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Zweites Kapitel Unsterblichkeit und Transzendenz

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In Ergänzung des eben beendeten Aphorismen-Kapitels wäre noch das Verhältnis von »Unsterblichkeit« und »Transzendenz« zu klären. Denn bei der Lektüre des vorigen Kapitels wird einigen Lesern schon aufgefallen sein, dass ich diese beiden Begriffe oft eng nebeneinander auftreten lasse. Das hat seinen Sachgrund darin, dass Unsterblichkeit ja Transzendenz ist, eine spezifische Variante von Transzendenz, nämlich ein transcendere, eine Grenzüberschreitung über das Grab, den Tod, das irdische Leben hinaus. Klar wird damit auch, dass ich Transzendenz keineswegs mit der engen Transzendenz der meisten Theologen identifiziere, die Transzendenz sagen, aber damit in den meisten Fällen nur Gott (den personalen Gott des Christentums) meinen. Gott als der Über- und Außerweltliche, also über die Welt Hinausgehende ist zwar eine mögliche Variante der Transzendenz, aber eben bei weitem nicht die einzige, schon gar nicht einzig legitime, und auch nicht die grundlegende. Die grundlegende, für das Menschsein wichtigste Transzendenz besteht darin, dass man den »Durchbruch durch die Fassade« geschafft, d.h. die Transzendierung der Grenzen des Vordergründigen, Vorläufigen, Profan-Alltäglichen, des Scheins, der Rollen und Masken, die wir uns im gesellschaftlichen Leben zu- oder anlegen, des ››Man« (man denkt, handelt, verhält sich so, wie die Masse denkt, handelt, sich verhält) vollzogen hat. Nur der in diesem Sinn Transzendierende darf nach dem Tode hoffen, in eine höhere Schicht oder Dimension der Wirklichkeit einzutreten.

Daraus ergeben sich interessante und wichtige Konsequenzen. Denn nun ist der (religiöse) Glaube keineswegs mehr eine notwendige Vorbedingung für den Eintritt in eine höhere nachtodliche Dimension, sondern eben nur dieser »Durchbruch durch die Fassade«, hinter der sich die meisten Menschen verkriechen, verstecken, verschleiern, sich auch dumpf-stickig geborgen fühlen. Diese »transzendenzlosen Nomaden«, die so an der Oberfläche der Dinge haften, derart in die simple, profane Allerweltsrealität eingebunden bleiben, dass die zum Menschsein gehörende Selbstüberschreitungs- oder Transzendierungsfunktion verkümmelt oder bis zur Unkenntlichkeit verschwunden ist, können noch so viel glauben (im Sinne des konventionellen Kirchen-, Dogmen- oder auch Koranglaubens), sie werden in den untersten, düstersten, dunkelsten, trostlosesten Schichten der jenseitigen Wirklichkeit stecken und kleben bleiben. Denn ihr Glaube an etwas Transzendentes (an Gott, die Engel, die Heiligen, die Verstorbenen) war ja kein eigener, selbsttätiger, eigenständiger, aus ihrer Selbstbestimmung kommender engagierter Akt, sondern die mehr oder weniger konventionelle gedankenlose Nachäffung der Glaubensrituale der Priester, Imame und Mullahs, sozusagen »geborgte Transzendenz«, die nichts wert ist.

Andererseits kann ein nicht-konventioneller Atheist (es gibt ja nicht bloß die gedankenlos-konventionellen Kirchenchristen, sondern ganz analog-parallel dazu die konventionellen Atheisten), eben weil er den »Durchbruch durch die Fassade« geschafft hat, nach dem Tod in eine höhere Dimension der anderen Welt aufgenommen werden, obwohl er doch an keinen Gott, keine Engel etc. glaubte. Aber da ihm das »Problem des Seins« aufgegangen ist, da er sich mit der Frage nach einem Grund allen Seins ehrlich existentiell hemmgeschlagen hat, auch wenn er diesen Grund nach Abwägung alles Für und Wider abgelehnt hat, ist er offen, befähigt und verständnisbereit für die Reise in höhere Dimensionen, zu der der konventionelle Religiöse oder der konventionelle Atheist nicht fähig ist, weil er sich ja hinter seiner Fassade so verschlossen hat, dass er taub gegen höhere Einflüsse ist. Es ist wie mit einem seit Geburt Tauben, dem man die Schönheit einer Beethoven-Sinfonie klarmachen wollte. Der konventionelle Christ oder Atheist könnte sich also in einer höheren Schicht des Jenseits überhaupt nicht zurechtfinden. Er haftet auch nach dem Tod an dem, was er auf Erden gekannt und gemocht hat.

