzlich erstarrte jede Bewegung in dem Luftbild. Der tiefe Brummton verebbte und Julian hörte nur noch das leise Knistern der Blitze, die gelegentlich die Nacht erhellten und einen Geruch nach verbrannter Luft hinterließen.
Noch während Julian auf die Erscheinung starrte, zog sich das gleißende Licht zusammen und erlosch mit einem lauten Knall, der in seinen Ohren dröhnte. Julian blieb abwartend in einiger Entfernung stehen. *Kam die Erscheinung zurück,* fragte er sich besorgt, denn er hatte nicht die leiseste Ahnung, was sich da soeben vor seinen Augen abgespielt hatte.
Schwach und undeutlich erkannte er einen hellen Fleck, der im Gras zurückgeblieben war. Abwartend blieb Julian stehen und starrte zu dem Klecks hinüber der einfach nicht verschwinden wollte.
*Narrten ihn vielleicht seine Augen, die von der gleißenden Lichterscheinung noch geblendet waren? *
Julian ließ einige Zeit verstreichen, und als sich der Fleck nicht auflöste, beschloss er ihn sich näher anzusehen. Bedächtig setzte sich Julian in Bewegung. Trina wich ihm nicht von der Seite, ihren Blick starr vorausgerichtet, während sie die Lefzen hochgezogen hatte und leise knurrte. Je näher er kam, um so deutlicher erkannte er eine zierliche Gestalt mit blasser fast durchscheinender Haut und langen weißem Haar, die regungslos im Gras lag.
Julian ging vor der Gestalt in die Hocke. Zögernd näherten sich seine Finger dem weißen langen Haaren die das Gesicht verdeckten und strich es vorsichtig zur Seite.
Erschrocken wich Julian einen Schritt zurück, als sein Blick auf das blasse Gesicht eines Mädchens in seinem Alter fiel. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Augen, mit den schwarzen Augenbrauen und Wimpern fest geschlossen. Hatte sie das Inferno, aus dem sie kam, überlebt?
Julian beugte sich zu dem Gesicht des Mädchens herab, bis seine Wange fast ihren Mund berührte. Ein leichter zarter Windhauch streifte seine Wangen in regelmäßigen Abständen. Sie lebte aber sie war ohne Bewusstsein.
Plötzlich drängte sich Trina ungestüm dazwischen und leckte mit ihrer weichen Zunge über das Gesicht des Mädchens. »Trina nein aus,« befahl Julian, doch die junge Hündin ließ sich nicht abbringen. Julian packte Trina am Nackenfell und wollte sie zurückhalten, als sich flackernd die Augenlider des Mädchens öffneten und sie mit benommenem Blick die Hündin wahrnahm. Ein spitzer Aufschrei entwich dem Mund des Mädchens, das sich zusammenkrümmte und nach der Hündin zu treten versuchte. »Komm da weg Trina, du erschreckst das Mädchen,« rief Julian erschrocken über die Reaktion und zerrte die sich sträubende Hündin von ihr weg. »Trina tut dir nichts,« versuchte er das Mädchen zu beruhigen. In dessen Augen spiegelte sich blanke Panik wider und verschwand auch nicht, als Julian die Hündin zurückdrängte und sie fest am Nachenhaar gepackt hielt.
Er wusste nicht, ob das Mädchen ihn verstand, aber er hoffte der Ton seiner Stimme würde dazu beitragen.
Flatternd bewegten sich die Augenlider des Mädchens, wobei ihr angstvoller Blick auf Trina gerichtet war. Verwirrt kam es bebend aus ihrem Mund. »Wo bin ich, bist du ein Jäger?«
Ihre indigoblauen Augen sahen Julian verzweifelt und furchtsam an. »Jäger,« echote Julian und verstand nicht sogleich, was das Mädchen damit meinte.
»Nein ich bin Julian, ich hüte den Sommer über die Herde meines Vaters. Vor mir musst du keine Angst haben,« fügte er hinzu, denn er bemerkte sehr wohl den gehetzten angsterfüllten Blick des Mädchens.