Der konventionell Religiöse kann also in der anderen Welt durchaus schlechter als der unkonventionelle Atheist dastehen oder auch als ein Agnostiker, der ernsthaft um die Lösung der Welträtsel bemüht war, letztendlich aber zu dem Ergebnis »ignoramus, ignorabimus« (= wir wissen nicht, wir werden es nicht wissen) gelangt ist. Denn auch er hat das metaphysische Geheimnis des Seins zumindest berührt.

Die Sache lässt sich auch historisch und philosophisch belegen. Denn nur für den konventionellen, traditionalistischen Atheisten und seinen Gesinnungsbruder, den konventionellen und traditionalistischen Christen, sind Atheismus und Unsterblichkeit ein sich ausschließender, unüberbrückbarer Gegensatz, ein unauflösbarer Widerspruch. Wer Atheist ist, so die gängige, eben konventionelle Meinung, der kann ja an keine Unsterblichkeit der Seele, an kein Fortleben nach dem Tod glauben. Für den ist mit dem Tod alles aus. Und der konventionelle Christ ist überzeugt, dass es ohne Gott keine Unsterblichkeit geben kann, weil nur er ewiges Leben zu schenken vermag.

Die Religions- und Philosophiegeschichte allerdings belehrt uns eines Besseren und Richtigeren. Allerdings wissen nur wenige, dass der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele gar keine christliche Errungenschaft ist, sondern aus der antiken „heidnischen“ Religiosität und Philosophie stammt. Und für die war der Monotheismus, der Glaube an einen einzigen, alles beherrschenden und bewirkenden Gott keineswegs selbstverständlich. Einige Strömungen z. B. der antiken griechischen Philosophie hielten von der Größe des Menschen so viel, dass sie ihm, seiner Vernunftseele, sogar Unsterblichkeit zutrauten, ohne dass ihm diese ein Gott schenken musste.

Die antike hebräische Religion – und aus der kam das Christentum, das ja zunächst eine jüdische Sekte war – kannte ursprünglich gar keine Unsterblichkeit der Seele. Zur Zeit Jesu glaubte ein Teil der Juden, auch Jesus selbst, an die Auferstehung der Leiber. Der Mensch, so dieser Glaube, stirbt ganz und gar und wird am Jüngsten Tag, am Tag des Weltgerichts, wieder auferweckt, sozusagen zu neuem Leben von Gott erschaffen. Eine Unsterblichkeit der Seele, die der Auferweckung durch Gott nicht bedürfe, lag diesem Glauben völlig fern.

Erst Humanismus und Renaissance und dann die aus ihnen erwachsende philosophische Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts knüpften wieder an die „heidnisch“-antiken Überlegungen zur Unsterblichkeit der Seele an. Zwar hatten christliche Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin, Bonaventura und viele andere ebenfalls die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen versucht, aber auch sie standen dabei übermächtig unter dem Einfluss der antiken griechischen Philosophie, unterschieden sich jedoch von dieser dadurch, dass sie die Garantie für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele durchweg von der Existenz Gottes abhängig machten.