Jählings verdrehte das Mädchen die Augen und ihr Kopf fiel schlaff zur Seite. Julian erkannte, dass das Mädchen wieder ohnmächtig war, daher schien es ihm das Beste zu sein sie in seine Hütte zu bringen. Dort legte er die Bewusstlose auf sein schmales Bett und bedeckte ihre Nacktheit mit einer Wolldecke.
Trina, die sich nicht abhalten ließ, folgte Julian und bezog aufrecht auf den Hinterbeinen sitzend, Stellung neben dem Bett. Ihr Blick wich nicht mehr von der Fremden, die sie unentwegt fixierte. Julian entzündete das Talglicht auf dem schmalen Tisch und rückte den Tisch näher an das Bett, um das Mädchen in aller Ruhe zu betrachten. Er zog den Hocker näher heran und setzte sich darauf.
Trina starrte unbeweglich auf das Mädchen. Nur gelegentlich fuhr ihre Zunge über die Schnauze, so als peinige sie eine innere Unruhe.
*Was bewegt Trina,* fragte sich Julian und wunderte sich über das seltsame Verhalten seiner Hündin. Die ansonsten so spielerisch veranlagte Trina, wirkte plötzlich ernst und konzentriert, so als bewache sie das Mädchen vor möglichen Gefahren.
Nachdenklich sah Julian zu dem Mädchen auf dem Bett. So viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, die nur sie beantworten konnte. Von wo und wie kam sie hier her. Aus welchem Teil von Verden kam sie. Julian wusste aus den Erzählungen seines Vaters, dass es viele verschieden aussehende Menschen gab. Aber aus welcher Region das Mädchen stammen konnte, wusste er nicht.
Vielleicht stammte sie aus dem viele Monatsreisen entfernten Land Polaria. Die Menschen von dort, so erzählte es sein Vater, besaßen die hellste Hautfarbe von allen Menschen, die Verden bevölkerten. In diesem Land, so erzählte man sich ginge die Sonne nie unter. Doch es musste ein unwirtliches Land sein, in dem das ganze Jahr über Winter herrschte. Es gab viele Gerüchte über dieses geheimnisvolle Land, das bis jetzt nur wenige betreten hatten und wieder heil zurück gekommen sind.
Das erklärt noch lange nicht, wie sie in diesen Teil der Welt gekommen sein mochte, noch dazu ohne jedes Kleidungsstück. Geschah es durch Magie, so wie in den Geschichten, die ihre Mutter so oft erzählte, in denen es nur so von Zauberern und Magier wimmelte? Julian glaubte eigentlich für solche Geschichten zu alt zu sein, um daran zu glauben, aber wie anders erklärte man das Auftauchen des Mädchens.
Julian beugte sich etwas nach vorne und strich das Haar aus dem Gesicht des Mädchens, das wie ein Vorhang davor gefallen war. Sofort fiel ihm das rötliche Mal auf, das die Größe einer Münze hatte. Was hatte das zu bedeuten?
Julian wusste nicht, wie lange er so dasaß und auf das wunderschöne rätselhafte Mädchen gestarrt hatte. Er bemerkte nicht, wie die hoch aufgestellten Ohren Trina sich in alle Richtungen drehten und sie leise warnend zu Knurren anfing. Als Julian auf ihre Warnung nicht reagierte, stand Trina auf und schlich lautlos zum Eingang der Hütte.
Das leise Knacken eines Zweiges schreckte Julian auf und er sah, dass Trina sich nicht in der Hütte befand. Julian sprang von seinem Hocker hoch griff nach seinem Bogen und trat aus der Hütte ins Freie. Gerade noch rechtzeitig um den Aufprall eines Körpers auf dem Boden und Trinas drohendes Knurren zu vernehmen.
Julian erreichte mit wenigen Schritten die Längsseite der Hütte, und als er um die Ecke bog, sah er Trina über einen bewegungslosen Körper stehen. Ihr geöffnetes Maul mit den scharfen Zähnen lag an der Kehle des Mannes, der es nicht wagte, sich zu bewegen. Er kannte sich anscheinend mit Hunden aus, denn jede noch so kleine Bewegung von ihm und Trinas Zähne würden seine Kehle aufreißen.
*Mit Sicherheit ein Viehdieb, der versucht hatte, im Schutz der Nacht einige Schafe zu stehlen,* dachte Julian und lobte Trina angesichts ihrer Aufmerksamkeit.
»Gut gemacht Trina, du hast deinen ersten Viehdieb gestellt,« lobte er die Hündin und senkte den angelegten Pfeil.
»Ich bin kein Viehdieb,« presste der Mann zwischen den Zähen hervor. Sag deinem Hund, er soll mich loslassen, dann beweise ich es dir.«
Julian zögerte den Mann aus dem Griff Trinas zu befreien, denn er konnte ihn anlügen. Wenn Trina ihren Griff löste, konnte er ohne Weiteres zum Angriff übergehen. »Wer bist du,« fragte Julian angespannt und jederzeit bereit den Bogen zu heben und sich zu verteidigen.
»Gandulf, ich bin Gandulf,« erwiderte der Mann, »ich besitze die kleine Pferdefarm vor den Hügeln,« kam es heiser zurück. Julian war verwundert. Er hatte Gandulf auf dem Markt gesehen und konnte sich gut an ihn erinnern. Aber was machte er zu dieser Zeit hier unter freiem Himmel? »Was hast du hier zu suchen, noch dazu mitten in der Nacht,« fragte er daher misstrauisch.
»Pfeif deinen Hund zurück und ich werde es dir erklären.«
Julian gab Trina das Kommando Gandulf loszulassen. »Aus Trina,« befahl er ihr, worauf Trina widerwillig ihre Kiefer öffnete, sich aber nicht von der Brust Gandulfs bewegte.
»Was suchst du hier draußen,« wiederholte Julian seine Frage. Gandulf, der sich nicht bewegen konnte, ohne dass sich die Kiefer Trinas wieder schlossen, stieß gereizt hervor. »Sieh zu, dass du deinen Hund von meiner Brust bringst, dann erzähl ich es dir, oder willst du mich die ganze Nacht so liegen lassen?« Julian musste grinsen bei dem Protest Gandulfs. *Was erwartete er denn, wenn er sich mitten in der Nacht anschlich und dabei erwischt wurde.*
Julian befahl Trina zu sich. Mit sichtlichem Widerwillen löste sie sich von Gandulf und setzte sich neben Julian, verfolgte dennoch wachsam jede Bewegung des Eindringlings. Gandulf erhob sich langsam und vorsichtig, um den Hund keinen Grund zu geben erneut anzugreifen. Er wusste um die Gefährlichkeit dieser Hunde, wenn es um ihre Herde ging, zu der ja auch Julian für sie zählte. Plötzlich drang ein markerschütternder Schrei aus dem Inneren der Hütte.
»Neeeiiin ….. Mutter. Was hast du getan.« Dem Schrei folgte herzzerreißendes Schluchzen, das abrupt abbrach. Julian sah bestürzt zu Gandulf, der seinen Blick zur Hütte richtete. Julian rannte zum Eingang der Hütte, wo er mit Gandulf zusammenstieß, der ihm gefolgt war.
»Wer war das,« wollte er von dem Jungen wissen. Julians Blick glitt in das schummrige von dem Talglicht beleuchtete Innere und er benötigte keine Sekunde, um zu sehen, was geschehen war. Das Mädchen schien kurz aus seiner Ohnmacht erwacht zu sein, aber warum es geschrien hatte, konnte er sich nicht erklären. Das Mädchen hing halb auf dem Bauch über die Kante des Bettes heraus, so als hätte es aufstehen wollen, aber nicht die Kraft besessen sich ganz aufzurichten.