Halten wir also fest: Die Unsterblichkeit der Seele ist eine Idee, die nicht aus dem Christentum oder anderen monotheistischen Religionen stammt. Sie ist wegen ihrer Attraktivität von diesen Religionen übernommen worden. Ursprünglich, da antikem, „heidnischem“ Geist entstammend, ist diese Idee nicht notwendig an die Existenz eines personalen Gottes gekoppelt gewesen. Somit kann einer Atheist sein und trotzdem die Idee der Unsterblichkeit der Seele vertreten, ohne dass man ihm deshalb den kleinsten Widerspruch in seinem Denken nachweisen könnte.

So stellt sich die Sache historisch und logisch dar. Faktisch aber ist es heute doch wohl so, dass die große Mehrheit der Atheisten an keine Unsterblichkeit der Seele, kein persönliches Fortleben nach dem Tode glaubt. Die herrschenden Großkirchen haben die dem Christentum zunächst fremde Idee der Unsterblichkeit der Seele so massiv usurpiert und in Beschlag genommen, dass viele Atheisten schon aus diesem Grunde mit dieser Idee nichts am Hut haben wollen. Sie fürchten, dass die Akzeptanz dieser Idee sie schon wieder zu halben Christen machen würde. Logisch notwendig aber ist diese Befürchtung nicht. Wer vielmehr sehr groß und sehr hoch von den Möglichkeiten des menschlichen Geistes denkt, der darf auch irgendeine Art des persönlichen Fortlebens über den Tod hinaus als möglich annehmen, ohne deshalb mit Gott und Christentum in Verbindung gebracht werden zu müssen.

Es gab ja auch prominente Atheisten, große Aufklärer innerhalb des sogenannten christlichen Abendlandes, die sehr entschieden, sehr logisch-rational das Dasein eines Gottes widerlegten, aber an eine Fortsetzung ihrer eigenen Existenz nach ihrem leiblichen Tod glaubten bzw. eine solche Existenz für möglich hielten. Meist gingen sie von dem Grundgedanken aus, dass all unsere Begabungen, Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, unsere schöpferischen Potenzen im Laufe eines menschlichen Einzellebens unmöglich verwirklicht oder gar voll ausgeschöpft werden können. Aus derartigen Erwägungen heraus haben so unterschiedliche Denker und Charaktere wie die großen Aufklärer Voltaire, Lessing und David Hume, aber auch Goethe, Kant und Schopenhauer ein Fortleben des menschlichen Geistes nach dem Tod als sinnvoll bezeichnet und gefordert (postuliert). Viele Denker, die an keinen persönlichen Gott glaubten, verknüpften ihre Überzeugung von einem Weiterleben mit dem Reinkarnationsgedanken, also der Lehre von der Wiederverkörperung bzw. Seelenwanderung, unter anderem Plato, Pythagoras, Seneca, Paracelsus, Giordano Bruno, Jakob Böhme, Lessing, Voltaire, Herder, Schelling, Hegel, Novalis, Schlegel, Jean Paul, Carus, Brentano, Gustav Theodor Fechner, Leibniz, Goethe, Schiller, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Rudolf Steiner, C. G. Jung. Auch große Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts wie Tolstoi, Victor Hugo, Ibsen, Strindberg, Balzac, Flaubert, Rabin Dranat Tagore, Peter Rosegger, Gottfried Keller, Rilke und viele andere bekannten sich zur Idee der Reinkarnation. Der entschiedene Anhänger der reinen Vernunft, der radikale Kritiker kirchlichen Dogmenglaubens, der Aufklärer Voltaire sieht in der Reinkarnation nichts Unvernünftiges, Widersinniges, Widersprüchliches: „Die Lehre von der Wiederverkörperung ist weder widersinnig noch nichtssagend … Zweimal geboren zu werden ist nicht wunderbarer als einmal.“1 Nach Schopenhauer ist die Idee der Wiederverkörperung, „der Mythos von der Seelenwanderung so sehr der gehaltreichste, bedeutendste, der philosophischen Wahrheit am nächsten stehende, dass ich ihn für das Non plus Ultra der mythischen Darstellung halte“2 (also für das, was in dieser Hinsicht nicht mehr überboten werden kann).

Jenseits der Todesschwelle

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