»Wer ist das Mädchen,« fragte Gandulf, der über seine Schulter hinweg schaute. Julian schüttelte nur seinen Kopf. »Ich weiß es nicht,« gestand Julian. »Sie lag unmittelbar nach dem Verschwinden einer Lichterscheinung leblos auf der Wiese vor der Hütte, da hab ich sie hereingebracht.«
Gandulf schob Julian sachte zur Seite und betrat das Innere der Hütte. Je näher er dem Bett kam, um so deutlicher wurden die Schwingungen, die das Mädchen aussandte. Er hatte gefunden, wonach er suchte. Gandulf legte das Wesen aus einer anderen Welt wieder ins Bett zurück, ehe er Julian fragte. »Welche Erscheinung meinst du.«
»Ich wollte gerade mein Abendessen zubereiten, als wie aus dem Nichts ein gleißender Kreis, von wabernder Luft umgeben erschien. Zuerst dachte ich, es handle sich um einen Kugelblitz, aber das Luftgebilde löste sich mit einer Detonation wieder auf, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten. Als ich dann wieder etwas sehen konnte, lag das Mädchen auf dem Boden.
Gandulf legte den Kopf leicht schief. Eine Geste, die Julian falsch verstand und beteuerte, dass es genau so abgelaufen war, wie er es erzählte.
Der Wächter jedoch glaubte dem Jungen. Der Junge wollte eine Detonation gehört haben. Dieser Umstand machte ihn hellhörig. *War es möglich, dass der Junge wirklich den Knall, der bei einer solchen Gelegenheit entstand, vernehmen konnte?*
»Bist du sicher, dass es eine Detonation beim Verschwinden des Kreises gab,« forschte er nach. Julian nickte heftig, eher er bestätigte. »Laut und deutlich.«
Ein leises Stöhnen vom Bett her lenkte die Aufmerksamkeit auf das Mädchen zurück. Doch Gandulfs Gedanken kreisten um etwas, was so gut wie unmöglich erschien. Er nahm sich vor, später mit dem Jungen noch einmal darüber zu reden, aber zuerst hatte er eine Aufgabe zu erfüllen.
Das Mädchen schlug ihre Augen auf und sah sich verwirrt und ängstlich um.
»Wo bin ich,« fragte sie mit klangloser Stimme, wobei es versuchte sich ungelenk aufzusetzen. Mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck betrachtete sie ihre Gliedmaßen und betastete sich am ganzen Körper. Das Einzige was sie zu bewundern schien, waren ihre langen weißblonden Haare. Den Rest betrachtete sie mit unverhohlener Verachtung.
Auf keinen Fall aber war sie sich ihrer Nacktheit bewusst. Gandulf sah zu Julian. »Wie heißt du Junge?« Julian nannte seinen Namen. »Hast du Kleidung für das Mädchen. Es ist besser sie zieht sich etwas an, bevor sie sich erkältet.« Julian zeigte auf eine kleine Klappe, die sich neben dem Bett in der Wand angebracht befand. »Dahinter sind meine Ersatzsachen.«
Gandulf öffnete die Klappe und griff hinein. Er brachte seine Ersatzhose und ein Hemd zum Vorschein. »Das dürfte genügen,« sagte er befriedigt und ging vor dem Mädchen in die Knie.
»Zieh das an Mädchen, bevor du dir den Tod holst.« Gandulf sah ihr in die indigoblauen Augen. Erst jetzt bemerkte er die außergewöhnliche Schönheit des zarten Wesens, das bei seinem Blick leicht zurückwich. Auffallend waren ihre feinen, wie gemeißelten Gesichtszüge mit den mandelförmigen Augen, die schmale kleine Nase und die vollen blassroten Lippen. Sie standen im Kontrast zu der weißen bleichen Haut und dem rötlichen Mal auf ihrer Stirne. »Wie ist dein Name und woher kommst du Mädchen.« Gandulfs Frage klang fast wie eine Anklage, fand Julian.
»Riana,« kam es leise von dem Mädchen zurück. »Ich heiße Riana, wie ich hier herkomme, das kann ich nicht sagen. Ich sprach mit meiner Mutter, als mich ein Sog erfasste und mir schwarz vor den Augen wurde. An den Rest kann ich mich nicht erinnern.«
Die nächste Frage des Wächters ließ Riana erzittern. »Hatte deine Mutter etwas mit dem Sog zu tun?« Gandulf glaubte nicht daran, dass Riana aus Versehen einer Überlappung der Welten zu nahe gekommen war und so in diese Welt gelangte. »Ich weiß es nicht. Meine Mutter wollte mich vor den Jägern in Sicherheit bringen und dann das da.«
Verzweifelt tastete Riana ihren Körper und ihr Gesicht ab, so als suche sie etwas, das nicht vorhanden war. »Du hast keine Verletzungen. Bei deiner unfreiwilligen Reise ist dir nichts geschehen. Ich werde dich trotzdem wieder zurückschicken, denn du gehörst nicht in diese Welt.«
Julian fragte sich gerade, von was Gandulf da redete, als Riana zu weinen begann. »Ebenso gut kannst du mich hier gleich töten,« entgegnete Riana leise. »Vielleicht ist das auch besser so, denn ich bin in diesem Körper eingesperrt, wie eine Gefangene.«
Julian sah, wie der Wächter das Mädchen fassungslos anstarrte, so als sähe er einen Geist.
»Was willst du damit sagen Riana,« mischte sich nun Julian ein. Er hatte bis jetzt geschwiegen, weil er hoffte, Gandulf bringe Licht in das Dunkel, welches das Mädchen umgab. Zudem hatte er nicht das Geringste verstanden von dem, worüber sie sprachen. Von anderen Welten und so. Aber eines verstand er nur zu gut. Die Verzweiflung, die in Rianas Stimme lag.
»Ja was willst du damit sagen,« echote Gandulf, der nun seinerseits dem Mädchen nicht folgen konnte. Verzweifelt warf Riana ihren Kopf nach hinten und schrie den Wächter fast an. »Ich will damit sagen, dass das nicht meine wahre Gestalt ist.« Irritiert sahen sich Gandulf und Julian an. Nun kapierten beide überhaupt nichts mehr. Gandulf, der sich als Erster von seiner Überraschung erholte, ließ die letzten Worte Rianas auf sich einwirken. Ein aufkeimender Gedanke verdichtete sich zur Gewissheit und er fragte.
»Hat dir deine Mutter eine andere Gestalt gegeben?« Rianas Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt, als sie antwortete. »In meiner Welt bin ich ein Einhorn.«
Für einen kurzen Augenblick erfüllte beklemmende Stille die Hütte. Wie erstarrt blickten Julian und Gandulf auf das Mädchen. Der Wächter erschauerte bei der Vorstellung, welche magischen Kräfte nötig waren, um Riana in dieser Welt die Gestalt eines Mädchens zu verleihen. Gandulf schüttelte den Kopf, als wolle er seine Gedanken in die richtige Reihenfolge bringen, bevor er Riana fragte. »Du kannst dir also nicht deine wahre Gestalt zurückgeben?«
Riana verneinte schniefend und fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase. »Meine Fähigkeiten reichen dazu in dieser Welt nicht aus. Ich müsste das Horn meiner Mutter berühren, denn von ihr wurde ich verwandelt.«
»Wenn ich dich zurückschicke, wirst du dazu Gelegenheit haben.«
Riana sah Gandulf fassungslos an. *Wollte dieser Mensch nicht begreifen, dass ihr dort Gefahr drohte?* Trotzig sah Riana den Mann vor ihr an.
»Dann töte mich jetzt und hier. In meiner Welt werden die Jäger des Barons diese Arbeit erledigen, wenn du mich in meine Welt zurückschickst. Dort bleibe ich keinen Tag am Leben.«
Gandulf bekam mit einmal das Gefühl, die Wände der Hütte kämen auf ihn zu und nahmen ihm die Luft zum Atmen. Rianas Augen funkelten ihn an. Die Empfindungen, welche auf ihn einströmten, kamen nicht von Rianas tiefblauen Augen, sondern von ihrem Geist. Gandulf spürte tiefe Verzweiflung und Niedergeschlagenheit, aber auch Wut, die ihn wie ein wildes Tier ansprang.
Der Wächter erfasste, dass Rianas Worte keineswegs nur so dahin gesprochen waren, nein es war ihr voller Ernst. Lieber würde sie sterben, als wieder in ihre Welt zu gehen. Gandulf machte eine unwirsche Handbewegung, als wolle er seine Gedanken verscheuchen.
Er musste zuerst über seinen nächsten Schritt nachdenken. Gandulf wusste nicht, wenn er ehrlich zu sich war, wie er handeln sollte. Er ist ein Wächter, der die Aufgabe hatte, fremde Wesen in ihre Welt zurückzubringen, aber er war kein Mörder.
Sicherlich gab es Ausnahmen, wenn fremde Wesen zu einer Bedrohung für die Bewohner dieser Welt wurden, so wie die Blutsauger. Sie zu bekämpfen gehörte zu seinen Aufgaben, aber wissentlich ein Wesen in den sicheren Tod schicken, das konnte sich Gandulf beim besten Willen nicht vorstellen.
*Wie aber sollte er sich entscheiden?*
Zugegeben die Situation war verzwickt, aber er hatte nichtsdestoweniger eine Aufgabe zu erfüllen. Gandulf erhob sich. Er brauchte dringend frische Luft, um über dieses Problem nachzudenken. In einer solchen Situation hatte er sich noch nie befunden, in der es seinem Gewissen überlassen wurde, seine Aufgabe mit allen Konsequenzen zu erfüllen.
»Ich muss mal nach draußen,« sagte er zu Julian, der wie angenagelt neben dem Bett stand und auf Riana herab starrte. »Sieh zu, dass sie sich die Sachen anzieht und nicht davon läuft,« fügte er noch hinzu. Mit diesen Worten drückte er sich an Julian vorbei und verschwand im dunklen Rechteck des Eingangs. Draußen trat Gandulf zwischen die Bäume und atmete tief durch. Er glaubte Riana, die von Jägern und Suchern sprach und davon, dass diese sie töten wollten und ihre Mutter sie in Sicherheit vor ihnen brachte.
Was also sollte er tun? Seine Aufgabe verlangte es von ihm, jedes Wesen, das nicht in diese Welt gehörte wieder dahin zu bringen, wo es herkam. Oder es im schlimmsten Fall zu töten, damit es keinen Schaden anrichten konnte. Gandulf zog sich weiter in das kleine Gehölz zurück und lehnte sich ratlos an den Stamm eines Baums.
Julian erklärte inzwischen Riana geduldig, wie sein Hemd und die Hose anzuziehen waren. Für Riana, die Julian nur fassungslos ansah, kostete es einige Überwindung, das für sie fremde Gewand anzulegen. Julians Ersatzhose war Riana viel zu weit und rutschte bei jeder ihrer Bewegungen an ihr herab. Kurzer Hand nahm Julian ein Stück Strick und band es ihr um die Hüften und verknotete ihn. Jetzt hielt die Hose, ohne zu rutschen.
»Warst du in deiner Welt wirklich ein Einhorn?« Julian sah Riana schüchtern und verlegen an, als er ihr die Frage stellte.
In den Märchen seiner Mutter, die sie ihm und seinen Geschwistern erzählte, kamen alle möglichen Sagengestalten vor. Nur hatte sie seine Mutter anders beschrieben. Als Riana nicht antwortete, bemerkte er die Tränen, die über ihr Gesicht liefen.
»Entschuldige bitte, das war eine blöde Frage.« Julian kramte vor Verlegenheit in der Truhe, um Riana nicht ansehen zu müssen. Aus den Tiefen der Truhe brachte Julian ein Paar ziemlich abgetragene Sandalen hervor. Für den Moment hatte er nichts Besseres zu bieten.
Er half Riana, die nur schweigend auf der Bettkante saß in die Sandalen. Julian sehnte sich danach, das Gandulf wieder in die Hütte kam, denn das anhaltende Schweigen machte ihn nervös. Der plötzliche Knall, der die Stille wie ein Messer zerschnitt, ließ Julian und Riana erschrocken zusammenfahren. »Die Jäger, sie kommen mich zu holen,« flüsterte Riana voller Panik.
»Bleib hier, ich sehe nach,« flüsterte Julian und verschwand durch die Türe.